Zolas Schwur und die Wahrheit über Dreyfus

01.01.1898

Quelle: Magazin für Literatur, 1898, 67. Jg., Nr. 19

Die monumentale Rede, welche Emile Zola vor dem französischen Gerichtshofe verlesen hat, gehört nicht nur der Geschichte des Prozeßwesens; sie gehört der Literatur an. In Zolas gesamten Werken wird sie einen Ehrenplatz einnehmen, denn sie läßt uns tiefe Blicke in die Seele des großen Schriftstellers, des tapferen, bewundernswerten Kämpfers für Wahrheit und Rechtlichkeit tun. Heldenhaft erscheint mir der Schluß dieser Rede. Einen solch feierlichen Schwur bei allem, was ihm heilig ist, hat ein Mann getan, in dem der Wille zur Wahrheit in höchster Vollendung vorhanden ist.

Alle, die in der Dreyfusangelegenheit klar sehen, deren Instinkte nicht durch kleinlichen Chauvinismus oder übel angebrachte Staatsweisheit irregeführt sind, müssen die Empfindungen, die Zola zu diesem Schwur drängten, auch in sich verspüren.

Und nach der Rede, die Zolas großer Anwalt mit so viel Glut und so viel Überlegenheit gehalten hat, ist es nicht schwer, klar zu sehen. Nur unheilbare Blindheit für Recht und Menschlichkeit kann noch an Dreyfus Unschuld zweifeln. Man braucht bloß gesunden, unverdorbenen Menschenverstand zu haben, um hier die Wahrheit zu sehen.

Für diejenigen, die sehen wollen, brauche ich diese Zeilen nicht zu schreiben. Aber es gibt in dieser Sache ein Mittel, auch diejenigen zum Sehen zu zwingen, die sich der Wahrheit verschließen wollen. Zola hat gesagt: die maßgebenden Persönlichkeiten wissen die Wahrheit. Jawohl, sie kennen sie. Und ich will hier schlicht erzählen, was die Wahrheit ist. Wie sich eine auf wichtigsten Posten stehende Persönlichkeit, welche diese Wahrheit kennen muß, und die in keiner Weise in der Sache Partei ist, ausgesprochen hat, will ich erzählen.

Es war im Jahre 1894, da suchte Frankreich ein Bündnis mit Rußland. Die russische Regierung erhielt damals von der französischen alle die Angaben über das französische Heer ausgeliefert, die Dreyfus verraten haben soll. In Rußland kam man den Angaben der französischen Regierung mit einigem Mißtrauen entgegen. Man suchte nach einer zweiten Quelle, um sich Einblick in die militärischen Verhältnisse Frankreichs zu verschaffen. Und nun bedienten sich die französischen Staatslenker Esterhazys. Ihm wurden die den Russen nötigen Angaben ausgeliefert. Er lieferte sie an Rußland weiter. Dort wollte man durch einen Verräter die offiziellen Angaben bestätigt haben. Die Briefe, in denen er dies tat, wurden unterzeichnet: Kapitän Dreyfus. Es soll sich um etwa zwanzig Briefe handeln. Auf Dreyfus verfiel man, weil dessen Handschrift derjenigen Esterhazys ähnlich ist. Um die Sache völlig einleuchtend zu machen, mußte den Russen der Scheinbeweis geliefert werden, daß ihnen wirklich ein Verräter die wichtigen Mitteilungen gemacht hat. Esterhazy hatte man zugesichert, daß von seiner Rolle niemals gesprochen werden soll. Um seinen Angaben den notwendigen Nachdruck zu geben, mußte man die Entrüstung über den Verrat öffentlich kundgeben: und zu diesem Zwecke opferte man Alfred Dreyfus. Mit seinem Leben wurde Rußlands Glaube an Frankreich erkauft.

Rudolf Steiner