Das Leben als Lernort - Neue Wege in der Pädagogik

01.10.2004

Weil er die hergebrachte Schule zunehmend für unzureichend hielt, gründete Waldorflehrer Rüdiger Iwan die perpetuum novile Projektgesellschaft. Zu ihren vielfältigen Projekten gehört auch eine Kooperation mit der Daimler-Chrysler AG im Bereich der Ausbildung.

Schulen als gesonderte Einrichtungen für das Lernen haben sich in der Vergangenheit hauptsächlich dadurch legitimiert, dass sie auf Anforderungen des "späteren Lebens" verweisen konnten. Unter der Voraussetzung, dass dieses spätere Leben nach vorhersehbaren Prinzipien verlaufen werde, wurde man in der "scholae" für das "sed vitae" präpariert. Damit ist es vorbei! Jedenfalls weist das "spätere" Leben und Arbeiten heute schon (und mehr noch morgen) derartig verlässliche Strukturen nicht mehr auf. Die Bildungsinstitutionen Deutschlands hat das im Schatten des schiefen Turms zu Pisa in die nächste Phase ihrer staatlich verwalteten Legitimationskrise gestürzt. Dort verkommen sie zu Verschiebebahnhöfen, auf denen zugunsten leerer Zukunftsversprechungen die individuellen Interessen systematisch ausrangiert werden. Diese Entwicklung aber birgt Chancen! Während sie die Schule ihrer traditionellen Legitimation beraubt, weist sie ihr gleichzeitig eine neue, große Aufgabe zu, nämlich die Fähigkeiten auszubilden, derer es bedarf, um zukünftig Anforderungen auf allen Lebensgebieten meistern zu können. Es sind Fähigkeiten, die man handlungskonstituierende nennen könnte.1) Statt reales Leben innerhalb ihrer Mauern zu simulieren, könnte Schule sich für das Lernen in realen Arbeitssituationen öffnen. Sie könnte Heranwachsenden dieses Lernen in der Auseinandersetzung mit dem Leben ermöglichen und es begleiten. Diese Umstülpung des schulischen Lernens ins Leben zu fördern, dafür wurde 1999 die gemeinnützige Schulprojektgesellschaft perpetuum novile gegründet, um, wie es im Gesellschaftsvertrag heißt, "das Verständnis junger Menschen für wirtschaftliche Vorgänge und das Verständnis von Unternehmen für die Impulse junger Menschen zu entwickeln." Es geht um reale Arbeit, die für das Lernen und um das Lernen, das für die reale Arbeit aufgeschlossen wird.2)

"Ist das alles, was Sie von mir wissen wollen?"

Vor allem geht es darum, Ideen umzusetzen, dabei zu erproben und auf dem Wege einer Auswertung der Erfahrungen und weiterer vorausschauender Planung in einen Entwicklungs- und Erneuerungsprozess einzutreten: eben in ein "perpetuum novile". Im Folgenden möchte ich nicht mehr als ein Beispiel erzählen. Ein konkretes immerhin, das auf unserer Initiative beruht und zum Bau einer Brücke führt, auf der Lernen und Arbeiten sich wechselseitig begegnen, durchdringen und in ihren Möglichkeiten steigern. Dazu gehört auch das so genannte Portfolio - ein wesentliches Mittel, die Einseitigkeit sturer Benotungen aufzubrechen, um einer persönlichkeitsgerechten Entwicklung (und Bewertung) von Fähigkeiten Raum zu geben: eine Mappe, in der der Lernende zielgerichtet und kontextbezogen seine Bemühungen, Lernschritte und Leistungen darstellt und reflektiert, in unserem konkreten Fall für die Bewerbung um einen Ausbildungsplatz in einem Weltkonzern. Im Oktober 2003 saß ich mit Gunther Weidner, dem Leiter der Technischen Ausbildung von Daimler-Chrysler, in seinem Büro in Mannheim zusammen. Und bei dieser Gelegenheit beugten wir uns über einen randvoll mit Zeugnissen und Bewerbungsschreiben gefüllten Ordner. "Sehen Sie, hier zum Beispiel", begann mein Gesprächspartner unseren Dialog, "Durchschnitt 3,4 im Hauptschulabschluss. Und das Bewerbungsschreiben - nichtssagend. Von Beispielen dieser Art ist der Ordner voll. Damit aber kann ich nichts anfangen. Da kann ich nur absagen." Und nach kurzem Innehalten fuhr er nachdenklich fort: "Wenn ich irgend etwas in Händen hielte, irgend etwas, was mir zeigen würde, was der Bewerber kann, eine versteckte Fähigkeit, ein verborgenes Potential, auf das er mich aufmerksam und das ihn interessant machte, ich würde ihn einladen. So aber muss ich absagen." "Was Sie als Bewerbungsunterlage brauchen, ist ein Portfolio", lautete mein kurzer Einstieg in eine lange Erläuterung um eine bahnbrechende Alternative. "Kenn ich", antwortete Herr Weidner lakonisch auf meinen mit einiger Verve gehaltenen Kurzvortrag. Und fügte zu meiner nicht geringen Überraschung hinzu: "Hat mir ein Waldorfschüler schon gezeigt." "Wie bitte?", habe ich ungefähr gesagt und dabei lief Folgendes vor meinem inneren Auge noch einmal ab: Vor einigen Wochen hatte mich Herr Weisschuh, der Leiter des Fachgebietes Ausbildungspolitik von Daimler-Chrysler, nach Stuttgart, in die Konzernzentrale, eingeladen. Zusammen mit Teamleiterinnen und -leitern der Ausbildungsabteilungen aller Standorte Baden-Württembergs.

Dann durfte ich erzählen, was perpetuum novile ist und was es - seinem Namen und Wesen gemäß - bislang an Neuem in die Welt gebracht hat. Dann überlegten alle Anwesenden, was der große Weltkonzern und die kleine aufstrebende Neugründung gemeinsam tun könnten. Brainstorming nennt man das, wenn alle Ideen haben, ohne dass einer immer sofort widersprechen darf oder, fast noch schlimmer, Ja sagt (ganz gedehnt) und damit sein Aber einleitet. Was ich hier zu hören bekam, gefiel mir. Denn so unterschiedlich Daimler-Chrysler und perpetuum novile auch sein mögen, so haben beide doch ein Ziel gemeinsam: sie wollen wachsen. So starteten wir an besagtem Nachmittag unser erstes Jointventure und ich erhielt die Einladung, mich in allen Werken erst einmal umzusehen. Kam zunächst nach Mannheim, dem Stammwerk, dorthin, wo Daimler und Chrysler, pardon, Daimler und Benz seinerzeit, ich glaube 1926, fusionierten. Der Grund, warum ich gleich hier, am ersten Standort, hängen blieb, war wohl Herr Weidner selbst, der Manager einer Weltfirma, der mir seitdem immer wieder zeigt, was es eigentlich heißt, sein gegenwärtiges Tun aus der Zukunft zu organisieren und die vergangenen Erfahrungen zu Aufmerksamkeitspunkten für das eigene Handeln zu wandeln. So weit waren wir also gekommen! Mit solchen Menschen durften wir zusammenarbeiten! Ausgerechnet dieser Partner nun sollte mich zu diesem für mich vollkommen überraschenden Zeitpunkt und zudem in der denkbar kreativsten Form mit meiner Waldorfvergangenheit konfrontieren!

"Vor drei Jahren", hub er an, "hat sich ein Waldorfschüler bei uns beworben. Das machen sie nicht häufig", schaute er mich, halb fragend, halb forschend an. "Nachdem er den Eingangstest absolviert hatte, stand er von seinem Platz auf, mit den Worten, ich erinnere mich noch genau, er sagte: Und das ist alles, was Sie von mir wissen wollen? Dabei wies er etwas resigniert auf die Blätter des eben absolvierten Standardtests. Und ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass dem nicht so sei: ‚Wenn Sie wollen, können Sie mir gern mehr von sich zeigen. Nun ging dieser Waldorfschüler in eine Ecke, in der ein Rucksack lag, nahm ihn auf, stellte und legte seinen Inhalt auf den Tisch mit den Worten: Jetzt zeige ich Ihnen mal, wer ich wirklich bin. Und damit begann er seine ausgewählten Werke zu zeigen, tat es im Kontext der Bewerbung mit einem eigenen Ziel, die Ausbildungsstelle zu erhalten. Sprach über ihre Entstehung, seine Schwierigkeiten bei der Arbeit und seine Erfolge. Das ist doch Portfolio, oder?" "Das ist auch ohne Mappe so Portfolio, dass man den Eindruck haben könnte, der junge Mann hätte diese Arbeitsweise erfunden. Wir sollten nun aber doch dafür sorgen, dass nicht jeder in Zukunft mit Rucksack, Koffer oder dem vollen Anhänger zur Bewerbung fahren muss." "Also eine Mappe!", fährt mein Gesprächspartner fort. "Aber soviel noch zu diesem Bewerber: Wir haben ihn genommen. Im ersten Lehrjahr tat er sich etwas schwer. Wohl weil wir ihm nicht die Verantwortung übertragen hatten, nach der er offensichtlich verlangte. Ab dem zweiten Lehrjahr nahmen wir ihn mit hinein in die Entwicklung verschiedener Ausbildungsgänge. Und ab diesem Zeitpunkt hat er sich blendend entwickelt." Und als wären es noch nicht genug Überraschungen, fügt Herr Weidner noch hinzu: "Eben vor einer Woche hat er seine Ausbildung mit der Durchschnittsnote 1,5 als zweitbester von 115 abgeschlossen."

Für einen Augenblick bin ich versucht, meinen lange verlorenen Glauben an Abschluss und Durchschnitt wieder zu gewinnen. Doch dann besinne ich mich auf das, was aus der Sache zwischen Daimler und perpetuum mit Hilfe eines Waldorfschülers werden könnte. Und wir entwickeln gemeinsam ein Projekt, das im Gespräch erste Konturen erhält und später, in fortgeschrittener Formulierung, sich so ausnimmt: SchülerInnen der Justus Liebig Schule (Mannheim) erhalten die Möglichkeit der Erkundung des Berufsbildes "Fertigungsmechaniker" in der Ausbildungsabteilung der Firma Daimler-Chrysler in Mannheim. Das im Projektverlauf in den Schritten Dokumentation, Reflexion und Selbstreflexion entstehende Portfolio soll den individuellen Zugang zum Berufsbild aufzeigen und die erreichte Erfahrungstiefe spiegeln. Ziel ist die Bewerbung um einen Ausbildungsplatz zum Fertigungsmechaniker bei der Firma Daimler-Chrysler unter Berücksichtigung des Portfolios, seiner Vorlage, Präsentation und Bewertung. Das so entstandene "Produkt" kann zum Zwecke der Bewerbung an anderer Stelle von den TeilnehmerInnen weiter bearbeitet und modifiziert werden.

Mit der schwierigsten Klientel....

Am 9. Februar 2004, 6.15 Uhr haben sich zwölf Schüler der Justus-von-Liebig-Schule am Tor 1 der Firma Daimler-Chrysler AG Mannheim zu ihrem ersten Erkundungstag eingefunden: Schüler des Berufsvorbereitungsjahres. Sie dürfen in den nächsten drei Monaten an diesem und elf weiteren Tagen in der Lernfabrik und unmittelbar im Produktionsbetrieb den Beruf des Fertigungsmechanikers erkunden. Ihr Ziel: einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Und sie wissen, dass Daimler-Chrysler zwölf Plätze für sie frei hält. Sie wissen auch, dass keiner von ihnen es auf dem gewöhnlichen Weg der Bewerbung bis hierhin geschafft hätte. Im üblichen Verfahren wären sie alle mit ihrer Durchschnittsnote durchs Raster gefallen. Doch als Teilnehmer des Projektes haben sie für die erste Überraschung bereits gesorgt. Sie alle durften, an ihrem Notendurchschnitt vorbei, den Eignungstest der Firma absolvieren. Und haben ihn alle bestanden.

In den nächsten Monaten werden sie nun zeigen, was sonst noch in ihnen steckt. An zwölf ausgesuchten Stationen dürfen sie ihren Wunschberuf praktisch erkunden. Vier Azubis des zweiten Lehrjahres begleiten sie dabei. Die Vier schlüpfen in die Rolle der Ausbilder und werden so "by teaching" anwenden, was sie auf ihrem bisherigen Ausbildungsweg gelernt haben. Dazu gehört auch, dass sie das neue Bewertungsverfahren von Daimler-Chrysler, Ausbildung im Dialog, auf die Bewerber anwenden. Auch ihr Urteil zählt am Ende. Verantwortung kann man eben nicht lehren, man kann sie aber durch praktische Übernahme erlernen. Am 5. Mai werden die Ergebnisse präsentiert. Alle Schüler legen eine Bewerbungsmappe vor, die den individuellen Zugang zum Berufsbild aufzeigen und die erreichte "Erfahrungstiefe" widerspiegeln soll. Soviel ist bereits sicher: die dafür verwendeten Materialien werden dem Beruf selbst entnommen. Also Schrauben, Drähte, am Ende eine Mappe aus Blech? Warum nicht? Man soll der Sache von außen schon ansehen, was drin steckt. Schließlich hat Herr Weidner den Schülern am Starttag des Projektes bereits mit auf den Weg gegeben: "Also wer mir am Ende eine Mappe vorlegt, die in der Art, wie sie gestaltet ist, zeigt, dass er sich mit dem Beruf kreativ auseinandergesetzt habt, den nehme ich sofort." Doch hat die Bewerbung um einen Ausbildungsplatz eigentlich schon am Montag, den 9. Februar begonnen. Das wissen die zwölf Schüler aus dem Berufsvorbereitungsjahres der Justus-von-Liebig-Schule vor dem Tor 1 der Firma Daimler-Chrysler in Mannheim. Der Leiter der Ausbildung, die Meister im Betrieb, auch ihre Ausbilder, die Azubis, haben in den nächsten Wochen reichlich Gelegenheit, sie kennen zu lernen und zu prüfen. Doch auch sie haben reichlich Gelegenheit zu zeigen, was in ihnen steckt. Und sie sind entschlossen, diese Chance zu nützen.

Jedenfalls glaubten wir das zu Beginn. Doch die Wirklichkeit war wieder einmal etwas verwickelter, als wir uns das zuvor, so projektierend wie möglich, gedacht hatten. Wir hatten uns mit Schülern aus der BVJ-Schule die denkbar schwierigste Klientel ausgesucht. Alle zwar mit schulischem Abschluss, alle aber ohne Ausbildungsplatz, mit abgebrochener Lehre; viele unter ihnen mit einer Einstellung, die in diesem jungen Alter überraschen mag: eigentlich nichts mehr zu erwarten, jedenfalls nichts von der eigenen (Berufs-) Biographie. So äußerten sich Teilnehmer in der Auswertungsrunde (nach Abschluss des Projektes) dahingehend, dass sie die ganze Sache schlichtweg für einen Bluff gehalten hatten. Keiner, so redeten sie sich ein, würde einen Platz bei Daimler bekommen. Alles sei irgendwie eine Illusion, die man ihnen - zugegeben - mit einigem Aufwand vorspielte. Jedenfalls versicherte man uns, diese These sei unter den Teilnehmern heiß diskutiert worden und lange umstritten gewesen. Einige hat sie von ihrem Glauben abfallen lassen. Schlussendlich schafften es acht bis zum Tag der Präsentation. Einer der Teilnehmer weigerte sich verbissen, mit seiner Mappe vor Publikum aufzutreten. Ein Jugendlicher aus Litauen, wie überhaupt die Teilnehmergruppe eine mehr internationale als deutsche Zusammensetzung aufwies. Die restlichen Sieben haben alle eine (von allen bestätigte) überraschend starke Leistung bei der Präsentation geboten und sich neben der unverzichtbaren Power-Point-Präsentation persönlich behauptet, mit ihren mündlichen Beiträgen, ihren Werkstücken und, nicht zuletzt, mit ihrer Mappe. Drei Schüler erhielten im Anschluss sofort einen Ausbildungsplatz, zwei weitere haben noch Chancen, ihn bis zum Herbst zu erhalten: sie stehen auf der Warteliste.

Ein perpetuum novile eben....

Ein an dieser Zahl gemessener, bescheidener Anfang für das Prinzip, den Weg von der Schule in den Beruf neu und vor allem individueller zu gestalten. Doch haben alle Verantwortlichen an das Projekt offensichtlich noch andere Kriterien angelegt: Es wurde rundum als Erfolg gewertet und erntete zuletzt (anlässlich einer Betriebsversammlung bei Daimler) den großen Applaus der gesamten Belegschaft. Immerhin ist es der Versuch, an der - kämpferisch ausgedrückt - offenen Flanke des Bildungssystems, dort, wo nichts mehr läuft (und mit Verrechtlichung nichts mehr zu richten ist) etwas gänzlich Neues, den individuellen Anschluss statt des allgemeinen Abschlusses zu setzen. - Inzwischen hat der Oberbürgermeister von Mannheim, Herr Widder, auf einer Veranstaltung, der "Ausbildungsoffensive Mannheim", das Projekt zu seinem persönlichen Anliegen erklärt. Und das Ministerium für Kultus und Sport hat sich auch gemeldet. Im Herbst werden wir einen umfangreichen Bericht in s hauseigene "Schulmagazin" setzen. Im Herbst aber werden wir bereits die nächste, um einige wirtschaftliche und schulische Partner erweiterte Projektrunde drehen. Eine verbesserte, versteht sich, ein perpetuum novile eben...3)

1) Die hier verkürzt wiedergegebenen Gedanken waren Inhalt des Forschungsprojektes: "Arbeiten und Lernen im 21. Jahrhundert" der Pädagogischen Sektion am Goetheanum.

2) In der Waldorfschullandschaft verfolgt aus meiner Sicht nur die Regionale Oberstufe Jurasüdfuss (Schweiz) diesen Ansatz konsequent.

3) Die ausführliche Fassung dieses Artikels erscheint im Herbst im Menon Verlag unter dem Titel "Prüfung, Pisa und Portfolio - von einem vielversprechenden Ansatz, den schiefen Turm in Deutschland aufzurichten."

Kontakt zu Perpetuum Novile: www.perpetuum-novile.de


Quelle: Info3, 10/2004 und Trigolog Berlin 12/2004, mit freundlicher Genehmigung des Autors