Ursachen und Wege aus einer zunehmend paralysierten Gesellschaft

Oder warum Forderungen an die Politik das Wesentliche nicht leisten können

01.01.2014

Erschienen in Sozialimpulse, Ausgabe März 2014.

Wer die Entwicklung des politischen Klimas der letzten Jahre in Deutschland beobachtet hat, der kann eine tiefgreifende Veränderung wahrnehmen, die immer weitere gesellschaftliche Kreise erfasst: mit einer seltsamen Anpassungswilligkeit an die politisch diktierten Maßnahmen scheint ein zunehmend unverbindlicher Individualismus einherzugehen, wodurch sich die Gesellschaft paradoxer Weise (trotz aller Verstaatlichungs- und Bevormundungstendenzen, wie etwa der zwangsweisen Rundfunkgebühr) mit den Nischen der ihr gewährten privaten Bürgerlichkeit begnügt. Diese Veränderung muss in gewisser Weise als eine schleichende charakterisiert werden, denn obwohl die Probleme in vielen gesellschaftlichen Feldern bei Weitem nicht gelöst sind, sondern sich alarmierend zuspitzen, scheinen sich immer mehr Menschen geradezu perspektivlos in die vorgebahnten Strukturen zu fügen und sich mit vielerlei höchst fragwürdigen Weichenstellungen und Zentralisierungsbestrebungen abzufinden.

2010 wurde «alternativlos» zum «Unwort des Jahres» gekürt, ein Wort, das insbesondere von Angela Merkel im Kontext der finanziellen Hilfe für Griechenland verwendet wurde. In seiner Begründung sagte der Sprecher der «Unwort-Jury» Horst-Dieter Schlosser: «Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe.» [1]

Bei näherer Betrachtung kennzeichnet sich der Merkelsche Politstil allerdings durchaus nicht als autokratisch-doktrinär, sondern gerade durch ein erstaunliches Auslavieren des jeweils pragmatisch Möglichen. So versteht es Angela Merkel immer wieder ihre Entscheidungen den gesellschaftlichen Stimmungsschwankungen anzupassen (z.B. ihre Kehrtwende in der Energiepolitik nach dem Atom-Unfall in Fukushima). Dieses Auslavieren unterscheidet sie von der «eisernen Lady» Margret Thatcher und bringt sie eher in die Nähe der realpolitischen Linie Bismarcks.

Im Kern geht es bei dieser Art von Politik um ein Stabilisieren der Verhältnisse durch die einseitige Berücksichtigung mehrheitsfähiger Entscheidungen. Das hat in vielen Feldern zu einer Form der Konsolidierung der politischen Klasse und letztendlich der gesamten Nationalwirtschaft geführt, die nicht auf einer wirklich produktiven gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern im Bedienen einer «Mainstream-Kultur» beruht, die zunehmend Minderheitenpositionen unterdrückt. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die z.B. ihre «Erfolge» in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit feiert und zugleich einen wachsenden Armutssektor (mit mittlerweile bundesweit über 1500 Essenausgaben, sog. «Tafeln») stillschweigend duldet, und – was vielleicht noch schwerer wiegt – zunehmend wirtschaftlich wieder national-egoistisch zu denken beginnt, während dem sozialen Leben weiterhin durch Aktiengesellschaften, Finanzspekulationen und Bonizahlungen ungeheure Summen entzogen werden. Die Art, wie die Bürger sich diesen Entwicklungen fügen, gemahnt an die Verhältnisse des späten 19. Jahrhunderts. Dabei kann als besonders dramatisch angesehen werden, dass auch immer mehr ursprünglich positives bürgerschaftliches Engagement durch diese «Mainstream-Politik» eingesogen, vereinnahmt und letztendlich seiner eigentlichen Intention entfremdet wird. Und an der neu entstehenden Feudalgesellschaft kann erlebt werden «dass die Hierarchie ein Ordnungsprinzip ist, das sich selbst als die Lösung des eigenen Widerspruchs in Szene setzt.» [2]

Nun wäre es aber zu einfach, wollte man diese Entwicklung ausschließlich den politischen Mandatsträgern zuschreiben, ist doch diese Entwicklung zugleich der Ausdruck einer Politik, die weitgehend auf die Lobby-Arbeit vielfältigster Interessenverbände reagiert und sich in ihren Entscheidungen durch diese Partial-Interessen bestimmen lässt. Als beispielsweise 2004, also noch unter der Regierung des Kanzlers Schröder, eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht werden sollte, die die Hürden zur Ausübung der staatlich regulierten Handwerksberufe senken sollte, war es der Druck der Handwerksverbände, der die Gesetzesnovelle verhinderte indem insbesondere auf dem staatlich verordneten «Meisterzwang» beharrt wurde. Nichts anderes passiert seit Jahren im gesamten Bildungssektor, in dem viele Bildungseinrichtungen in geradezu vorauseilendem Gehorsam sich der staatlichen Normierung beugen. Nüchtern betrachtet geht es allerdings nicht um eine Qualitätssicherung- oder gar Steigerung, sondern um die Wahrung und Schaffung von Vorrechten und vor allem um Geld – als wäre der demokratische Staat ein biederer Dorfverein, bei dem es durch «demokratische» Wahlen darum ginge, sein eigenes Pöstchen zu sichern. Diese Vereinsmeierei hat zumindest nichts mit mehr Selbstverwaltung und mehr bürgerlicher Selbstbestimmung zu tun, und auch die Einrichtungen, die sich aus bloßer Naivität der normierenden Gleichschaltung fügen, realisieren zumeist zu spät, welche Bevormundung sie sich damit einhandeln (die anmaßenden Konzeptionen der frühkindlichen Erziehung ist eines der drastischen Beispiele, bei der es im Kern auch nicht um die kindliche Entwicklung, sondern um die weitere Einbindung der Bevölkerung ins System geht). So werden immer weitere Lebenskreise «stillgelegt» und ihrer eigenen Entwicklungsbedingungen entfremdet. Doch wie sagte bereits Wilhelm von Humboldt:

«Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. Auch ist dies gerade die Absicht der Staaten. Sie wollen Wohlstand und Ruhe. Beide aber erhält man immer in eben dem Grade leicht, in welchem das einzelne weniger miteinander streitet. Allein was der Mensch beabsichtet und beabsichten muss, ist ganz etwas andres, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit. Nur dies gibt vielseitige und kraftvolle Charaktere, und gewiss ist noch kein Mensch tief genug gesunken, um für sich selbst Wohlstand und Glück der Größe vorzuziehen. Wer aber für andre so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit misskennt und aus Menschen Maschinen machen will.» [3] Die «Größe» von der Humboldt spricht liegt heute wohl vor allem darin, nicht nach partikularen Interessen, sondern aus Erkenntnis der Zusammenhänge zu handeln.

Es kann deshalb als erfreuliches Signal gewertet werden, dass Henning Kullak-Ublick in der letzten Ausgabe der «Sozialimpulse» die Befreiung des Bildungswesens als Aufgabe der – Zivilgesellschaft – thematisiert: «Freiheit und Verantwortung sind zwei Grundpfeiler der Zivilgesellschaft: aus bürgerschaftlichem Engagement entstehen neue, am Gemeinwohl orientierte Unternehmensformen als dritter Weg zwischen staatlichem Zentralismus und kommerziellen Interessen.» [4] Wer nun allerdings erwartet, dass mit dieser Würdigung der Zivilgesellschaft eine offene Einladung zum freien Dialog über Wege aus der gegenwärtigen Bildungsmisere ausgesprochen sei, ein Dialog, der sich auf Augenhöhe für die freie Initiativkraft individueller Menschen interessiert und Möglichkeiten pädagogischer und wirtschaftlicher Kooperation erkundet, der wird enttäuscht. Denn um diesen Dialog geht es Henning Kullak-Ublick offensichtlich gar nicht, er spricht vielmehr als Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen, dessen Vorstand bereits «7 Kernforderungen an die Bildungspolitik» ausformuliert vorgelegt hat. Wird wirklich gemeint, diese «7 Kernforderungen» an den Staat seien «alternativlos» zu akzeptieren und «abzunicken»? Was unterschiedet solches Vorgehen – zuerst einmal ganz abgesehen vom Inhalt der «Forderungen» – vom Interesse-geleiteten Lobbyismus sonstiger Verbände?

Gewiss, viele Waldorfschul-Lehrer/innen und Eltern werden erst einmal dankbar sein, dass ihr Bundvorstand sich für die Stärkung ihrer Rechte und um die auch bessere staatliche «Subventionierung» (das wird als «Gleichstellung» bezeichnet) einsetzt. Was aber hat das mit einer wirklichen Befreiung des Bildungswesens zu tun? In vielerlei Aufsätzen [5] habe ich bereits deutlich zu machen versucht, dass die generelle Forderung nach staatlicher Vollfinanzierung gerade keine Freiheit im Bildungswesen garantiert, da selbstverständlich der Staat als Verwalter der Steuermittel definieren muss, welche Einrichtungen überhaupt berechtigt sind, Subventionen zu erhalten. Durch dieses notwendige Definieren aber ist eine wirkliche Bildungsfreiheit ausgeschlossen – da mit den vom Staat formulierten Berechtigungen zugleich festgeschrieben wird, was als subventions-würdige Schule zu gelten hat. Die Entwicklung der Waldorfschulen in Holland zeigt, wohin das führt: dort sind die sogenannten «freien Schulen» schon lange «gleichberechtigt» finanziert, zunehmend zieht nun aber auch der Staat evaluierend in diese Schulen ein.

Deshalb ist es notwendig die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge erkennend zu durchdringen und nicht nur betriebs-bedarf-gesteuerte Forderungen zu stellen, denn, wie es Johannes W. Rohen in’s Bild bringt: «Wenn man an den Staat Forderungen richtet, bedenkt man meistens nicht, dass der Staat kein ‚Vater‘ ist, der Geld verdient und es an seine ‚Kinder‘ verteilen kann, sondern dass wir bei jeder Forderung primär selbst betroffen sind, d.h. dem Staat dasjenige Geld, (z.B. durch Steuern) selbst erst geben müssen, das dieser dann verteilt – oder anders ausgedrückt: Jede an den Staat gerichtete Forderung ist im Grunde an uns selbst bzw. unsere Mitmenschen gerichtet, die letztlich die erhobenen Forderungen begleichen müssen. Das Überborden der staatlichen Machtansprüche ist somit im Grunde nichts anderes als das Resultat falscher Begriffe.» [6] Noch tiefergehend hat diesen Zusammenhang Rudolf Steiner ausgesprochen: «Es geht ja heute durch die Lande der Ruf: Unentgeltlichkeit des Schulwesens. Ja, was soll denn das überhaupt heißen? Es könnte doch nur der Ruf durch die Lande gehen: Wie sozialisiert man, damit ein jeder die Möglichkeit hat, seinen gerechten Beitrag zum Schulwesen zu schaffen? Unentgeltlichkeit des Schulwesens ist ja nichts weiter als eine soziale Lüge, denn entweder verbirgt man dahinter auf der einen Seite, dass man erst einer kleinen Clique den Mehrwert in die Tasche liefern muss, damit die ihr Schulwesen gründet, durch das sie die Menschen beherrscht, oder man streut allen Sand in die Augen, damit sie nur ja nicht wissen, dass unter den Pfennigen, die sie aus dem Portemonnaie nehmen, auch diejenigen sein müssen, von denen die Schulen unterhalten werden. In der Formulierung unserer Sätze müssen wir schon so gewissenhaft sein, dass wir nach Wahrheit streben.» [7]

Es ist eben eine zu kurzschlüssige Argumentation, staatliche Subvention zu fordern, damit die Wahl der Schulen «unabhängig von der Finanzkraft der Eltern getroffen werden» [8] kann, denn gerade eine solche Argumentation impliziert (unbewusst?), dass es «gerecht finanzierte» Schulen in einer ansonsten hochgradig unsozialen Gesellschaft geben könne. Rudolf Steiner ging deshalb davon aus, dass die Lehrer der Waldorfschule nicht nur betriebswirtschaftlich denken, sondern selbst aktiv in der grundlegenden sozialen Bewegung mitarbeiten. [9] Auch wenn es realistischer Weise gegenwärtig kaum möglich ist, als Schulgemeinschaft auf staatliche Subventionen zu verzichten, geht es vor allem darum, die Denkgewohnheiten, die zu den heutigen Abhängigkeiten von den staatlichen Organen geführt haben, zu überwinden – wenn diese Abhängigkeiten nicht noch gesteigert werden sollen. Die gegenwärtige Politik mit ihrer «Logik der Alternativlosigkeit» ist im Kern nur der Ausdruck dafür, dass wir sie mit den Entscheidungen über die wesentlichen kulturellen Fragen überfordern, denn im Kulturleben ist jeder individuelle Mensch die Alternative, auf die es ankommt. So geht es immer mehr darum, dass wir einerseits eine freie zivilgesellschaftliche Bewegung aufbauen, in deren Kern der individuelle Mensch jenseits aller Staatsgrenzen und Institutionen durch freie Anerkennungsverhältnisse und unmittelbare Solidarität zur Wirksamkeit kommen kann, und dass wir andererseits an Zusammenhängen im Wirtschaftsleben arbeiten, die das soziale Leben nicht ausbeuten, sondern fördern. Dann wird auch der Staat immer mehr aus ihm wesensfremden Bereichen zurückgedrängt werden und seine eigentliche Aufgabe durch ein lebendiges Rechtsleben entfalten können.

Thomas Brunner, Cottbus im Januar 2014, Freie Bildungsstiftung

Anmerkungen

  •  [1] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sprachkritik-alternativlos-ist-das-unwort-des-jahres-a-740096.html
  •  [2] Dirk Baecker, Postheroisches Management. Ein Vademecum, 1994, S.34.
  •  [3] Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stgt. 2002, S. 31
  •  [4] Sozialimpulse, 24. Jahrgang, Nr. 4, Dezember 2013, Seite 37
  •  [5] Siehe z.B. Sozialimpulse, 22. Jahrgang, Nr. 4, Dezember 2011
  •  [6] Johannes W. Rohen, Die funktionale Struktur von Mensch und Gesellschaft. Elementare Funktionsprinzipien im menschlichen und sozialen Organismus, Stgt. 2006, S. 16f
  •  [7] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, Vortrag vom 1. Juni 1919 in Stuttgart, GA 192, S. 144
  •  [8] Zitiert aus den «Sieben Kernforderungen an die Bildungspolitik», Sozialimpulse, 24. Jahrgang, Nr. 4, Dezember 2013, S. 38
  •  [9] Z.B. in folgender Äußerung in einer Konferenz der ersten Waldorfschule: «Die Anthroposophische Gesellschaft mit der Waldorfschule zusammen ist der geistige Teil des dreigliedrigen sozialen Organismus. Der Bund für Dreigliederung muss ein politischer Teil sein; dazu müssen die Waldorflehrer durch ihren Rat beitragen. Der ‘Kommende Tag’ wäre der wirtschaftliche Teil im Ganzen.» Aus: Rudolf Steiner, Konferenzen mit den Lehrern, GA 300a, 22. November 1920 (Konferenz 16 - 18.30 Uhr)

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