Interview zum Initiativkonto

01.05.2000

Christine Pflug: Herr Brunner, wie sind Sie auf die Idee des Initiativkontos gekommen, bzw. woher kommt ihr anthroposophischer Hintergrund?

Thomas Brunner: Ich war 12 Jahre Waldorfschüler, studierte Eurythmie in München und Wien. Von Else Klink wurde ich an die Stuttgarter Bühne eingeladen und erlebte dort den Alltagsbetrieb und die Zwänge, denen eine Einrichtung derzeit unterlag.

 

Christine Pflug: Wann wurde das Initiativkonto gegründet, und wer war dabei?

Thomas Brunner: Vor acht Jahren fanden eine Kollegin aus der Bühne des Eurythmeum Stuttgart, Diana Maria Sagvosdkina, und ich uns zusammen mit der Frage, wie ein individuelles Geistesleben keimhaft in dem großen Gefüge der mehr oder weniger etablierten Einrichtungen in Erscheinung treten könne. Das Geistesleben hat in unserer Gesellschaft meistens den staatlichen Rahmen, d.h. es wird über den Staat finanziert. Dies führt zu allerlei Abhängigkeiten. Es gibt verhältnismäßig wenig kleine, wirklich freie Initiativen. Ansonsten leben wir in einer Wirtschafts- und Warengesellschaft, in der menschliche Entwicklung eine Privatangelegenheit ist. Wir waren damals zwei Familien, hatten wenig Geld, aber dachten: "Zwei mal dreißig Mark sind schon sechzig Mark, und damit hat man schon mehr Möglichkeiten, als einer nur für sich hätte." Wir wollten bewußt nicht Institutionen anbetteln oder staatliche Gelder beantragen, sondern das Wenige durch Zusammenlegen- und Zusammendenken mehr werden lassen. Dann kam die Musikerin Angelika Seegers hinzu, und nach einer ersten größeren Veranstaltung schlossen sich bald weitere Menschen an.

 

Christine Pflug: Das Initiativkonto versucht, ein sich selbst verwaltendes Glied des sozialen Organismus zu sein. Wie gestaltet sich das?

Thomas Brunner: Man ist gewohnt, auf Erscheinungen, Funktionen, Äußerlichkeiten zu schauen - auf das "Was" und das "Wie" - und läßt sich selbst - also den "Wer" - draussen. Es geht also um den Sprung von allgemeinen Merkmalen zum reinen Interesse am individuellen Menschen. Beim Geistesleben trete ich in den Impuls ein - der nicht nur mein Impuls sein kann - , dass die Menschheit und die Individuen ihren Weg gehen können. Dieser Freiheitsimpuls umfasst die ganze Erde und muss doch einen konkreten Anknüpfungspunkt finden. Hier geht es also darum, "aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen", wie dies Friedrich Schiller einmal formulierte.

 

Christine Pflug: Das formuliert Rudolf Steiner so, dass heute die Gemeinschaft dafür da ist, das Individuum zu fördern.

 

Thomas Brunner: Genau das ist der Impuls des Geisteslebens, nicht der des Wirtschafts- oder Rechtslebens. Dieser Impuls braucht Strukturen. Wir haben heute Strukturen im Wirtschaftsleben - Produktion, Warenzirkulation und Verkauf - und im Rechtsleben die rechtlich-demokratischen Vereinbahrungen. Alles weitere gilt als Privatsache; wie notwendig aber das Geistesleben eines ganz eigenen Gemeinschaftsprinzips bedarf, das wird zumeist noch vollkommen übersehen.

Beispielsweise werden heute Schulen, die Einrichtungen des Geisteslebens sind, durch die Art der Staatsführung wie Wirtschaftseinrichtungen gehalten, d.h. betriebsegoistisch. Man hat Angestelltenverhältnisse und dadurch Abgaben von Leistungen gegen Lohn.

Außerdem wird auf einer Parlamentarisch-demokratischen Ebene festgelegt was Schulen sind. Dann werden über Steuergelder Arbeitsplätze geschaffen. Das ist nicht wesensgemäß für das Geistesleben. Man geht von allgemeinen, abstrakten menschlichen Gedanken aus und drückt das inís soziale Leben hinein. Dadurch wird das soziale Leben manipuliert. Rudolf Steiner weist darauf hin, dass das Geistesleben vom Staat abgelöst werden soll. Das heißt, dass für diesen Bereich das Schenkungsprinzip zu gelten hat. Es muß sich von "unten", von den Individuen her organisieren. Die Waldorfschule beispielsweise ist in ihrer Gründungszeit rein unternehmerisch entstanden: Emil Molt hat in einer realen Beziehung zu Rudolf Steiner ihm ganz konkret sein Vertrauen zugesprochen.

Man kann eben nicht einfach eine Revolution machen und alle Verhältnisse abschaffen, oder neue Verhältnisse erzwingen wollen, sondern die bestehenden Zwangsstrukturen müssen evolutionär überbrückt werden. Solche Initiativkonten müßten in den Schulen zwischen Eltern, Lehrern u.s.w. gebildet werden. Diese Gemeinschaften müßten sich dann wieder mit anderen verwandten Initiativen verbinden, so dass ein Netzwerk entsteht.

Dabei sollte nicht nur institutionell gedacht werden, denn die Probleme bereffen jeden einzelnen individuellen Menschen: Will heute ein Mensch ein Anliegen realisieren, geht er zur Bank. Dort wird danach gefragt, wie sein Vorhaben kalkuliert ist, und dann werden rechtliche Bedingungen festgelegt, z.B. die Konditionen, Verzinsung etc.. Rechnet sich das Ganze nicht für die Bank, hat man dann vielleicht in familiären Beziehungen jemand, der einen unterstützt. Ansonsten gibt es aber keine Ansprechpartner.

 

Christine Pflug: Der Wirtschaftsimpuls im Geistesleben führt zu pauschalen Maßnahmen, wie z.B. im Krankenkassensystem, bei Berentung, Versicherungen etc., die dem Einzelnen nicht gerecht werden.

Thomas Brunner: Das sind alles Bereiche, die eigentlich in eine Verwaltung des Geisteslebens hineingehören und eine viel beweglichere Kapitalverwaltung brauchen. Weil man heute noch nicht über die rechtlich-staatlichen Prinzipien hinaus ist, sind diese Verhältnisse nicht karma-fähig. Das heißt, dass man sich nicht bewußt mit anderen Menschen verbindet, sondern nur mit Zahlen in Kontakt tritt.

Wir haben die Anonymisierung des Geldes noch nicht überwunden. Früher in der Handwerkerdorfgemeinschaft wurde das Wirken des Einzelnen unmittelbar anschaulich, und das Wirtschaften war wirklich gegenseitig. Der Schritt in die Geldwirtschaft war dann eine Abstraktion. Das war am Anfang ein Erreichnis, weil es zunächst mehr Freiheit ermöglichte.

 

Christine Pflug: Die Verfahren der Geldvergabe müßten immer wieder neu entwickelt werden, um lebendig und individuell zu sein für denjenigen, den es betrifft!?

Thomas Brunner: ...und es müßten konkrete Bezüge entstehen. Dazu gehört natürlich in der Praxis, dass auch Schmerzhaftes passiert und ein Vorhaben auch mal in den Sand gesetzt wird. Der entscheidende Punkt ist aber, dass im Geistesleben der Zweck nicht außerhalb der Menschen liegen kann. Das, was man heute "ethisches Investment" nennt, ist in diesem Sinne anachronistisch und ein "kantianistischer Imperativ": Du sollst ökologisch sein! u.s.w. Es wird dem Individuum nicht zugetraut, dass man von alleine dahin kommt sinnvoll zu handeln. Und es entscheidet nicht der Pluralismus der Menschenvielfalt.

 

Christine Pflug: Alles, was bei Ihnen bewegt wird, geschieht dadurch, dass man sich gegenseitig wahrnimmt und kennt. Man kann konkret die Auswirkungen sehen, wenn man eine Sache oder einen anderen Menschen unterstützt.

Thomas Brunner: Es findet eine unmittelbare Wahrnehmung statt, ohne dem anderen dabei hineinzureden. Es ist auch eine Ermutigung: Das, was jemand als notwendig ansieht und wofür er bisher keinen Ansprechpartner hatte, kann zumindest in Erscheinung treten. Wenn er dann vielleicht 2000 DM bekommt, kann er mit dem Geld noch keine Einrichtung aufbauen, aber vielleicht eine Veranstaltung machen, um sein Thema weiter zu veröffentlichen und vorwärts zu bringen.

Jeder der dabei ist, hat alle Namen und Adressen der anderen, und so kann er frei und unabhängig jeden Beteiligten anschreiben. Vielleicht liest man etwas, hat Interesse und fragt nach.

 

Christine Pflug: Unter dieser Prämisse kann ihre Intiative auch nicht groß sein, denn dann würde man ja wieder in unübersichtliche Verwaltungsstrukturen kommen!?

Thomas Brunner: Sie soll schon groß werden - vorallem im Sinne der Transparenz und Wahrnehmung voneinander. Aber ob wirkliche Verbindungen entstehen, hängt nicht nur von der Größe ab, sondern vor allem von der Aktivität des Einzelnen.

Rudolf Steiner schreibt im Vorwort seiner Schrift "Die Kernpunkte der sozialen Frage": "Man kann es besser finden, wenn alle Produktion und Konsumtion von außen her gerecht geregelt wird. Aber diese organisatorische Regelung unterbindet die freie Schaffenskraft des Einzelnen und sie bringt das Wirtschaftsleben um die Zufuhr dessen, was aus dieser freien Schaffenskraft entspringen kann." Darüber steht der Satz: "Man kann sagen: Was nützt es, wenn der Besitzlose sich mit dem Besitzenden assoziiert..." Doch darauf kommt es gerade an: dass die Individuen unmittelbar und direkt miteinander in Kontakt kommen. Das war auch der Anfangsimpuls der GLS-Bank. Ernst Wilhelm Barkhoff hatte damals Gemeinschaftskonten eingerichtet, und die Bank war als ein Organ gedacht dafür, dass sich die Menschen gegenseitig in die Wahrnehmung bekommen. So etwas ist heute wieder in Gang mit den kleinen Individualstiftungen, wobei gerade diese Individualstiftungen zu unguten Machtinstrumenten werden können, wenn der öffentlichen und lebendigen Begegnung nicht genügend Raum gegeben wird.

 

Christine Pflug: Welche Menschen schließen sich ihrer Initiative an und warum?

Thomas Brunner: Teilweise kommen sie dazu, weil sie an einem anderen Ort mit ihrer Initiative nicht "landen" können, und beim Initiativkonto auf ein Forum treffen, wo sie ihr Anliegen darstellen können.

 

Christine Pflug. Handelt es sich dabei beispielsweise um ein Studium, ein Kunstprojekt, einen Bauernhof oder ähnliches?

Thomas Brunner: Richtig, grundsätzlich. Es könnte auch sein, dass jemand ein halbes Jahr ausspannen will und dafür Unterstützung braucht. Es kann aber auch jemand eintreten, weil er sieht, dass jemand anderes unterstützenswert ist. Jeder gibt sich in den Prozeß der Kommunikation hinein, z.B. auf gemeinsamen Treffen hier in Schleswig Holstein, in Berlin oder in München etc.. Das Verfahren ist aber ganz offen, es gibt keine Pflichtveranstaltungen. Das einzige, was zur Zeit als regelmäßige Einrichtung besteht, sind die "Stichtage", wo Initiativen vorgeschlagen werden, und das wird in schriftlicher Fassung dann an alle verschickt. Ein begleitender Rundbrief ist entstanden, aber ganz frei, sozusagen selbst als Initiative im Initiativkonrto.

Christine Pflug: Was passiert auf den Treffen, was wird verhandelt? Was entsteht?

Thomas Brunner: Wie sich ein solches Treffen gestaltet hängt ganz von den konkret-Beteiligten ab und von dem, der die Initiative dazu ergriffen hatte. Von ganz allgemeinen Fragen zur gesellschaftlichen Gegenwartslage und geisteswissenschaftlicher Grundlagenarbeit, über konkrete Initiativen und gemeinsame Projekte, bis hin zu Persönlichem kann alles zur Sprache kommen.

Die ersten Jahre haben wir das Geld in Tagungen investiert, Konzerte und Vorträge veranstaltet, haben künstlerische Projekte, die im etablierten Rahmen nicht ankamen, die wir aber wesentlich fanden, Raum verschafft. Diese Geste, dass etwas entstehen kann, und für das Entstehen einer neuen Qualität etwas zu schenken, finde ich bis heute wesentlich.

Viele verschiedene Lebenswelten kommen zusammen, es ist keine "Gehaltsklasse", die sich trifft. Es sind Sozialhilfeempfänger genauso wie Unternehmensberater dabei, ein Professor von der Uni u.s.w. Von den Anwesenden hängt es ab, was entsteht. Beispielsweise wollte ein Teilnehmer einen Workshop für Korbflechten in Schulen anbieten. Er brauchte, um diesen Kurs zu entwickeln, eine Vorfinanzierung. Andere Projekte waren Buchpublikationen, Eurythmieaufführungen. Aufbauhilfe für ein Zigeunerdorf in Rumänien, einfache Unterstützung zum Lebensunterhalt, ein kulturelle Inselwanderung, der "Oval-Bau" in Kiel, ein Projekt zum Freikauf von Grund und Boden, eine Initiative zur Belebung von Biotopen etc. Auch wurden schon im Kreise der Mitglieder Kredit-Bürgschaftsgemeinschaften gebildet.

Das Wesentliche ist aber nicht allein die einzelne Initiative, sondern der Denkprozeß, dass der Mensch aus sich heraus Motive in die Welt stellt. In Hamburg gibt es beispielsweise etwas ähnliches, nämlich das Spendenparlament. Menschen schenken Geld zusammen; und dann passiert aber etwas grundsätzlich anderes: Sie stimmen demokratisch darüber ab - die Initiativen werden ausgewählt, demokratisch bewertet und dann finanziert. Beim Initiativkonto gilt in der Verteilung des Geldes gerade nicht das Mehrheitsprinzip, sondern das Initiativ-Prinzip und die individuell verantwortete Zuteilung. Natürlich ist der sichtbare Effekt beim Spendenparlament viel unmittelbarer da, beim Initiativkonto mehr keimhaft, da braucht es also schon etwas Zukunftsphantasie. Doch das heißt nichts anderes als den Schritt gehen, vom statisch-staatlichen zum künstlerischen Denken: "In dem Augenblick, wo das reine Denken als Wille erlebt wird, ist der Mensch in künstlerischer Verfassung". Dieser Satz Rudolf Steiners kann für alle am Prozeß Beteiligten zum "Qualitäts-Schlüssel" werden; denn nur ein wirklich künstlerisches Erleben wird der menschlichen Freiheits- und Selbstverwaltungs-Notwendigkeit gerecht.

Projektdarstellung
Das Initiativkonto

für selbstbestimmtes Handeln durch Gegenseitigkeit

ist ein künstlerisch-sozialer Versuch zur Förderung sozialer Verantwortung und individueller Initiative. Die z. Zt. etwa 30 Mitglieder haben sich zur überregionalen Initiativkonto-Gemeinschaft zusammen gefunden, die ein gemeinsames Konto bei der GLS-Bank führt (KtoNr. 14 281 800 / BLZ 430 609 67).

Vierteljährlich (z.Zt. jeweils zum 1. Okt, 1. Jan. und 1. April eines jeden Jahres) bietet ein Stichtag die Möglichkeit, Projekte vorzustellen und wahrzunehmen; es können gegenseitige Anregungen entstehen und Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit.

Jedes Mitglied verfügt über den gleichen Anteil am Gesamt-Kontostand. Über die eingebrachten Initiativen werden also keine Mehrheitsentscheidungen getroffen, sondern jedes Mitglied entscheidet (im Laufe eines Monats) über die Verwendung des eigenen Anteils: Der Förderbetrag für die einzelne Initiative ergibt sich jeweils daraus, wieviel Geld ihr aus den Anteilen zugewiesen wird. Nicht vergebene Anteile fallen dem Konto und damit dem nächsten Stichtag zu.

Für die Mitglieder heißt diese Vorgehensweise, daß die in heutigen Parlamenten übliche Übergehung von Minderheiten durch oftmals fragwürdige Mehrheitsentscheidungen wegfällt. Auch ist durch die stets gleichen anteiligen Verfügungsrechte jeder Vetternwirtschaft der Boden entzogen. Nur die Rechtsrahmen-Bedingungen werden mit demokratischer Mehrheit ermittelt. Auch ist die von der Gemeinschaft beauftragte Treuhandschaft jederzeit abrufbar. Alle das Initiativkonto betreffenden Informationen stehen allen Mitgliedern in gleicherweise transparent zur Verfügung. Grundsätzlich ist die Gemeinschaft für jeden Menschen offen. Daß es nur 30,- DM monatl. Mindestbeitrag sind, kann als bewußter Akt der Offenheit und als Motivation gesehen werden, die Gemeinschaft beweglich zu erhalten, denn weniger heißt hier mehr, wobei es jedem Mitglied selbst überlassen bleibt, seine eigene Möglichkeit und Beteiligungsbereitschaft darüberhinausgehend einzuschätzen.

Damit ist die Funktion des Initiativkontos skizziert. Es handelt sich selbstverständlich nur um einen Versuch, einen lebendigen, selbstverwalteten und freiheitlichen Initiativ-Zusammenhang zu bilden, um die Würde des individuellen Menschen zur Geltung zu bringen. Soll nicht Geldmacht, sondern das individuelle Fähigkeiten-Kapital zur Wirksamkeit kommen, dann gilt es Organe zu schaffen zur Wahrnehmung individueller Initiative, um die Geldströme der Gesellschaft ihrer zerstörerischen Eigendynamik zu entkleiden und ihnen eine menschliche Qualität zu verleihen.

Ausführlichere Information:

Thomas Brunner
Britzweg 51
24111 Kiel
Tel. / Fax : 0431 - 69 00 73
votiv@web.de
www.initiativkonto.net


Erstveröffentlicht im Hamburger Veranstaltungs-Kalender Hinweis, Mai 2000, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren