Dreyfus-Briefe

01.01.1898

Quelle: Magazin für Literatur, 1898, 67. Jg., Nr. 41

Die Menschen mit einem klaren Blick für die Vorgänge des Lebens müssen längst von der vollkommenen Schuldlosigkeit des unglücklichen Gefangenen auf der Teufelsinsel überzeugt sein. Wenn bei solchen Menschen noch das Gefühl des Abscheus gegenüber einer beispiellosen Knebelung des Rechtes und der Enthusiasmus für die Gerechtigkeit zu dem klaren Blick hinzukommen, dann muß sich ihre Entrüstung in solch starken Anklagen entladen, wie sie Zola, Björnson und andere erhoben haben.

Daß es in Frankreich Leute gibt, welche sich gegen das freie Walten des Rechtes in dieser Sache auflehnen, ist begreiflich. Denn wer sind diese Leute? Solche, die sich fürchten vor der Enthüllung des wahren Tatbestandes, weil sie in der Angelegenheit eine Rolle gespielt haben, um die sie kein anständiger Mensch beneiden kann. Solche, die aus Parteiinteressen behaupten müssen, daß sie von der Schuld Dreyfus überzeugt sind, weil sie diese vor sich selbst begangene Lüge als Parteiparole brauchen. Und solche, die zu dumm, oder zu feige sind, um auf die wahren Verhältnisse den Blick zu werfen.

Auch in Deutschland haben wir Leute, die sich einem Eintreten für den gepeinigten Kapitän feindlich entgegensetzen. Sie spielen freiwillig Staatsmann und sagen: wir dürfen uns in die Angelegenheiten der Franzosen nicht mischen. Dabei drohen sie mit dem Gespenst eines deutsch-französischen Krieges. Es hat zwar noch niemand den Beweis erbracht, daß eine Aufhellung der in den Nebel der Lüge, der Parteileidenschaft und politischen Korruption gehüllten Sache das mindeste zu einem solchen Kriege beitragen könnte. Aber auf die Massen wirkt eine solche « Gespenstdrohung » stark ein; und es kitzelt die eigene Eitelkeit, zu behaupten: ich habe staatsmännische Einsicht und spreche von einem höheren politischen Gesichtspunkte aus über die armen naiven Lämmer, die sich von mißverstandenem menschlichen Mitleid hinreissen lassen, für einen Menschen einzutreten, der sie - da er doch Franzose ist - gar nichts angeht.

Mögen nun die Gegner eines durch die Begeisterung für Recht und Freiheit hervorgerufenen Eintretens für einen Märtyrer der Ungerechtigkeit, Verblendung und Korruption was immer für Motive haben; eines gilt von ihnen allen: sie haben nicht das geringste psychologische Urteil. Ein solches hat nur derjenige, welcher nach dem ganzen Wesen eines Menschen zu entscheiden vermag, ob dieser einer Handlung, die ihm zugerechnet wird, überhaupt fähig ist, oder nicht. Alle Leute mit psychologischem Urteil konnten aus dem Verhalten des Hauptmann Dreyfus vor, während und nach seiner Verurteilung mit Bestimmtheit sagen:

Dieser Mann muß unschuldig sein.

In den letzten Wochen ist zu den Gründen, welche diese Menschen mit psychologischem Blick hatten, noch ein weiterer hinzugetreten. Die Briefe, die Dreyfus vom Dezember 1894 bis zum März 1898 an seine Gattin geschrieben hat, sind veröffentlicht worden. Sie sind ein psychologisches Dokument ersten Ranges. Ich möchte die Empfindungen rückhaltlos verzeichnen, die beim Lesen dieser Briefe durch meine Seele gezogen sind. Dreyfus ist eine Persönlichkeit mit Eigenschaften, die ich hasse. Er ist mir unsympathisch, wie mir nur ein Mensch unsympathisch sein kann. Er ist ein bornierter Chauvinist. Er schreibt seiner Gattin: « Erinnerst Du Dich, wie ich Dir erzählte, ich hätte, als ich vor zehn Jahren im September in Mühlhausen weilte, ein deutsches Musikkorps den Jahrestag der Schlacht von Sedan feiern gehört. Mein Schmerz war damals so groß, daß ich vor Wut weinte, meine Bettücher zerriß vor Zorn und mir zuschwor, alle meine Kräfte, meine ganze Intelligenz dem Dienste meines Vaterlandes gegen den Feind, der auf solche Weise den Schmerz der Elsässer beleidigte, zu widmen.» Eine verbohrte Soldatennatur ist Dreyfus. Die Entrüstungsrufe, die er aus seinem Gefängnis, aus dem Exil an seine Gattin sendet, tragen alle einen kleinlichen Charakter. Keine Löwennatur bäumt sich auf gegen maßlose Ungerechtigkeit, sondern ein kleiner Patriot und Gesellschaftsmensch, der sich selbst umgebracht hätte, wenn er sich nicht verpflichtet fühlte zu leben, bis seine « Ehre » und der gute Name seiner Kinder wiederhergestellt ist. Für eine mir sympathische oder große Persönlichkeit trete ich nicht ein, sondern ich spreche gegen das mit Füssen getretene Recht der Persönlichkeit, gegen die mit Kot beworfene Freiheit. Zusammengeschrumpft auf ein paar Vorstellungen ist das ganze Seelenleben des Gemarterten. Die große Anzahl Briefe bringen nur den einen Schmerzensschrei in unzähligen Veränderungen: « Mein Herz blutete, es blutet noch, es lebt nur in der Hoffnung, daß man mir eines Tages die Tressen, die ich auf edle Weise erwarb und niemals beschmutzte, zurückgeben werde.» Wie wenig außer diesem hat der Gequälte seiner heldenhaften Frau zu sagen! Wie eine « fixe Idee » die Reden eines Wahnsinnigen, so durchzieht dieser Gedanke alle Briefe des Gefangenen. Und sein Zustand muß ein wahnsinn-ähnlicher sein. Sein inneres Leben ist ausgelöscht bis auf diesen einen Gedanken. Für jeden Psychologen ist ohne weiteres klar, daß dieses Seelenleben bei einem Punkte angelangt ist, der es zum Verräter seiner eigenen Schuld machen müßte, wenn es eine solche gäbe. Dieser bis zu fixen Ideen getriebene Mann würde heute gestehen, wenn er etwas zu gestehen hätte.

Dreyfus fixe Ideen sind aber solche, die ein glaubwürdiger Beweis seiner Unschuld sind. Niemand, der mit psychologischem Blick diese Briefe liest, kann noch an die geringste Schuld dieses Mannes glauben. Als ein mit monumentalen Worten sprechendes Zeugnis sollten diese Briefe gelesen werden, daß heute in der Republik Frankreich das Recht der Persönlichkeit, daß die Freiheit zerstampft werden kann, daß der Mensch rechtlos sein kann in einem Staate, der sein Dasein auf sogenannte Freiheitsrechte stützt.

Gäbe es Richter, könnte es bei den gegenwärtigen Staatsverhältnissen solche geben, welche nicht nach dem Buchstaben der Gesetze Urteile fällen, die den Tatsachen gegenüber wie Hohn sich ausnehmen, so bedurfte es nur dieser Briefe, um Dreyfus aus seiner Verbannung zu holen, ihn von aller Schuld freizusprechen und ihm zu gewähren, was er verlangt und wessen er noch fähig ist. Aber die Richter können keine Psychologen sein. Stärker für sie als der Beweis, den die Briefe für die Unschuld liefern, spricht der Umstand, ob es irgendwo einen vieldeutigen Paragraphen gibt, der spitzfindig zu Gunsten oder Ungunsten des Verurteilten ausgelegt werden kann.

Rudolf Steiner