Ein neues Licht auf die Dreyfus-Affäre

12.12.2001

Wegen des Verrats von NATO-Geheimnissen an Belgrad ist der französische Offizier Pierre-Henri Bunel am Mittwoch zu zwei Jahren Haft und drei weiteren auf Bewährung verurteilt worden. Das Militärgericht in Paris befand den 49-jährigen Major für schuldig, wenige Monate vor dem Beginn des Kosovo-Krieges einem serbischen Agenten Angriffsziele der NATO verraten zu haben. Bunel hatte die Tat bestanden, behauptete aber, auf Anweisung des französischen Militärgeheimdienstes gehandelt zu haben, um die Serben von der Glaubwürdigkeit der NATO-Drohungen zu überzeugen.

Pierre-Henri Bunel ist es zwar nicht gelungen, die Serben zu überzeugen und dadurch den Kosovo-Krieg zu verhindern. Und als es zu spät war, gelang es ihm nicht einmal, sich selber zu retten. Vieles spricht nämlich dafür, daß er die Wahrheit gesagt hat.

Wer mit der französischen Geschichte vertraut ist, findet nämlich frappierende Parallelen mit der Dreyfus-Affäre ein Jahrhundert zuvor. Damals ging es darum, den Russen glaubhaft zu machen, daß Frankreich ausreichend gerüstet war für den später ausgebrochenen Ersten Weltkrieg. Der französische Militärgeheimdienst kam auf die geniale Idee, einen angeblichen Verrat zu inszenieren. Alfred Dreyfus, ein elsässischer Jude, wurde zu Unrecht beschuldigt, entsprechende Militärgeheimnisse an Deutschland verraten zu haben. Es wurde dabei bewußt auf die antisemitische Einstellung der französischen Bevölkerung gerechnet. Für die meisten Franzosen war die Sache klar: Dreyfus war ein Jude und daher schuldig, auch wenn er wegen seinem ausgeprägten Chauvinismus einer solchen Tat gar nicht fähig war. Nur wenige waren Psychologe genug, um sich von der Unschuld Dreyfus zu überzeugen. Dazu gehörten Emile Zola und Rudolf Steiner, der die Wahrheit über die Staatsräson stellte.

Wer die damaligen Aufsätze Rudolf Steiners ins Licht seines späteren Einsatzes für eine soziale Dreigliederung stellt, erkennt zwischen den Zeilen seine Forderung nach einer radikalen Unabhängigkeit der Richter. Rudolf Steiner spricht nämlich schon damals von staatlichen Verhältnissen, die es den Richtern unmöglich machen, genug Lebens- und Menschenkenntnis in ihren Beruf mitzubringen. Daraus entwickelte er später seine Forderung nach einer Entstaatlichung der Richterwahl und einer Beschränkung der Betätigung als Richter auf fünf Jahre. Diese Richter auf Zeit sollten aus den verschiedensten Berufen kommen und - wie die Lehrer - nach ihrer Vorurteilslosigkeit gewählt werden. Solche staatlichen Verhältnisse fehlen heute immer noch, und nicht nur beim Pariser Militärgericht.

Alfred Dreyfus wurde 1894 auf Lebenszeit verbannt. Im Revisionsprozeß von 1899 wurde er im offenen Rechtsbruch - trotz des mutigen Einsatzes von Emile Zola - nochmals verurteilt und erst 1906 rehabilitiert. Das eigentliche Ziel war aber erreicht worden: Rußland ließ sich dazu überzeugen, sich mit Frankreich zu verbünden.