Direkte Demokratie
Einseitigkeit einer politischen Bewegung

01.01.2003

erweiterter beuys-haseDie Direkte Demokratie wird von vielen für einen Kernpunkt der sozialen Dreigliederung gehalten. Wenigstens unter denjenigen, die sich nicht nur für die direkte Demokratie, sondern auch für die soziale Dreigliederung interessieren. Aber die meisten von ihnen versäumen es, die soziale Dreigliederung zu einem Kernpunkt der Direkten Demokratie zu machen.

Der einzig ernstzunehmende Einwand gegen die direkte Demokratie ist, daß die Aufgaben des Staates heute so kompliziert seien, daß man dafür Spezialisten brauche. Wer ehrlich mit sich selber ist, muß zugestehen, daß es beim heutigen Staat auch stimmt. Zu den Zielen der sozialen Dreigliederung gehört aber gerade, daß der Staat sich nicht mehr in wirtschaftliche und kulturell-geistige Fragen einmischt und sich auf die Fragen beschränkt, worüber jeder Bürger mitentscheiden kann. Durch eine solche Rückbesinnung auf seine eigentlichen Aufgaben kann sich der Staat wieder mehr Demokratie zutrauen. Jeder Schritt in Richtung einer sozialen Dreigliederung trägt also dazu bei, daß die Demokratie direkter werden kann.

Dieser Zusammenhang zwischen sozialer Dreigliederung und direkter Demokratie wird von fast allen Vertretern einer direkten Demokratie übersehen. Von den Vertretern der direkten Demokratie, die sich mit der sozialen Dreigliederung auseinandergesetzt haben, wird dieser Zusammenhang auch nicht gerne angesprochen. Sie schmeicheln lieber den Menschen mit dem Gedanken, daß sie es durch Volksentscheide so gut machen können wie die Politiker. Direkte Demokratie wird da leicht zum Selbstzweck. Als Mehrheit sind aber die Menschen genauso überfordert wie die Politiker, wenn es darum geht, über Pädagogik oder Währungsfragen zu entscheiden. Über Art und Ausrichtung der Pädagogik sollen Lehrer, Eltern und Kinder für sich entscheiden können, ohne auf irgendwelche Parteimehrheit oder Volksentscheidsmehrheit warten zu müssen. Die Geldschöpfung gehört nicht in eine staatliche oder zwischenstaatliche Zentralbank, sondern in die Wirtschaft selbst. Dort gehört die Geldschöpfung auch nicht - wie es schon heute zum Teil der Fall ist - in Geschäftsbanken, die nur mit Geld zu tun haben, sondern in assoziative Betriebe, die sich durch befristete Anleihen ihr Geld selber schaffen. Nur dadurch läßt sich das Geld wirksam an der Realwirtschaft koppeln.

Der Staat hat Grenzen, die er nicht übertreten kann, ohne seinen demokratischen Charakter aufzugeben. Und da diese Grenzen bis heute nicht richtig erkannt werden, wird die Demokratie immer indirekter, bis sie irgendwann durch die vielen Winkeln verloren geht.

Dies zeigt sich in Deutschland zum Beispiel daran, daß das Parlament meistens nur noch dasjenige absegnet, was in den sogenannten Ausschüssen vorher entschieden worden ist. In diesen Ausschüssen sitzen nur diejenigen Parlamentarier, die sich auf das jeweilige Thema spezialisiert haben. Die angeblichen Volksvertreter entscheiden also längst nicht mehr selber, sondern überlassen es wiederum ihren Vertretern, bzw. einer Zentralbank. Die Demokratie ist krank und läßt sich vertreten.

Wer sich für eine soziale Dreigliederung einsetzt, trägt also zur Gesundung der Demokratie bei. Er sorgt dafür, daß eine direkte Demokratie wieder möglich wird. Wer sich für eine direkte Demokratie stark macht, hat aber allein dadurch noch nichts für die soziale Dreigliederung getan. Er kann noch so viel Tausende von Menschen überzeugen, seine Unterschriftenlisten zu unterzeichnen. Greift er dabei auf die gängigen Argumente zurück, so bleibt alles beim alten eindimensionalen Denken.

Es gibt natürlich anthroposophische Versuche, der direkten Demokratie eine tiefere Dimension zu geben. Die dreistufige Volksgesetzgebung etwa wird zum dreiteiligen Schritt zur sozialen Dreigliederung hochstilisiert: Denken, Fühlen, Wollen. Oder die öffentliche Diskussion um das Ja oder Nein beim jeweiligen Volksentscheid wird im Sinne des Goetheschen Märchen interpretiert: "Was ist erquicklicher als Licht? Das Gespräch." Kann man es den Nicht-Anthroposophen verdenken, wenn sie diese esoterischen Billigangebote nicht ganz ernst nehmen? Die Anthroposophie hat wirklich Besseres zu bieten.

Wenn wir schon bei Goethes Märchen sind: Die Bewegung für direkte Demokratie ist dort am stärksten, wo sie sich mit dem gemischten König arrangiert hat. Im Klartext und ohne Märchengewand: Für mehr Demokratie läßt sich am besten plädieren, wenn man darauf verzichtet, die Grenzen der Demokratie zu problematisieren.

Es wird gerne eingewendet, daß es doch dasselbe sei, wenn das Volk über etwas entscheidet, oder wenn es entscheidet, nicht mehr darüber zu entscheiden, sondern es der individuellen Freiheit oder wirtschaftlichen Assoziationen zu überlassen. In beiden Fällen würde doch das Volk, der Souverän entscheiden. Damit können vielleicht deutsche Juristen etwas anfangen. Man braucht sich aber nur das pubertäre Mädchen vorzustellen, das so etwas von seinen Eltern serviert bekommt: "Es sei doch dasselbe, wenn sie darüber entscheiden oder wenn sie es selber darüber entscheiden lassen, wie lange es abends wegbleiben darf. In beiden Fällen würden sie doch die Entscheidung treffen."

Natürlich braucht man eine demokratische Mehrheit, wenn irgendwelches Gesetz der Umsetzung der sozialen Dreigliederung im Wege steht. Das deutsche Kartellrecht – aber auch bestimmte Regeln der Welthandelsorganisation – laufen zum Beispiel auf ein Verbot jeder Form von assoziativer Wirtschaft hinaus. Das Quasi-Monopol der deutschen Länder auf die Lehrerbildung hat manche Waldorfschulen – insbesondere deren Oberstufen – zum kostenpflichtigen Abklatsch der Staatsschulen gemacht. Hier darf man sich keiner Illusion hingeben.

Ist es aber nicht auch eine Illusion zu glauben, daß man allein durch das Eintreten für eine direkte Demokratie zur Lösung dieses Problems beiträgt? Weiter kommt man hier nur, wenn man die direkte Demokratie mit der sozialen Dreigliederung in Verbindung bringt, nicht nur für sich im stillen Kämmerlein, sondern auch in der Öffentlichkeit.

Dazu gibt es wenigstens zwei Wege. Der erste Weg wurde schon beschrieben, und besteht darin, die direkte Demokratie in den Kontext der sozialen Dreigliederung zu stellen, um damit den Vorwurf zu entkräften, der Staat würde keine Bürger, sondern Spezialisten brauchen. Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, daß die direkte Demokratie hier ein sehr guter Einstiegspunkt ist, um Leute, die davon bisher nichts gehört haben, von der Notwendigkeit einer sozialen Dreigliederung zu überzeugen. Hier macht sich die Einseitigkeit der Forderung nach einer direkten Demokratie sozusagen bezahlt, weil man dann auf die Einwände konstruktiv eingehen und zum differenzierteren Ansatz der sozialen Dreigliederung übergehen kann. Der zweite Weg wird von Initiativen wie zum Beispiel die Aktion mündige Schule beschritten, die Kernanliegen der sozialen Dreigliederung wie die pädagogische Freiheit zum Inhalt eines Volksentscheids machen.

Von der sozialen Dreigliederung aus braucht man – anders als die christlichen Parteien – keine Berührungsängste mit der direkten Demokratie zu haben. Die Besten innerhalb dieser Parteien haben nur Angst vor der Versuchung, Volksentscheide als Mittel für ihre ausländerfeindliche Progaganda zu benutzen. Das könnte nicht nur für die Ausländer, sondern auch für sie selber schief laufen. Soziale Dreigliederung ist aber das genaue Gegenteil von Nationalismus. Alles was man über Gesetze, bzw. die Abschaffung von Gesetzen, für die soziale Dreigliederung machen kann, läßt sich sehr gut über Volksentscheide erreichen.

Wichtig ist aber, daß die direkte Demokratie nicht als Vorbedingung für die soziale Dreigliederung angesehen wird. Sonst gibt es kaum noch Unterschiede zwischen den Direktdemokraten und diesen Anthroposophen, die zwar großes Interesse für die soziale Frage zeigen, aber bitte erst für ihre nächste Inkarnation. Wollen wir nicht so lange auf eine Zusammenarbeit warten, so tun wir gut, hier und jetzt eine Bewegung für direkte Dreigliederung auf die Beine zu kriegen.

Sylvain Coiplet


Letzte Überarbeitung: 07.10.2015
Ursprünglicher Text: Gleichnamiger Aufsatz im Trigolog Berlin 01/2003


Weiterführende Links

  1. Text von Sylvain Coiplet: www.dreigliederung.de/essays/2003-01-001.html
  2. Replik von Rainer Rappmann auf Sylvain Coiplet: www.dreigliederung.de/essays/2003-04-002.html
  3. Replik von Wilfried Heidt auf Rainer Rappmann: www.dreigliederung.de/essays/2003-08-001.html
  4. Klarstellung von Sylvain Coiplet zur Diskussion: www.dreigliederung.de/essays/2003-09-001.html