Altes und neues Kruzifix-Urteil in Bayern

18.12.2001

Der Streit um die Kruzifixe an bayerischen Schulen ist in eine neue Runde gegangen. Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München begann am Mittwoch die Berufungsverhandlung zur Klage eines 47-jährigen Volksschullehrers, der nicht mehr unter dem Kreuz unterrichten will. Es handelt sich um den ersten Pädagogen im Freistaat, der gegen die nur an Volksschulen geltende Vorschrift zum Aufhängen von Kruzifixen in Klassenzimmern prozessiert. Dabei beruft er sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995, das die bayerische Praxis als mit der vom Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit unvereinbar bezeichnet hatte.

Damals hatten Schuleltern gegen den Kruzifix-Zwang geklagt und Recht bekommen. Bayerische Politiker und ihr christlicher Anhang waren dann Sturm gegen das Bundesverfassungsgericht gelaufen. Ruhe war erst dann wieder eingekehrt, als sie sich ein neues Gesetz einfallen liessen, das es möglich machte, alles beim Alten zu lassen. Kruzifixe mußten nur vereinzelt entfernt werden. Die katholische Kirche kann die Macht des Staates weiter für ihre Zwecke mißbrauchen.

Im Fall des Volksschullehrers zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab. Er wird höchst wahrscheinlich Recht bekommen. Die - diesmal echt bayerischen - Richter werden sich aber - anders als das Bundesverfassungsgericht - von vornherein bemühen, den Schaden möglichst auf dessen Klassenzimmer zu beschränken und kein Grundsatzurteil zu fällen. Sie müssen sich doch den Politikern dankbar zeigen, die sie gewählt haben und das sind seit über vierzig Jahren die Christsozialen.

Wer 1995 den ersten Kruzifix-Streit genau verfolgt hat, der konnte nicht nur einen tiefen Einblick in die bayerische, sondern auch in die anthroposophische Seele bekommen. Die Kläger - Ernst und Renate Seler - hatten schon 1987 ihre Ablehnung der Kruzifixe an Schulen mit der Lektüre Rudolf Steiners begründet:

"Es gilt, das Elternrecht in der religiösen Erziehung zu stärken und die von dem Staate, aus den Nachkriegswirren vielleicht verzeihliche Anmaßung einer religiösen Prägung zurückzuweisen. Ein Kind kann sich beim Anblick eines über halben Meter großen Leichnams nicht freuen. Wenn es ständig den Leichnam anschauen muß, wird ihm die Freude an den lebendigen Christus genommen. (...) Wir Christen müssen Christus in uns lebendig machen und haben kein Recht, anderen Menschen unsere christlichen Ideale aufzuzwingen. Auch der Staat hat nicht das Recht dazu."

Wir sind bemühende Christen aus der Erneuerung der Anthroposophie und können in einer allgemein öffentlichen Schule so etwas nicht dulden.

Ernst Seler wurde dann jahrelang mit der Begründung psychiatrisiert, daß sein "Kampf gegen die Schulbehörden und die Kirche" Symptom einer Geisteskrankheit sei. Er gab nicht auf und brachte den Fall zum Bundesverfassungsgericht, der in seinem Sinne entschied.

Der ganze Zorn der Bayern drohte sich auf die Anthroposophische Gesellschaft zu richten. Statt sich solidarisch mit dem Bundesverfassungsgericht zu erklären, schlug sich diese - wenigstens scheinbar - auf die Seite der bayerischen Politiker. Damalige Vertreter der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft versagten und versuchten sich zu schützen, indem sie betonten, daß Anthroposophen auch Christen seien. Theodor Waigel, damals CSU-Vorsitzender, bedankte sich für die Klarstellung und konnte noch rechtzeitig den Kreuzzug stoppen.

Wer wirklich das Gesamtwerk Rudolf Steiners ernst nimmt und dort nicht nur nach einer Bestätigung seines eigenen Christentums sucht, wird nach solchen Klarstellungen davon abkommen, der Anthroposophischen Gesellschaft beitreten zu wollen. Mit der Aussage, daß Anthroposophen auch Christen seien, wird nämlich das Wesentliche verschleiert: Die Anthroposophie verträgt sich nicht mit dem Staatschristentum und damit auch nicht mit der bayerischen Politik. Dies hatten Ernst und Renate Seler auch richtig erkannt. Wer das Gegenteil versucht zu suggerieren, dem fehlt entweder der Mut oder die Sachkompetenz.

Anthroposophie heißt eben auch soziale Dreigliederung, welche für den Einzelnen absolute Religionsfreiheit bedeutet. Der Staat darf von daher Kruzifixe in Schulen weder aufhängen noch abhängen lassen. Die soziale Dreigliederung bedeutet aber noch mehr, nämlich völlige pädagogische Freiheit des einzelnen Lehrers. Der Staat und seine Lehrpläne haben demnach in Schulen überhaupt nichts zu suchen. Inhalt der Schulerziehung ist Privatsache. Daraus ergeben sich ganz neue Gesichtspunkte zur Beurteilung der Kopftuch-Debatte.

Den Kirchen sollte es - wie allen anderen - frei stehen, Schulen zu gründen und ihre Kruzifixe dort aufzuhängen. Es fragt sich nur, ob sie auf Dauer Lehrer davon überzeugen können mit dem Tod im Rücken zu unterrichten. Mit ihrem Versuch, Kruzifixe staatlich zu verordnen, haben sie jedenfalls den Christus noch einmal gekreuzigt.