Revolutionieren wir die Welt so, dass alles beim Alten bleibt?

01.12.2011

Gedanken zum Verhältnis von Finanzkrise und Bildungswesen

„Das befreite Geistesleben wird soziales Verständnis ganz notwendig aus sich selbst entwickeln; und aus diesem Verständnis werden Anreize ganz anderer Art sich ergeben als der ist, der in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Vorteil liegt.“ [1]
Rudolf Steiner

Wie können die Fehlentwicklungen, die durch die internationale Finanzkrise erschreckend zu Tage getreten sind, wieder ausgeglichen und zukünftig verhindert werden? Enormen Vermögensbündelungen stehen immense Staatsverschuldungen gegenüber. Da scheint es naheliegend, die Schieflage durch eine verstärkte staatliche Regulierung der Wirtschaft eindämmen zu wollen. Dass sich in den zu Tage getretenen Problemen im Kern aber vor allem die Verfasstheit des gegenwärtigen Geisteslebens ausspricht, und dass gerade eine Befreiung des Geisteslebens aus staatlicher Vormundschaft die wesentlichen Impulse frei setzen würde, das wird selten erwogen.

Bereits in den späten 1990er Jahren stellte ich in einigen Aufsätzen [2] einen Zusammenhang dar, der m.E. nun im Jahr 2011 vollends an die Oberfläche zu treten beginnt: die Staatsverschuldung ist nur die andere Seite der immer drastischeren Vermögensbündelungen [3] durch die transnationalen Konzerne. Es waren Aufsätze, in denen ich versuchte sichtbar zu machen, dass die heillosen Wirtschaftsentwicklungen der vergangenen Jahre nicht Ausdruck einer zu geringen staatlichen Besteuerung waren, sondern vielmehr darin ihre Ursache hatten, dass die Politik mit den Entwicklungen der globalen Wirtschaft nicht Schritt hielt, stattdessen immer noch in anachronistisch national-wirtschaftlicher Art bestrebt war, das sich loslösende Wirtschaftsleben einerseits, sowie das zur Freiheit drängende Geistesleben andererseits, beherrschen zu wollen. Damals gab es nur wenig Aufmerksame, die meine Analyse für beachtenswert hielten, denn insbesondere von der Staatsverschuldung war noch kaum die Rede. Die meisten wollten „große Lösungen“, aber keine umfassenden Erkenntnisse der Zusammenhänge, um dann in kleinen Schritten das Mögliche auf den Weg zu bringen. Es könnte auch gesagt werden: der sich immer offensichtlicher entwickelnde Wahnsinn auf den Finanzmärkten war nur die andere Seite einer sich immer weiter ausbreitenden bodenlosen Freizeitkultur, weil die eigentlich notwendige Selbstverwaltung im Bildungsbereich den Bürgern auf Grund der technokratischen Sozialvorstellungen nicht zugestanden wurde.

Als Hans Eichel 1999 Nachfolger des dramatisch zurückgetretenen Finanzministers Oskar Lafontaine wurde, schien sich etwas auf der politischen Bühne zu bewegen. Kurz nach Amtsantritt thematisierte Hans Eichel als erster der führenden Politiker die immer problematischer werdende Staatsverschuldung und forderte Wege eines schrittweisen Schuldenabbaus. Zwar sprach man nun von der notwendigen „Selbstverantwortung“ der Bürger, doch wurde mit der Agenda 2010 bald deutlich, dass die Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder diese „Selbstverantwortung“ nur im altgewohnt wirtschaftlichen Sinne verstand. Der Umbau der Sozialsysteme schien durch die immer bedrängteren Staatshaushalte unabdingbar, doch anstatt Möglichkeiten einer zivilgesellschaftlich organisierten, solidarischen Sozialgestaltung zu eröffnen, wurde mit der „Riester-Rente“ eine bloß die egoistische Selbstversorgung fördernde Vorsorge etabliert. Zudem wurde durch die Hartz IV Gesetzgebung der Druck auf dem Arbeitsmarkt erhöht, was zu einer schrittweisen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führte und die massenweise Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten beschleunigte.

Das Bildungsleben hingegen wurde zunehmend wieder stärker in die staats-wirtschaftlichen Interessen eingebunden. Diese „Bildungsreform“ wurde insbesondere durch die Bildungsministerin Edelgard Bulmahn vorangetrieben, die den „Laptop für jeden Schüler“ und „Eliteuniversitäten“ propagierte und die Nanotechnologie zum wichtigsten Bildungsziel des „Standorts Deutschland“ erklärte, obwohl sie andererseits durchaus erkannt hatte: „Wir müssen den Schulen Freiheit und mehr Verantwortung übertragen. Die Schulen selbst wissen zumeist am besten, was für ihre Kinder und Jugendlichen gut ist – und sie müssen auch danach handeln können.“ Trotzdem plädierte sie für „Bildungsstandards, die kurz knapp und präzise beschreiben, welche Kompetenzen Kinder erwerben sollen“ und für ein „System der Bewertung und Evaluierung der Leistung unseres Schulsystems.[4] Wesentlich zu dieser aufgefrischten staatlichen „Bildungs-Verantwortlichkeit“ trug natürlich die PISA-Studie bei, durch die die „Schulfrage“ eben nicht primär als pädagogische Frage, sondern als nationale Systemfrage in Erscheinung trat. [5]

In seinen „Kernpunkten der sozialen Frage“ hatte Rudolf Steiner bereits 1919 die Kurzschlüssigkeit einer solchen staats-wirtschaftlichen Offensive mit deutlichen Worten gekennzeichnet: „Nicht die freie Entfaltung der auf Grundlage des Kapitals wirkenden individuellen Fähigkeiten hat Zustände hervorgerufen, innerhalb welcher die menschliche Arbeitskraft Ware sein muss, sondern die Fesselung dieser Kräfte durch das politische Staatsleben oder durch den Kreislauf des Wirtschaftslebens. Dies unbefangen zu durchschauen, ist in der Gegenwart eine Voraussetzung für alles, was auf dem Gebiete der sozialen Organisation geschehen soll. Denn die neuere Zeit hat den Aberglauben hervorgebracht, dass aus dem politischen Staate oder dem Wirtschaftsleben die Maßnahmen hervorgehen sollen, welche den sozialen Organismus gesund machen. Beschreitet man den Weg weiter, der aus diesem Aberglauben seine Richtung empfangen hat, dann wird man Einrichtungen schaffen, welche die Menschheit nicht zu dem führen, was sie erstrebt, sondern zu einer unbegrenzten Vergrößerung des Bedrückenden, das sie abgewendet sehen möchte. [...] Derjenige nur kann in der Richtung dessen wirken, was die Entwickelungskräfte der Menschheit in der Gegenwart energisch zu fordern beginnen, der sich nicht in Illusionen treiben lässt durch die Vorstellungsart, welche in der Verwaltung der Kapitalbetätigung durch das befreite Geistesleben das Ergebnis eines «unpraktischen Idealismus» sieht. In der Gegenwart ist man allerdings wenig darauf vorbereitet, die soziale Idee, die den Kapitalismus in gesunde Bahnen lenken soll, in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Geistesleben zu bringen.“ [6]

Warum waren diese deutlichen Worte nicht zumindest in Dreigliederungs-Kreisen Gegenstand tiefergehender Fragestellungen? Gewiss, die Zeit kurz nach dem ersten Weltkrieg ist kaum zu vergleichen mit dem Ende des 20. Jahrhunderts und hatte nicht auch Rudolf Steiner selbst stets die Zeitbedingtheit seiner sozialen Anregungen betont? Dass Steiner mit dieser Einschränkung immer nur die konkreten Schritte meinte, wurde allerdings oft verkannt, denn die Grundlagen („Urgedanken“, wie er sie in den „Kernpunkten“ nennt) hat er nie relativiert. Rudolf Steiner scheute sich nicht, deutlich auszusprechen, worin er die Ursache der Verhaltenheit gegenüber einer wirklichen Neugestaltung des sozialen Lebens begründet sah: „Die Menschen sehen nicht das gegenwärtige Leben an, sie haben heute noch Illusionen über die Haltbarkeit der jetzigen Verhältnisse, sie wollen sich nicht aufschwingen zu Vorstellungen von einer wirklichen Neugestaltung; und dann fragen sie einen: Ja, sage mir einmal, wie wird sich das, was ich als das Alte gewohnt bin, in der Neuordnung ausnehmen? – In einer solchen Frage liegt eigentlich nichts Geringeres, als die Forderung: Wie revolutionieren wir die Welt so, dass alles beim Alten bleibt? Und wenn man keine Antwort gibt auf die Frage: Wie wird sich das Alte in der Neuordnung ausnehmen?, dann sagen die Leute: Was du da sagst, das ist mir ganz unverständlich! So auch ungefähr ist es, wenn nun diejenigen, die im Erziehungs- und Unterrichtswesen beschäftigt sind, ihre große Sorge darin haben, wie sich ihre wirtschaftliche Position gestalten soll.“ [7]

Bei näherer Betrachtung erweisen sich viele der gegenwärtigen Probleme als Probleme, wie sie bereits im 19. Jh. veranlagt wurden und wie sie Rudolf Steiner bereits deutlich vor Augen hatte. Denn was wäre z.B. aus dem 20. Jh. geworden, wenn statt Bismarcks staatlicher Sozialfürsorge Wilhelm von Humboldts zivilgesellschaftliche Sozial- und Bildungsideen im 19. Jh. das Tragende geworden wären? Bismarck war sich bewusst, dass er für sein nationales Projekt die aufstrebenden Sozialimpulse der Arbeiterschaft einbinden musste: „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ [8] Weniger bewusst war ihm, dass er durch diese Bindung eine zeitgemäße Sozialentwicklung der Zivilgesellschaft geradezu verhinderte. Und gerade weil er alle freiheitlichen Sozialbestrebungen (Genossenschaftsgründungen etc.) unterband und durch Einschränkung der Versammlungsfreiheit zunehmend restlos verunmöglichte, führte seine Verstaatlichung des sozialen Lebens letztendlich zur politischen Radikalisierung der sozialistischen Bewegung.

Im Aufbrechen dieser radikalisierten Bewegung nach dem ersten Weltkrieg bemühte sich dann Rudolf Steiner, wieder Perspektiven einer rein menschlichen Sozialentwicklung anzuregen. „In Bewegung ist gekommen der ganze Mensch auf dem Umweg über den proletarischen Menschen. Da wirken tiefere Motive mit.“ [9] Doch bereits 1922 fasste er in einem Vortrag auf dem „Ost-West-Kongress“ zusammen, dass das, was er in seinen „Kernpunkten“ zu geben versucht hatte „im Grunde missverstanden worden ist auf allen Seiten, und zwar gerade aus dem Grunde, weil man sie zunächst einreihte in diejenigen Schriften, welche in einer mehr oder weniger utopistischen Weise in äußerlichen Einrichtungen versuchten, darzustellen, was ihre Verfasser als eine Art Heilmittel gegen die auftretenden sozialen chaotischen Zustände empfanden, die sich im Verlauf der neueren Menschheitsentwicklung ergeben haben. Meine Schrift war gewissermaßen als ein Appell nicht an das Denken über allerlei Einrichtungen, sondern als ein Appell an die unmittelbare Menschennatur gemeint.“ [10] Steiners ganzes Wirken für eine anthroposophische Geisteswissenschaft erhält in diesem Kontext erst ihre volle Bedeutung. Es war eben keine neue „Spezialisten-Wissenschaft“ die er veranlagen wollte, sondern eine Sphäre der rein-menschlichen Besinnung, jenseits national-staatlicher oder betriebswirtschaftlicher Interessen. Wenn die gegenwärtige „Occupy-Bewegung“ bekundet: „Für eine Welt in den Händen der Menschen, nicht in den Händen der Banken und Politiker!“ [11] einzutreten, dann kann davon gesprochen werden, dass sich hier die Ahnung und Notwendigkeit einer solchen Sphäre ausspricht. Leider werden solche Ahnungen zumeist aber sehr schnell wieder durch allzu bekannte Forderungen und „praktische“ Vorschläge verdunkelt…

Wilhelm von Humboldt schrieb einmal den bedeutenden Satz: „Der Verstand sucht seine Totalität in der Welt und kennt keine anderen Grenzen, als die auch die ihrigen sind; der Wille findet seine in dem Individuum, und geht nie über dasselbe hinaus.“ [12] Diese Unterscheidung der ideellen von der individuellen Sphäre scheint mir wesentlich für den Weg einer wirklichen Neugestaltung des sozialen Lebens, denn gedacht werden kann sehr viel – bis in die letzten Verzweigungen eines logischen Systems –, gestaltet werden kann aber immer nur im Rahmen des individuell Real-Möglichen. Diese Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit führt im sozialen Leben dann entweder dazu, dass abstrakte Ideen gebildet werden, die zur Ideologie erstarren, weil sie letztendlich nicht als „umsetzbar“ erscheinen und immer aufs Neue ein Scheitern verursachen, oder dass ein wirklich produktives Wissenschaftsleben einfach aufgegeben wird, weil die eigentliche Aufgabe des Erkennens verkannt wird. Das führt dann dazu, dass nur noch Halbheiten im Ideellen entstehen und andererseits ein Pragmatismus im Konkreten, der sich mit dem Einnisten in die „faktischen Gegebenheiten“ begnügt. Für eine wirkliche Sozialentwicklung kommt es eben nicht auf die Angleichung des Notwendigen an das Mögliche an, sondern vielmehr auf die bewusst aufgebaute Spannung. Denn nur durch diese „Spannung“ kann dem (sozialen) Leben eine wirklich entwicklungsfähige Richtung gegeben werden. Es sind eben durchaus zwei ganz konkret zu unterscheidende Ebenen: das Erkenntnisleben und das individuelle Handeln. Rudolf Steiners Wirken zeigt überall die methodische Berücksichtigung dieser Unterscheidung: „Daher ist die soziale Frage in ihrem tiefsten Sinne zuallererst eine geistige Frage: Wie breiten wir eine einheitlich wirkende Geistigkeit unter den Menschen aus? Dann werden wir auf wirtschaftlichem Gebiete uns in Assoziationen zusammenfinden können, aus denen heraus sich erst die soziale Frage in einer konkreten Weise wird gestalten und partiell – muss ich immer sagen – lösen lassen.“ [13] Die Entwicklung eines freien Geisteslebens hängt primär eben gar nicht von der – immer nur partiell möglichen – Umgestaltung der bestehenden Institutionen und Strukturen ab, sondern von der Frage, ob rein menschliche Zusammenhänge entstehen, in denen sich freie geistige Erkenntnisprozesse ereignen und Resonanz finden können. [14] Dass solche Zusammenhänge entstehen können, hängt wiederum von der Fähigkeit jedes einzelnen Menschen ab, ob er es nämlich vermag, ein Interesse für ein Erkenntnisleben um der Erkenntnis willen – neben den Bedingtheiten seines persönlichen Schicksals, seines Berufs und seiner wirtschaftlichen Situation – auszubilden. Denn nicht die Erkenntnis soll von den jeweilig subjektiven Bedingtheiten bestimmt werden, sondern umgekehrt: die sich befreiende Erkenntnis soll die konkreten Lebenssituationen beleuchten. Wo dieses Interesse an wirklichen Erkenntnisprozessen zu leben beginnt, wird andererseits zunehmend eine Bescheidung auf das konkret Gestaltbare die Folge sein, denn in ganz neuer Weise tritt der andere Mensch als Mensch (und nicht nur als Kunde, Geschäftspartner oder Kollege etc.) in den unmittelbaren Wahrnehmungskreis. Doch diese „Bescheidung“ eröffnet zugleich ein wirklich menschheitliches Handlungsfeld, denn dort, wo wirklich die unmittelbare Menschlichkeit zur Erfahrung wird, treten betriebsgebundene oder nationale Interessen zurück. Und so ging Steiner in seinem „Nationalökonomischen Kurs“ davon aus, dass durch die Assoziationen letztendlich wiederum die Einrichtungen des Geisteslebens getragen werden können. Eine Perspektive, die angesichts der zerstörerisch um den Erdball kreisenden Kapitalmassen an erstaunlicher Aktualität gewinnt: „Lassen Sie die Assoziationen dafür sorgen, dass das Geld, dass die Tendenz hat, in die Hypotheken hineinzugehen, den Weg in freie geistige Institutionen findet!“ [15]

Dort, wo die Befreiung des Geisteslebens nicht mehr nur als kompromissbeladene Phrase gedacht, sondern zum wirklichen Erlebnis wird, kann sich auch die konkrete Phantasie entwickeln, dass ein befreites Geistesleben tatsächlich bis in rechtliche und wirtschaftliche Gestaltungen seine Auswirkungen haben wird. Denn dort, wo das Geistesleben aus sich selbst heraus Initiative entfaltet und sich nicht mehr fremdversorgt durch Subventionen und Privilegien binden und letztendlich lähmen lässt, beginnt es, ein neues Verhältnis zu Staat und Wirtschaft auszubilden. [16] Denn: „In dem einen der drei Glieder des sozialen Organismus strebt diese Idee ein Zusammenwirken von Menschen an, das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität begründet ist. In keine vorbestimmte Einrichtung werden da die Individualitäten hineingezwängt. Wie sie einander stützen und fördern, das soll lediglich daraus sich ergeben, was der eine dem andern durch seine Fähigkeiten und Leistungen sein kann. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich viele Menschen gegenwärtig noch gar nichts anderes vorstellen können, als dass bei solch freier Gestaltung der menschlichen Verhältnisse im geistigen Gliede des sozialen Organismus nur anarchische Zustände innerhalb desselben sich ergeben müssten. Wer so denkt, der weiß eben nicht, welche Kräfte der innersten Menschennatur dadurch an ihrer Entfaltung verhindert werden, dass der Mensch in die Schablonen hinein entwickelt wird, die ihn vom Staats- oder Wirtschaftsleben aus formen.“ [17]

Ich bin davon überzeugt, dass diese Gedanken auch gegenwärtig noch wegweisend sind, wenn sie in ihrer menschlichen Unmittelbarkeit verstanden werden. Nicht „Modelle“ führen in die Zukunft, sondern die konkreten Schritte im Rahmen des Möglichen, die aus einer umfassenden Erkenntnis heraus getan werden. Ein solcher möglicher Schritt ist der Aufbau einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die für eine wirkliche Befreiung des Bildungswesens aus staatlicher Bevormundung eintritt, denn: "Wer diese Dinge überschaut, für den wird die Begründung einer Menschengemeinschaft, welche die Freiheit und Selbstverwaltung des Erziehungs- und Schulwesens energisch erstrebt, zu einer der wichtigsten Zeitforderungen. Alle anderen notwendigen Zeitbedürfnisse werden ihre Befriedigung nicht finden können, wenn auf diesem Gebiete das Rechte nicht eingesehen wird. Und es bedarf eigentlich nur des unbefangenen Blickes auf die Gestalt unseres gegenwärtigen Geisteslebens mit seiner Zerrissenheit, mit seiner geringen Tragkraft für die menschlichen Seelen, um dieses Rechte einzusehen." [18]

Um diese Gedanken zu konkretisieren, möchte ich beispielhaft zwei Initiativen skizzieren, die aus ihnen hervorgegangen sind. Das eine ist die vor mittlerweile drei Jahren begründete Freie Bildungsstiftung, deren Kernanliegen die Bildung einer Stiftungsgesellschaft ist (gegenwärtig 70 Mitglieder), die einem freien Erkenntnisleben einen kontinuierlichen Raum bieten und außerdem ein Wahrnehmungsorgan für die Vielfalt individueller Initiative sein möchte. Auch verschiedene überregionale öffentliche Tagungen konnten bereits durchgeführt werden. Die andere Initiative ist das Sozialwissenschaftliche Forum, das vor etwas mehr als einem Jahr in Berlin begründet wurde. Das „Sozialwissenschaftliche Forum“ ist ein freier Zusammenschluss von Einzelmenschen und Initiativen, die durch Veranstaltungen an wechselnden Orten der sozialen Frage als allgemein menschlicher Frage Raum bieten möchten. Den ersten Teil jedes „Sozialwissenschaftlichen Forums“ bildet ein „wissenschaftlicher“ Vortrag wechselnder Referenten zu Themen einer kulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Fragestellung; nach Gespräch und Pause gibt es dann jedesmal einen „Runden Tisch der Initiativen“, an dem jeder Beteiligte die Möglichkeit hat, eine eigene oder eine ihm wesentliche Initiative zur Wahrnehmung zu bringen und um Unterstützung oder Mitarbeit anzufragen etc. Zu beiden Initiativen sind Interessierte jederzeit eingeladen und auch sonstige Formen der Kooperation sind erwünscht, denn selbstverständlich sind auch diese beiden Initiativen nicht die Lösung der in diesem Artikel behandelten Problemstellung – ein ernstzunehmender Beitrag dazu wollen sie aber durchaus sein.

Es sind bald vierzig Jahre vergangen, seit Denis L. Meadows im Auftrag des Club of Rome die bahnbrechende Studie „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte. Kürzlich nun hat sich Meadows in einem Interview [19] auch zur aktuellen Finanzkrise geäußert: „Es ist ein Teufelskreis. Je höher die Schulden, desto höher die Zinsen, desto höher die Risiken eines Bankrotts, desto höher wieder die Zinsen. Das geht vielleicht noch einige Wochen oder Monate gut, bestimmt keine Jahre mehr.“ Selbst wenn sich Meadows Zeitplan strecken sollte, die Gesellschafts-Perspektive, die er – auch im Zusammenhang mit der in Zukunft drohenden Energiekrise – zeichnet, sollte nachdenklich stimmen: „Wenn du auf die Krisen nicht vorbereitet bist, folgt Chaos. Da Menschen die Ordnung der Freiheit vorziehen, führt das zu mehr Autoritarismus.“ Anzeichen dieser „neuen Ordnung“ kündigen sich längst auf vielen Feldern – nicht zuletzt in der Umgestaltung des Bildungslebens – an. Auch deshalb macht gerade die gegenwärtige Krise deutlich: es ist höchste Zeit, die Freiheit der Bildung als eine entscheidende Forderung der Gegenwart in den Blick zu nehmen.

Thomas Brunner
Cottbus, November 2011


Erstveröffentlicht in: Sozialimpulse, 22. Jahrgang, Nr. 4, Dezember 2011


Anmerkungen

[1] Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, Dornach 1976, S. 109

[2] U.a. in einer Artikelserie über „Einige grundsätzliche Überlegungen zur Finanzsituation des Bildungswesens“ in der Schulzeitung der Kieler Waldorfschule

[3] Mit der Finanzkrise tritt die Schieflage immer deutlicher zu Tage: im Jahre 2011 verfügen 0,1 % der Weltbevölkerung über 22 % des Gesamtvermögens, 0,9 % über 39 % und 10 % über etwa 70 %! Vgl. The Boston Consulting Group (BCP), Shaping a New Tomorrow, How to Capitalize on the Momentan Change, Global Wealth, May 2011, S. 7

[4] Aus einer Rede der damaligen Bundesministerin für Bildung und Forschung Edelgard Bulmahn zum Thema „Bildungspolitik in der Wissenschaftsgesellschaft“, anlässlich der ver.di-Fachtagung „Wissensmanagement: Wissen ist was wert“, am 11. Februar 2003 in Bremen

[5] Was wäre gewesen, wenn die PISA-Studie nicht die nationalen Bildungssysteme, sondern wirklich nach rein pädagogischen Gesichtspunkten verschiedene Bildungsformen ausgeleuchtet hätte? Wäre dann nicht viel konkreter deutlich geworden, dass Freiheit tatsächlich eine unbedingte Voraussetzung jeder fruchtbaren Bildungsentwicklung ist?

[6] Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, Dornach 1976, S. 101ff

[7] Rudolf Steiner, Neugestaltung des sozialen Organismus, Vortrag vom 18. Juni 1919 in Stuttgart, GA 330, Dornach 1963, S. 287f

[8] Otto von Bismarck, Gesammelte Werke (Friedrichsruher Ausgabe) 1924/1935, Band 9, S. 195f

[9] Rudolf Steiner, Notizbucheintragung 1919, in: Nachrichten aus der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Dornach 1969, Nr. 24 / 25, S. 36

[10] Rudolf Steiner, Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit, Vortrag vom 11. Juni 1922 in Wien, GA 83, Dornach 1981, S. 278

[11] http://wirsinddie99prozent.tumblr.com/page/3

[12] Wilhelm von Humboldt, Über den Geist der Menschheit, in Sämtliche Werke, 1999, Bd. 1, S. 90

[13] Rudolf Steiner, Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, Vortrag vom 28. 8. 1922 in Oxford, GA 305, Dornach 1979, S. 218

[14] Hierin liegt m.E. auch z.B. der Unterschied der Geldauffassungen von Silvio Gesell und Rudolf Steiner begründet. Gesell möchte durch ein staatlich eingeführtes System den Geldkreislauf bewirken, für Steiner ist es die Aufgabe der Wirtschaft selbst ("Assoziationen"), den Übergang vom Kauf- zum Leih- und insbesondere zum Schenkungsgeld zu veranlassen. Dieser Unterschied wird eben deshalb selten gesehen, weil das Geistesleben – das die wirtschaftliche Assoziation impulsieren muss – unterschätzt wird. (Dass auch Steiner im Nationalökonomischen Kurs von einem "Verfahren" zur Umlaufsicherung spricht, ist wiederum nur eines der "illustrativen Beispiele", das über die grundsätzliche Verschiedenheit nicht hinweg täuschen sollte. Noch z.B. Emil Leinhas hatte diese Problematik klar. Siehe sein Buch von 1947: Vom Wesen der Weltwirtschaft)

[15] Rudolf Steiner, Nationalökonomischer Kurs, Vortrag vom 29. Juli 1922 in Dornach, GA 340, Dornach 1979, S. 95

[16] Der Anfang eines neuen Verhältnisses des Geisteslebens zur Wirtschaft zeigt sich bereits in allen Initiativen, die das Bewusstsein der Verbraucher fördern. Als Kunde ist der einzelne Mensch eben bereits unmittelbar in die Verantwortung der wirtschaftlichen Prozesse einbezogen. Wie weit seine „Macht“ dabei reichen kann, zeigte zum Beispiel der Boykott der Shell-Tankstellen, als Shell 1995 den Öltank „Brent Spar“ in der Nordsee versenken wollte. Nach kurzer Zeit entschied sich Shell für eine nachhaltige Entsorgung und 1998 wurde sogar die gesetzliche Regelung eines generellen Versenkungsverbotes auf den Weg gebracht. Es ist leicht einsehbar, dass sich eine viel intensivere Beziehung zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft ausbilden würde, wenn die Bildungs- und Kultureinrichtungen wirklich frei finanziert wären, denn jeder Kauf würde daraufhin geprüft, ob das jeweilige Unternehmen sozial und kulturell nachhaltig oder nur egoistisch und gewinnmaximierend wirtschaftet. So liegt in der bewussten Kundenentscheidung der Nährboden eines assoziativen Wirtschaftens. Deshalb sagte Rudolf Steiner: „Nehmt dem Staat die Schulen ab, nehmt ihm das geistige Leben ab, gründet das geistige Leben auf sich selbst, lasst es durch sich selbst verwalten, dann werdet ihr dieses geistige Leben nötigen, den Kampf fortwährend aus seiner eigenen Kraft zu führen. Dann wird aber dieses geistige Leben auch von sich aus in der richtigen Weise zum Rechtsstaat und zum Wirtschaftsleben sich stellen können, wird zum Beispiel das geistige Leben gerade - ich habe das in meiner sozialen Schrift [Die Kernpunkte der sozialen Frage], die nunmehr fertig wird in den nächsten Tagen, ausgeführt -, dann wird das geistige Leben auch der richtige Verwalter des Kapitals sein.“ (aus: Rudolf Steiner, Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im soz. Geschehen, Vortrag 21. März 1919 in Dornach, GA 190, Dornach 1980, Seite 24)

[17] Rudolf Steiner, Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus, GA 24, Dornach 1961, S. 71f.

[18] Rudolf Steiner, Staatspolitik und Menschheitspolitik, Aufsätze zur Dreigliederung des sozialen Organismus, GA 24, Dornach 1961, S. 43f

[19] http://www.stern.de/politik/deutschland/club-of-rome-oekonom-wie-retten-wir-die-welt-herr-meadows-1748434.html