Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

12.02.2008

Der türkische Ministerpräsident Erdogan entlarvt seine deutschen Gastgeber: Die Deutschen sind empört, weil Erdogan gegen eine Assimilation der Türken durch die Deutschen ist!

In der großen Koalition wird gegenwärtig die deutsche Leitkultur verteidigt, und zwar gegen Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident der Türkei. Erdogan hatte während einer Podiumsdiskussion vor Berliner Schülern von den türkischsprachigen Deutschen gefordert, daß diese einerseits die deutsche Sprache lernen müssten, um sich besser in Deutschland zu integrieren, sich aber andererseits nicht assimilieren lassen dürften. Vielmehr sollten sie auch danach streben, ihre Kultur zu bewahren, zum Beispiel, indem sie sich für türkischsprachigen Unterricht an Schulen und Universitäten einsetzten, denn, so Erdogan: „Wissenschaft kennt keine Grenzen.“

Man darf sich natürlich fragen, wo Erdogan selbst steht in Sachen Anerkennung anderer Kulturen. Und ganz sicher hat er die Mechanismen, die er in seiner Rede am 10. Februar in Köln bekämpft wissen wollte, in derselben zugleich für den eigenen Wahlkampf bedient.

Man kann andererseits anführen, daß Erdogan Kopf und Kragen riskiert hat, um in der Türkei gegen den Widerstand nationalistischer und fundamentalistischer Kräfte ein Reformpaket durchzubringen, das die Macht des gefürchteten nationalen Sicherheitsrates massiv einschränkt und Radio - und Fernsehanstalten zum ersten Mal erlaubt, in kurdischer Sprache zu senden. Und vielleicht kann man Erdogan beim Wort nehmen, wenn er, wie in besagter Podiumsdiskussion, erklärt, daß man in Istanbul eine deutschsprachige Universität errichten werde.

Die Reaktionen von deutschen Politikern und Medienmachern auf Erdogans Forderungen nach einer kulturellen Gleichberechtigung haben indes mit solchen Erwägungen nichts zu tun, denn diese bewegen sich mittlerweile ganz offensichtlich in einer Sphäre, die sich jeder Reflexion entzieht. Vergleichsweise harmlos war noch die Antwort von Angela Merkel: „die Loyalität gehört (dann) dem deutschen Staat. Deshalb glaube ich, dass wir über das Integrationsverständnis schon auch mit dem türkischen Ministerpräsidenten noch weiter diskutieren müssen."

Vergleichsweise harmlos zwar, aber man sollte sich doch verdeutlichen, was hier geschieht: Der türkische Gast spricht von Sprachfreiheit, und die Gastgeberin sieht in einer solchen Vorstellung die Loyalität gegenüber dem deutschen Staat in Frage gestellt. Man muß dem Mann aus der Türkei Bewunderung zollen, denn es ist ihm gelungen, die Bundeskanzlerin zu entlarven. Was aufmerksame Beobachter schon längst bemerkt hatten, das wurde jetzt für jeden sichtbar – bzw., das hätte für jeden sichtbar werden können. Denn es ist in Wahrheit dann doch niemand entlarvt worden, weil nämlich alle entlarvt wurden.

Der CSU-Vorsitzende Erwin Huber bringt die gefühlte Mitte auf den Punkt: „Erdogan hat türkischen Nationalismus auf deutschem Boden gepredigt.“ Auf deutschem Boden! Huber stößt sich nicht etwa daran, daß Erdogan Nationalismus gepredigt hat, sondern daran, daß er das auf deutschem Boden tat. Nachdem es in den letzten Monaten vermehrt Meldungen über Fälle von Körperverletzung bis in die bundesweiten Nachrichten geschafft hatten, weil sie von Ausländern begangen wurden (Gauweiler: "Deutschland wird in der Münchner U-Bahn verteidigt"), erreicht die seit der Fußball-WM über Deutschland steigende Nationalismus-Welle mit der Debatte um die Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten ihren vorläufigen Höhepunkt.

Einmütig sind die Deutschen empört. Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man davon ausgeht, daß die großen Volksparteien eine Mehrheit repräsentieren. Lediglich Claudia Roth von den Grünen weist darauf hin, daß eine Förderung der Zweisprachigkeit ja gerade das Mittel für eine bessere Integration sei. Struck findet hingegen: „Es steht fest, dass wir in Deutschland keine türkischsprachigen Schulen und Universitäten brauchen. Wir wollen keine Parallelgesellschaft in Deutschland.“ Und Frau Merkel legt nach: Sie habe Vorbehalte, dass „türkische Lehrer jetzt nach Deutschland kommen, um mit den hier lebenden türkischstämmigen jungen Leuten Unterricht zu machen“.

Zugegeben: diese Formulierung von unserer Bundeskanzlerin ist aus einer gewissen Perspektive betrachtet recht clever. Man weiß nicht genau, ist das schlimmer, daß Türken hierher kommen, oder ist das schlimmer, daß die türkischstämmigen jungen Leute von Türken unterrichtet werden. Das wirkt. Dem Satz von Struck liegt weniger Raffinesse zugrunde, der kommt aus der Retorte. Hier hat es gewirkt. Die jahrelange und ständige Wiederholung von Worten wie Leitkultur, Parallelgesellschaft oder Integration hat dazu geführt, daß der Sinn dieser Worte ins Unbewußte gesunken ist, sodaß sie jetzt überall und jederzeit auch ohne Absicht in den Mund genommen werden können.

Man kann sich in eine Talkshow setzen und über so ein Wort alles mögliche behaupten. Man kann zum Beispiel behaupten, Integration bedeute, daß man zusammen leben wolle, daß beide Seiten etwas von der jeweils anderen annehmen sollten. Das ist aber nicht der Sinn des Wortes, und wenn die Show dann vorbei ist, dann bleibt, daß immer wieder das Wort Integration gefallen ist - und die Menschen sind empfänglich für den Sinn des Wortes. Dadurch, daß der Wortsinn allmählich in das Unterbewußte absinkt, entsteht eine Art stille Bereitschaft für eine einseitige Kommunikation, in der derjenige, der die Bedeutung kennt, nach Belieben Emotionen erzeugen und Meinungen abrufen kann. Das ist das, was gegenwärtig geschieht in Deutschland.

Wenn sich zwei Menschen aus verschiedenen Volksgruppen begegnen wollen, dann müssen sie sich für einander interessieren, und dann muß jeder den anderen in seine Lebenswelt integrieren. Wenn Begegnung gemeint wäre, wenn Interesse an dem türkischen Volk vorhanden wäre, dann könnte man auch Begegnung sagen. Man sagt Integration, weil etwas anderes gemeint ist.

Manche Leute behaupten, Integration bedeute, daß eine Minderheit die Gesetze des Staates anzuerkennen habe, in dem sie lebt. Man wird aber nicht viel Wind machen können im Blätterwald mit der Feststellung, daß Menschen, die in einem Staat leben, unter die Gesetze dieses Staates fallen. In diesem Sinn hat Frau Merkel vollkommen Recht, wenn Sie verlangt, daß die Bürger dem Staat gegenüber loyal sein sollen. Das ist aber gar nicht die Debatte, die gegenwärtig unter dem Arbeitstitel Integration geführt wird. Wenn die Bundeskanzlerin tatsächlich unter Integration die Einbindung in die Rechtsordnung und vielleicht auch eine aktive Beteiligung an dem Rechtsleben versteht, dann fragt sich, wieso sie glaubt, daß diese Integration gefährdet werden könne dadurch, daß man in einer anderen Sprache unterrichtet.

Kann die Integration in eine bürgerliche Rechtsgemeinschaft von der Sprache der Bürger abhängig gemacht werden oder hat das Gesetz blind zu sein für kulturelle Unterschiede – das ist die Debatte, die geführt werden will. Und man wird dann darauf hinweisen dürfen, daß die Vorstellung einer Identität von Sprachraum und Staatsnation nicht nur einfältig ist, sondern äußerst gefährlich. Österreich gehört nicht zu Deutschland, obwohl dort Deutsch gesprochen wird. Umgekehrt wird in Deutschland sowohl Deutsch, als auch Türkisch gesprochen. Die Annahme, daß Nation und Kultur eine Einheit bilden könnten oder sogar müßten, ist also wenigstens nicht selbstverständlich.

In der Bundesrepublik leben neben anderen zwei große Volksgruppen, die kleinere, eine türkische Volksgruppe, umfasst immerhin 3 Millionen Menschen. Die größere Volksgruppe, eine deutsche, versucht die kleinere auszugrenzen, beispielsweise indem sie es ihr erschwert, Schulen und Universitäten zu gründen, in denen die eigene Sprache gesprochen wird. Das kann die größere Volksgruppe deshalb, weil sie alleine in den Staatsorganen vertreten ist. Es werden also die Rechte der Türken abhängig gemacht davon, daß sie Eigenschaften der größten in diesem Staat lebenden Volksgruppe annehmen. So hat man einen Weg gefunden, wie man die Türken gerade nicht als vollwertige Bürger zu integrieren braucht, sondern sie draußen lassen kann: lern du erst mal deutsch.

Ein aktives Verhältnis der 3 Millionen in Deutschland lebenden Türken zu ihrem Staat ist gerade das, was man verhindern will, und so dürfte dieser Satz in Erdogans Rede des Pudels Kern berührt haben: „Jahrelang hat eine Haltung vorgeherrscht, die durch eine Distanz gegenüber der Politik in diesem Lande, gegenüber der Außenpolitik, der Innenpolitik, der Sozialpolitik charakterisiert war. Doch sollte die türkische Gemeinschaft mit ihren drei Millionen Menschen in der Lage sein, in der deutschen politischen Landschaft einen Einfluss auszuüben, Wirkungen zu erzielen.“

Mit Integration ist gemeint die Unterordnung einer Kultur unter den Staat und unter das, was seine Beamten für Kultur halten, oder auch eine Angleichung der kleineren Gruppe an die größere, kurz: Assimilation. Erdogan hätte, wenn er sich nicht der Dialektik beugen müßte, die hierzulande bald jeden mündigen Bürger beherrscht, mit Recht auch fordern dürfen: Ihr sollt euch nicht integrieren, denn mit Integration meinen die Deutschen Assimilation.

Einige deutsche Politiker haben diese Beziehung offenbar selbst herstellen können, und fühlten sich wohl gerade deshalb gestört. Kurt Beck etwa monierte, daß Integration ja nicht Assimilation bedeuten müsse. – Zur Erinnerung: Erdogan fand, daß Integration nicht Assimilation bedeuten dürfe. Vielleicht hätte man sich ja verständigen können.

Es gibt einen Einwand gegen die hier geäußerte Auffassung, den man nicht so leicht abwehren kann. Die Türken, die hier leben, das sind ja nicht die aufgeklärten Stadtmenschen aus Istanbul, glaubt man, und wenn diese altmodischen Menschen zu viel Freiheit haben, dann entwickeln sie mit ihrer Kultur auch allerlei Ungutes, das mit dieser Kultur verbunden ist. Dieser Einwand beruht auf einer Verwechslung. Wenn die Deutschen glauben, den Türken etwas entgegensetzen zu müssen, dann sollen sie das tun. Einer fremden Kultur kann man aber nur die eigene Kultur entgegensetzen. Indem die Deutschen den Staat für ihre Kulturvorstellung instrumentalisieren, verstoßen sie nicht nur gegen das Grundgesetz der BRD, sondern verlieren dabei außerdem gerade die eigene Kultur. Das ist nicht bildlich gesprochen. In dem Maße, da kulturelle Interessen vom Staat wahrgenommen werden, stirbt die Kultur, weil ihre Prinzipien nicht mit denen des Staates vereinbar sind.

Vor dem Gesetz sind alle gleich. Individuelle Interessen kann man daher nur als kulturelles Wesen auf einem Kulturboden geltend machen. Und das ist das wahre Dilemma der Deutschen: da sie die Kultur zu einer Angelegenheit des Gesetzgebers machen, wird sie vom Staat aufgesogen, und es entsteht die paradoxe Situation, daß die Kultur, die man gegen die Türken mit Beamtenfleiß verteidigen möchte, gerade deshalb überhaupt nicht mehr existiert, sondern eine Erinnerung geworden ist. Die Leute, die jetzt von Integration reden, die besitzen gar nichts mehr, in das man irgendetwas integrieren könnte. Und darum bietet sich dem Türken, dessen Volk wirklich noch kulturelles Leben hat, dieses merkwürdige Bild, wenn er nach Deutschland kommt: die Deutschen, die reden dauernd von kulturellen Werten, haben aber selbst gar keine Kultur, die sind eigentlich tot.