Kopftuchverbot und Religionsfreiheit

01.02.2004

Nicht nur die Mehrheit der Deutschen, sondern auch Menschen, die sich für Christen halten, sprechen sich für ein Kopftuchverbot aus. Sie sehen im Kopftuch ein Symbol für die Unterdrückung der Frau. Sie übersehen aber, dass sie mit ihrer Unterdrückung des Kopftuchs gerade dabei sind, aus ihm ein Symbol der Freiheit zu machen.

Kopftuch - Islam der Freiheit

Im Sozialen gibt es keine Möglichkeit nur Beobachter zu sein, weil jeder – ob er es will oder nicht – auch selber von den anderen beobachtet wird. Es gibt keinen objektiven Blick in dem Sinne, dass dasjenige, was man sieht, nicht auch von einem selbst beeinflusst wäre. Um durchzublicken, braucht man daher zwei Augen, eins nach Innen – die Selbstbeobachtung – und eins nach außen – das Interesse für seine Mitmenschen. Um für ein Kopftuchverbot zu sein, muss man wenigstens auf einem Auge blind sein.

In Frankreich wird bald – wie schon lange in der Türkei – auch Schülerinnen verboten werden, ein Kopftuch in der Schule zu tragen. Nur wenige geben sich die Mühe, die betroffenen Schülerinnen nach ihrer eigentlichen Motivation zu fragen. Die Lehrer, die es geschafft haben, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen zu bekommen, haben aber wichtige Elemente ans Licht gebracht. Unter den Mädchen gibt es nicht wenige, die mit ihrem Kopftuch dem Staat einfach trotzen wollen.

traditionelles kopftuchDie Freiheit hat ihre Gesetze, die das Gesetz nicht kennt. In einer islamfeindlichen Umgebung kann auch der konservativste Islam freiheitliche Züge bekommen. Wer er sich nicht vorstellen kann, braucht sich nur den Katholizismus in China anzuschauen – kaum wieder erkennbar. Sogar vom Vatikan sind recht ungewohnte Töne zu hören. Anders als in Europa geht es ihm in China nicht mehr darum, das Christentum in die Verfassung zu verankern, sondern nur noch um Religionsfreiheit.

So ist es kein Wunder, daß Fereshda Ludin, die sich in Deutschland gegen ein Kopftuchverbot eingesetzt hat, einer islamischen Gemeinschaft angehört, die den Kopftuchzwang befürwortet. Der Mangel an politischer Macht tut den Religionen gut. Wo sie in der Minderheit stehen, setzen sie sich für die individuelle Freiheit. In Europa kann man daher von einem Islam der Freiheit sprechen.

Kopftuch - Philosophie der Freiheit

Eine Religion, die sich auch dort für die individuelle Freiheit einsetzt, wo sie über die Politik entscheiden kann, wird man aber vergeblich suchen. Dies gilt auch und gerade für das Christentum, das sich dadurch seinem Gründer unwürdig zeigt. Fundig wird man stattdessen bei moderneren Weltanschauungen, wie der Anarchismus und die Anthroposophie.

Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.

Dieser Spruch von Rudolf Steiner aus seiner Philosophie der Freiheit datiert von 1895, also aus einer Zeit, wo er noch dem individuellen Anarchismus zugerechnet wird. Von den Anarchisten wird Rudolf Steiner aber später ausgestossen, weil er die individuelle Freiheit für vereinbar mit der Esoterik hält, woraus seine Anthroposophie hervorgegangen ist. Die meisten Anarchisten sind dagegen überzeugt, daß man zur Freiheit den Materialismus braucht - was angesichts der vorhandenen Religionen auch verständlich ist.

Diese Grundmaxime des freien Menschen ist der sicherste Weg zur Anthroposophie – viel sicherer als etwa der Weg über seine Theosophie oder gar über seine Christologie. Rudolf Steiner mag sich die größte Mühe gegeben haben, auch dort bis zum freien Menschen vorzudringen. Wer sich aber für Karma und Gott interessiert, tut sich oft schwer mit der menschlichen Freiheit.

Wer von der Philosophie der Freiheit herkommt, hat es also leichter, von Steiners Anthroposophie aus den weiteren Weg zur seiner sozialen Dreigliederung zu finden. Ein der drei zentralen Prinzipien der sozialen Dreigliederung ist nämlich die absolute Freiheit des Geisteslebens.

Dabei geht es nicht nur - wie in unserem Fall - um die Religionsfreiheit. Rudolf Steiner nimmt diese gern als Beispiel für die Freiheit überhaupt, weil die Deutschen zu seiner Zeit eigentlich nur die Religionsfreiheit erfahren hatten. Wer nicht denken kann, braucht Beispiele aus dem eigenen Leben. Rudolf Steiner konnte sich aber auch die Freiheit denken, die es damals noch nicht gab – und zum Teil heute immer noch nicht gibt – wie die pädagogische Freiheit, die Freiheit der Richterwahl oder die Sprachfreiheit.

Die soziale Dreigliederung erhebt jeden Menschen zu einer religiösen Minderheit. Er braucht sich nicht zu einer bestimmten Religion zu bekennen, um sich religiös ausleben zu können, was ihn strukturell gegen den Gruppenzwang schützt. Wenn er sich freiwillig unterordnet, ist es allein seine persönliche Entscheidung. Davor kann ihn eine soziale Dreigliederung nicht schützen, ohne sich selber aufzuheben. Der Einzelne muß auch die Freiheit haben, sich für unfrei zu halten, weil die Freiheit nicht etwas Gegebenes ist, sondern etwas ist, was jeder sich nur selber erringen kann. Von einer echten sozialen Dreigliederung kann man aber nur dann sprechen, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, auf Gesetze zu verzichten, die eine bestimmte Religion, Weltanschauung oder Sprache für alle Einwohner verbindlich machen.

Ein solcher Verzicht verlangt ein gewisses Maß an Selbstbewußtsein. Dies scheint vielen deutschen Christen, Sozialisten und Feministen bitter zu fehlen. So zeigt dieses unselige Bündnis für ein Kopftuchverbot, daß die meisten Deutschen, wie schon in der Weimarer Republik, weniger taugen als ihre Verfassung. Und doch ist gerade in diesem Land einiges an Potential zur Freiheit vorhanden. Deutschland ist nicht nur das Land von Kant, diesem Pflichtanbeter, sondern auch von Schiller, der mit seinen Ästhetischen Briefen der Philosophie den Weg zur Liebe zum Handeln und damit zur Freiheit geöffnet hat. Wählt euch die besseren Propheten!

Trennung von Staat und Schule

Wer sich mit Rudolf Steiners Ansatz der sozialen Dreigliederung näher beschäftigt, kann bei der derzeitigen deutschen Kopftuchdebatte nur den Kopf schütteln.

Die meisten Christen wollen - auch wenn sie inzwischen vorgeben Laizisten oder gar Feministen zu sein - eigentlich deswegen ein Koptuchverbot für Lehrerinnen, weil sie um die Hegemonie des Christentums in Deutschland fürchten. Am liebsten hätten sie es wie in Bayern, wo der Staat Kruzifixe in den Klassenzimmern hängen lässt. Religionsfreiheit ist doch nur etwas für Christen. Die meisten Sozialdemokraten wollen auch ein Kopftuchverbot, argumentieren aber meist mit der Trennung von Staat und Kirche. Sie wollen überhaupt keine religiösen – auch keine christlichen – Symbole in den Schulen, weil sie unter staatlicher Hoheit stehen. Und weil es noch das Bundesverfassungsgericht gibt, das im Fall eines Kopftuchverbots eine Gleichbehandlung der Religionen verlangt, gibt es wiederum Christen wie Johannes Rau, die nur deswegen gegen ein Kopftuchverbot sind, damit nicht auch christliche Symbole in den Schulen verboten werden.

Auf die für den Ansatz der sozialen Dreigliederung zentrale Idee, dass Schulen – ähnlich wie früher internationale Gewässer – eigentlich keinem Staat gehören sollten, kommen nur die wenigsten. Und von diesen wenigen muss man noch die Liberalen abziehen, die mit ihren Wahlslogan Mehr Megahertz für unsere Kinder gezeigt haben, dass sie die staatliche Hoheit am liebsten durch eine Hoheit der Wirtschaft ersetzen würden. Dagegen wirkt die Kopftuchdebatte recht altmodisch – fast wie eine Ablenkung von der eigentlichen Gefahr der nächsten Jahre.

Fruchtbar wäre die Kopftuchdebatte erst, wenn sie eine breite Öffentlichkeit für den inneren Widerspruch jeder Staatsschule sensibilisieren würde. Eine Trennung von Staat und Kirche macht schon Sinn. Sie hat Europa der Freiheit einen Schritt näher gebracht. Dies reicht aber heute allein nicht mehr. Durch die Emanzipation von der Kirche ist mit der Zeit für die Erziehung das Bedürfnis entstanden, sich auch vom Staat zu emanzipieren. Es ist Zeit für eine Trennung von Schule und Staat. Sonst wird die Freiheit bald zwei Schritte zurück machen.

Hier müssen die zarten Ansätze des deutschen Grundgesetzes weiter entwickelt werden. Nicht die Schulen in freier Trägerschaft, sondern die Staatsschulen sollen zur Ausnahme werden, nämlich dort, wo die Menschen es nicht geschafft haben, in eigener Regie zu handeln.

Kinder brauchen keine neutralisierten Lehrer, sondern Lehrer, die nach ihrer Überzeugung unterrichten können, weil sich genug Eltern gefunden haben, um eine Schule zu gründen. Ob die Schule christlich, moslemisch, christlich-moslemisch oder keins von beiden ist, geht die anderen nicht weiter an. Sie müssten selber sehen, wie sie eine eigene Schule gründen – oder, wenn es dafür zu wenige Interessenten gibt, kleinere Brötchen backen, zum Beispiel durch Homeschooling. Entscheidend ist, dass sich kulturelle Strömungen ungestört entfalten können.

Eine Neutralitätspflicht macht nur innerhalb des demokratischen Staatswesens selber Sinn. Auf das Erziehungswesen übertragen führt sie nur dazu, dass nicht nur die Religion, sondern ganz allgemein die Kultur Jahr für Jahr an Kraft verliert. Wer die Kultur retten will, muß den Mut haben, sie zu entstaatlichen.

Der Platz der Kultur wird sonst durch die Werbung eingenommen, die dafür sorgt, dass deutsche Kinder sich kaum noch ohne Markenkleidung in die Schule wagen. Mit ihrem halbstarken europäischen Individualismus sind sie eine leichte Beute. Wenn Du etwas auf Dich selber gibst, musst Du Kleider von dieser Marke tragen! Auch wenn es davon 10.000 Stück gibt ... erweiterter beuys-haseAber auch vor dem Kopftuch macht diese Entwicklung nicht halt. Gerade dort lässt sich eine Kommerzialisierung beobachten, so dass das Kopftuch seine religiöse Bedeutung zunehmend verliert. Es wäre schade, wenn es nur deswegen nicht verboten wird.


Quelle: Trigolog Berlin 2/2004, vom Autor genehmigten und überarbeiteten Nachdruck.


Weiterführender Links:

Mein Kopf gehört mir!
religion.orf.at/tv/kreuz/kr10123.htm