Wie "Pisa" will die Waldorfschule werden?
Schluss mit Hausaufgaben und Klausuren!

01.03.2004

Wenn beim Stichwort "Pisa" in Deutschland Reformen im Schulwesen angemahnt werden, heißt es aus Waldorfkreisen oft "ick bin schon da". Der Waldorflehrer und Projektmanager Rüdiger Iwan meint dagegen, dass sich Waldorfschulen auf vielen Feldern bereits viel zu sehr dem konventionellen Schulsystem angepasst haben, dem "Schulschlendrian" (1) dienen – und damit ihr erneuerndes Potenzial verspielen. Ein praxisnahes Plädoyer zur Veränderung und zur Kooperation der Waldorfschule mit anderen Reformansätzen. Unlängst verfing sich eine E-mail zum Thema "Sitzenbleiben" in meiner Box, eine Aufforderung von Seiten des Geschäftsführers beim "Bund der Freien Waldorfschulen", sich an einer diesbezüglichen Diskussion zu beteiligen. Mitglieder der Grünen-Fraktion in Berlin hatten sie losgetreten. Im Umkreis des Pisa-Bebens wird dort die Forderung diskutiert, mit den Siegern des internationalen Schultests gleichzuziehen und das, was nachgewiesenermaßen niemandem hilft, jedermann statt dessen unnötige Kosten aufbürdet, das Sitzenbleiben bzw. "Durchfallen", nunmehr selbst fallen zu lassen.

Unzweifelhaft! In der Waldorfschule muss niemand dort sitzen bleiben, niemand auch fällt dorthin zurück, von wo sie (und er) aufzusteigen für ihr natürliches Recht erachten. So selbstverständlich wie das Älterwerden begibt sich für Schülerinnen und Schüler in der Waldorfschule der Übertritt in die nächsthöhere Klassenstufe. Den Kindern und Jugendlichen dieser besonderen Form von Gesamtschule wird seit je her die Schmach der "Ehrenrunde" erspart. Nur natürlich, dass auch Waldorfpädagogen sich nunmehr aufgefordert fühlen, hierzu die Stimme zu erheben. Als Waldorflehrer habe ich schon längst das Gefühl, dass man Gutes zwar gern von "uns" abguckt, der Waldorfpädagogik im Gegenzug aber die gebührende Teilnahme im öffentlichen Diskurs vorenthält. Also klopfen wir uns auf die Schulter, in aller Öffentlichkeit: Bei "uns" bleibt niemand sitzen. Die Waldorfschule selektiert nicht wie der Staat am Ende der vierten Klasse. Wir können uns damit zu Recht unter die skandinavischen der Pisa-Spitzenreiter einreihen ...

Weil wir ahnungslos sind...

Aber fassen wir uns gleichzeitig auch an die eigene Nase! Machen wir ruhig einmal einige schlechte Gewohnheiten der Waldorfpädagogik bewusst, die das fehlende Sitzenbleiben in ein weniger verklärtes Licht rücken – und es bei genauerem Hinsehen eher als Inkonsequenz denn als genuine Errungenschaft der nach Waldorfart praktizierten Pädagogik ausweisen. Überspitzt formuliert? – Leider nicht! Nur die Summe, die sich unter dem Strich aus zahlreichen Beobachtungen des Schulalltags aufdrängt! Tatsächlich handhabt die Waldorfschulpraxis am Ort ihrer Bestimmung aufs Entschiedenste Mittel, die in unrühmlicher Übereinstimmung mit dem im Übrigen abgelehnten System aus Selektion und Berechtigung stehen. - Weil man muss? - Weil man es so will? - In erster Linie, weil man ahnungslos ist! Auch Waldorfpädagogik handelt aus Teilen eines angestammten Lehrerhabitus heraus, aus Gewohnheiten, die weniger gebildet als vielmehr vom jahrhundertealten Gattungswesen Lehrer ererbt wurden. Und so tut man der nächsten Generation an, was man selbst erlitten hat: Hausaufgaben? Selbstverständlich! Wie anders sollte das Kind Durchgenommenes festigen? Klassenarbeiten und Tests? Wie sonst sollte man Auskunft erhalten über den Stand des Erreichten? Die Korrektur? Wie, wenn nicht aus Fehlern sollte man lernen? Die Zensur? Schließlich wollen Schüler wissen, wo sie stehen. - So werden die Segel in einem Boot gehisst, das, in nicht unwesentlichen Teilen längst morsch, keiner zukünftigen Generation mehr als Vehikel einfach untergeschoben werden dürfte. Aber untergeschoben wird! Mag sein, dass der Geist der Waldorfpädagogik dennoch günstig weht, doch sitzt auch einer in den morschen Teilen und, je länger die Fahrt währt, desto schwerer wird – bei noch so günstigem Wind – das Fahrzeug im Wasser liegen....

Bleigewicht Hausaufgabe

Aus der Reihe der musealen Bestandteile sei hier zunächst die Hausaufgabe hinterfragt. Dankenswerter Weise hat Dietrich Wessel in einem profunden Beitrag (2) diesen Teil des alten Schulschlendrians (3) bereits aufgedeckt, insbesondere den hier in Rede stehenden Zusammenhang der Hausaufgaben mit dem Sitzenbleiben, oder, wie Steiner es ausdrückt, dem "Durchplumpsen" (4). Den Anstoß zu seinen Nachforschungen scheint bezeichnenderweise die apodiktisch daherkommende Auffassung eines jungen (!) Kollegen gegeben zu haben: "Hausaufgaben müssen sein." Den tragischen Höhepunkt bildet dabei der Einblick in die Bemühungen Rudolf Steiners um Überwindung dieses Elementes einer alten Zwangspädagogik.

Rudolf Steiner war ein Gegner der Hausaufgaben. Bei aller Flexibilität, die er sich stets um den Kern seiner Überzeugungen bewahrt hat, blieb er seiner ablehnenden Haltung treu. Zeit seines Einwirkens auf die KollegInnen der ersten Waldorfschule nach dem Ersten Weltkrieg in Stuttgart! Dabei hat er sich gemüht, er hat erläutert, er hat den Pionieren von einst versucht einsichtig zu machen, was mancher Spätgeborene an den hundertfachen Standorten von heute rundum als Provokation ablehnen würde: Hausaufgaben sind ein Rückfall in eine Pädagogik, deren Schattenseiten man zu überwinden angetreten war. Minutiös sucht Steiner die Freiheitsgestalt dort zu entfalten, wo die JunglehrerInnen von einst (und heute) den Zwang zu setzen sich verpflichtet fühlen. Vergeblich!

Steiner nicht verstanden...

In der Konferenz mit den Ur-Waldorflehrern vom 11. September 1921 (5) ist es der Mathematiklehrer, der bezüglich seines Algebraunterrichtes von der Notwendigkeit der Hausaufgaben überzeugt scheint: "Hier tritt es besonders deutlich hervor, dass die Kinder zuhause etwas rechnen sollten." Auffällig ist, dass der Kollege die Notwendigkeit seiner Forderung aus der Sache selbst, der Algebra, ableitet und damit eine quasi objektive Begründung für die Wahl dieses Mittels vorgibt. Steiner hingegen geht von der inneren Verfassung des Kindes aus, von dem "gewissen Eifer", der den Anfang aller Bearbeitung von Aufgaben durch Schüler bilde, ohne den die Hausaufgabe jeder Legitimation zu entbehren scheint. Erläuternd heißt es weiter: "Es müsste lebendiges Leben hineinkommen; es müsste so gemacht werden, dass die Aktivität erregt wird, dass nicht die innere Haltung der Kinder gelähmt wird." - Es müsste hineinkommen – muss aber wohl nicht drin gewesen sein: das lebendige Leben! Steiner scheint die Unnachgiebigkeit des Kollegen zu spüren. Und so entwickelt er von Satz zu Satz konkreter die Form, in der er einzig zulassen will, wonach sein Gegenüber so überzeugt verlangt. Der Gefahr, "die Grundsätze einer wirklich sachgemäßen Erziehungskunst dadurch zu durchkreuzen, dass man doch wieder auf den Zwang hinarbeiten möchte", stellt er die Freiheitsgestalt gegenüber: "Zum Beispiel müsste es so gemacht werden, dass Sie, wenn Sie einen Stoff durchgenommen haben, etwa aus diesem Stoff hervorgehende Aufgaben so aufschreiben, dass Sie sagen: Morgen werde ich die folgenden Rechnungsoperationen behandeln -, und jetzt warten, ob die Kinder sich herbeilassen, diese Operationen zuhause vorzubereiten." Auf keinem anderen Wege als "aus dem Wollen der Kinder selbst" sollte hervorgehen, "dass sie von einem Tag zum andern selbst etwas tun." Nur natürlich, dass die "Erziehung zur Freiheit", um glaubwürdig zu wirken, auf dem Wege zu ihrem Ziel sich keiner zu ihr im inneren Widerspruch befindlichen Mittel bedienen sollte. Auf dem Instrument des Zwanges schließlich lässt sich die Melodie der Freiheit nicht erüben.

Dennoch war und ist, was Steiner vorbringt, ein Affront gegen die Vertreter der Pflichtfraktion. Und ihre bis heute wirkungsvollste Reaktion darauf führt uns der Kollege von damals unmittelbar vor - er überhört ihn: "Übungen von Multiplikationen und so weiter, so etwas kann man auch nicht aufgeben?", lautet seine ausweichende Antwort. Oder hat er Steiners Gedankenfigur nur deshalb nicht herausgehört, weil er – von seiner ausschließlich inhaltlichen Ebene aus – dessen Aussage im Kern gar nicht erfassen konnte? "Nur in dieser Form", versucht Steiner denn auch das Thema auf die Ebene des eigentlich erstrebten Wandels zurück zu führen, der mit dem bloßen Wechsel von der Algebra zur Arithmetik vom Kollegen umgangen, nicht aber bewältigt würde. Vergeblich!

Inhalt und Form! Ich würde nicht so umständlich auf diesen zwei Seiten der Vergangenheit herumreiten, wenn sie – vergangen wäre. Doch wirkt sie fort! Wir Lehrer, die wir die Erziehung künftiger Generationen zu verantworten haben, neigen dazu, ihnen anzutun, was einst uns selbst eingeprägt wurde (wer wäre nicht auf dem beschriebenen Holzwege mittels Hausaufgaben zur Pflicht verzogen statt zur Verantwortung geführt worden). Auf der Ebene des alten Adams sind wir Lehrer (zunächst) alle gleich - konservativ. Und fahren auf dem morschen Untersatz des bereits zitierten Schulschlendrians. Richtung Zukunft, wie wir wähnen, ungeachtet des Geistes, der in den Planken nagt und uns, statt des ersehnten Fortkommens, unerwünschten Tiefgang beschert. Wir sollten das Boot umbauen!

"Dann müssten wir auch die Schüler durchplumpsen lassen..."

Doch lese man vor Inangriffnahme der gewünschten Perestroika (6) den eingangs behaupteten Zusammenhang nach zwischen der einen, bereits inspizierten morschen Planke (der Hausaufgabe) und dem ganz großen Leck (dem zum "Sitzenbleiben"). Stuttgart, in der Konferenz vom 9. Dezember 1922. Die Kollegen führen Klage über das, was Steiner als "natürliche" Reaktion der Schüler auf die Hausaufgaben längst prophezeit hatte: sie verleiten dazu nicht gemacht zu werden (7). Und er hatte wiederholt gewarnt vor der damit verbundenen Gefahr einer völligen Demoralisierung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler. (8) Soweit also war man inzwischen gekommen. Jetzt holt Steiner weiter aus und stellt die Hausaufgabe in den Zusammenhang, in den auch wir sie mit weiteren resistenten Resten der Vergangenheit einreihen: "Also ich glaube doch, dass es notwendig ist, dass wir uns immer die Frage stellen, wie müssen wir unter den geänderten Bedingungen arbeiten, wenn man am Ende des Schuljahres ein Drittel durchfallen lässt, während wir sie mitschleppen. Das gibt andere Bedingungen. Wenn wir dann dieselben Maßstäbe anlegen, wenn wir in derselben Weise denken, kommen wir nicht weiter. Dann müssten wir auch die Schüler durchplumpsen lassen. Man kann nicht das eine ohne das andere haben. Auf der anderen Seite muss man auch das bedenken: die Arbeiten, die zuhause gemacht werden, müssen gern gemacht werden. Es muss ein Bedürfnis dazu da sein, dass man es erreicht... Wir müssen es dahin bringen, dass die Kinder ihre Aufgaben gern machen." (9)

Im Kern eine Gegenüberstellung der überkommenen Praxis schulischer Selektion (mit dem Ergebnis des durchfallenden Drittels) auf der einen und den geänderten Bedingungen innerhalb der Waldorfschule (mit ihrer Konsequenz, dass "wir sie mitschleppen") auf der anderen Seite. Entscheidend ist die Forderung, an die neuen Bedingungen nicht die alten Maßstäbe anzulegen. Also: Entweder denken in den alten Strukturen und "durchplumpsen lassen" oder "mitschleppen", dann aber auch umdenken. ("Man kann nicht das eine ohne das andere haben") Was, für die Hausaufgabe, den Wandel dahingehend bedeutete, "dass die Kinder ihre Aufgaben gern machen." Nur eines bitte nicht (sonst "kommen wir nicht weiter"): "mitschleppen" und "dieselben (alten) Maßstäbe anlegen"! Aber: "Es muss ein Bedürfnis dazu da sein, dass man es erreicht." – Und genau das scheint über weite Strecken gefehlt zu haben. Bis heute!

Harte Worte

Nur knapp drei Jahre nach den ersten Schritten der neuen Pädagogik scheint der Schwung, der die Pioniere zunächst getragen hatte, – in weiten Bereichen des schulischen Lebens – gewichen. Die Bemerkungen Steiners zur kritischen Lage in den Unterrichten füllen Seiten der Konferenzaufzeichnungen und kreisen immer wieder um erkennbar wunde Punkte: die Schüler, so heißt es, "gewöhnen sich das Mitarbeiten ab. Die 10. Klasse ist innerlich haltlos geworden. Die waren ganz erledigt." "Ich kann nur glauben, dass immer wiederum die Knaben und Mädchen, sobald sie fünfzehn, sechzehn Jahre alt sind, einfach den Händen der Lehrer entsinken", so Steiner. "Die Klasse schläft in den oberen Klassen." Man kommt (...) aus einem richtigen Fassen der Klasse zum Dozieren." Und dennoch (oder gerade deshalb) tritt ein, dass (...) in den oberen Klassen wirklich die Schüler über den Kopf der Lehrer wachsen. Das ist nun einmal geschehen. Das Eigenleben, das sie dabei entfalten, ist erschreckend. Und ist mit Sicherheit nicht das vom Lehrer ausgehende lebendige. " So fordert Steiner: "Die Lehrer müssen die Schule wieder in die Hand (nehmen)." (15.10.22, S. 148). Doch bleibt das Kollegium "eine schwere Masse". Zwar sind die Grundlagen für eine Wende längst gelegt, doch: "Die Dinge werden links liegen gelassen. Es ist, als ob ich niemals einen Seminarkurs hier gehalten hätte." (15.10.22, S. 155) (10)

In dieser Zeit also fühlt sich das Kollegium zumindest zu einem Teil genötigt, doch wieder auf den Zwang hinzuwirken, und, da er sich praktisch meist nicht erzwingen lässt, inkonsequent zu handeln. Klagen über das Nichtmachen von Hausaufgaben häufen sich. (11) "Das Schlimmste" tritt ein, das "allerschädlichste in der Erziehung, wenn immerfort Aufträge erteilt werden, die nicht ausgeführt werden. Das demoralisiert die Kinder in furchtbarer Weise." (12) So wird die Hausaufgabe zum Bestandteil der Krise. Statt dass viele Einzelne ihre Willenskräfte nach vorn auf die Überwindung der "Lähmung" richten, auf die neue Form für den neuen Geist, greift man zurück auf vermeintlich "Bewährtes", hält daran fest – und stürzt doch ab in die Krise. (13) Der Idealismus trägt nicht, weil er nicht hinunter reicht bis in die tragenden Strukturen. Wie oft wird aus diesem Grund bis heute der neue Wein in alte Schläuche gegossen! (14) Im Falle der Hausaufgaben scheint man seinerzeit den Stoff, den nicht lebendig vermittelbaren, als Pensum den Schülern aufgeladen zu haben. Hausaufgabe als der Griff zur Krücke? Mittels derer die Schüler alleine laufen lernen sollen? Ohne dass die ersten Schritte im Unterricht im gemeinsam verbindenden Interesse gemacht wurden? – "Nicht der Lehrer soll die Erziehung leisten, sondern der Schüler selbst soll sich mittels Hausaufgaben erziehen." (15) Damit dürfte die Illusion umrissen sein, an die Generation von Lehrern bis heute ihren Glauben hängen. Das Es soll es richten, die imaginäre Stimme der Pflicht (16)

Schlendrian Klausur

Freilich ist die Hausaufgabe nur ein Exponent des Schlendrians. Interessant insbesondere deshalb, weil er als Bestandteil des Systems aus Selektion und Berechtigung in einen Zusammenhang gehört, in dem er gewöhnlich nicht gesehen wird. Bis heute bildet die Hausaufgabe den rechtzeitigen Einstieg in das immer rechtzeitiger sich abspulende Pflichtprogramm: - Bitte heute keinen Russischtest, betteln die Kinder aus der Sechsten. Morgen schreiben wir Klassenarbeiten in Franz und Mathe, stöhnen die Neuner (davor); dabei hatten wir keine einzige der Textaufgaben geübt, ärgern sich die Elfer (danach). Und pünktlich vor Beginn des neuen Hauptunterrichts – liegen die Ergebnisse der letzten Epoche auf dem Tisch: sie reichen von 1,2 bis 5,4. Und der Durchschnitt, wendet der Kollege sich beim Verlassen der Klasse noch einmal um: 2,9. Und alle sinds zufrieden. Dass die weitgehend naive Handhabung der Kollektivnorm die Initiative der Schüler an entscheidender Stelle schwächt und wesentlich zum Profilverlust der Oberstufen an Waldorfschulen beiträgt, wird nicht gesehen. - In den 9. bis 12. Klassen um mich herum dreht sich das Karussell aus Stoffvermittlung, Leistungserbringung und Korrektur angesichts der von Jahr zu Jahr bedrohlich näherrückenden Prüfungen mit stetig steigender Geschwindigkeit. In manchen Fächern scheint sich das Unterrichten ganz zwanglos auf folgendes Ritual hin zu verengen: Der Lehrer legt fest, was – aus einem relativ eng umschriebenen Wissensgebiet – als Leistung gilt. Zuvor dargestellt und geübt, gesondert (hoffentlich) von den Schülern gelernt, wird die Leistung, die, auf die es letztlich ankommt, in einer unter besondere Bedingungen gestellten Prüfungssituation erbracht: ihre exakte Formulierung, kurzfristig zuvor kund getan, ist für alle Schüler ausdrücklich dieselbe. Vom Lehrer vorgegebene Aufgaben, auf die der Schüler mit einer schriftlichen Darstellung antwortet; innerhalb eines ehern gesteckten, am "besten" engen Zeitrahmens; bis auf wenige gebilligte sind keine Hilfsmittel legitim, führt die Verwendung unerlaubt weiterer zum zwangsweisen Entzug der Arbeitsunterlagen; wie die Kommunikation und Zusammenarbeit der Schüler: streng untersagt. – Klassenarbeit heißt das beschriebene Arrangement, seine treffendere, religiösen "Quellen" entstammende Bezeichnung ist Klausur. Sie lebt von der Illusion, dass unter ihren asketischen Bedingungen sich – wie für den Mönch die Wahrheit – die "reine" Schülerleistung für den Lehrer erschließt. Lebt sie auch in uns? Praktizieren wir das Ritual nur, weil wir müssen? Weil wir immer rechtzeitiger heranzuführen haben an das, was mit einer gewissen, staatlich gelenkten Zwangsläufigkeit immer früher auf uns zukommt? Und die deutschen Schüler pisaweit zu Spitzenreitern der Reproduktion und Zwergen in der Anwendung ihres Wissens unter realitätsnahen Bedingungen macht. (17) Oder müssen wir nur, weil wir nicht anders können? Weil es uns bislang an der nötigen Phantasie mangelt, eine lebendigere als die rituelle Form denken und handhaben zu lernen? Sind wir am Ende – wie bei den Hausaufgaben vom Pflichtvirus – auch hier von den Wirkungen einer "objektiven Instanz" infiziert? Merkwürdig verwandt kommen Klassenarbeit und Hausaufgabe daher. So ursprünglich streng beider Formen sind, so liberal werden sie gehandhabt. Wer von uns würde denn die Klausur in der Art praktizieren, wie es die zuvor verwendeten tendenziösen Formulierungen suggerieren wollten? Nicht mit der verbissenen Strenge unserer Vorfahren im Zeichen eines Berechtigungswesens ursprünglich preußischer Couleur kommen wir daher. Vielmehr mit unserem guten Willen und in bester Absicht. Und begnügen uns damit, statt hinter die Fassade zu schauen, ihr einen menschlicheren Anstrich zu verleihen. Wir dienen, ob liberal oder penibel in immer demselben vorauseilenden Gehorsam dem "Schlendrian" in einer Schule, die einst angetreten ist, ihm die zeitgemäße Gestalt zu "verpassen".

Auch in ihrer demoralisierenden Wirkung weisen Hausaufgabe und Klausur bedenkliche Parallelen auf. Beide verleiten – zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem – zu zweifelhaften Unterscheidungen. Versperrt der Hausaufgabenballast frühzeitig die Sicht auf das Leben, das zum Freizeitvergnügen aufsteigt, so "eröffnet" die Klausur endlich den Blick in eine "Realität", die in den Rang eines Lebenssurrogates herabsinkt. Statt den Leistungsbegriff in seinen Tiefen mit dem der menschlichen Entwicklung zu versöhnen, "erschöpfen" wir uns an der Oberfläche in der Schaffung falscher Antagonismen. Wie oft höre ich an wie vielen Schulen die Klage darüber, dass sich für Schüler Leistung zuletzt und einzig auf das verengt, was für die Abschlussprüfung zählt, während sie alles, was "Waldorf" ist, spätestens in der Zwölften wie die sprichwörtlich heiße Kartoffel fallen lassen! Und doch dürfte uns dieses Echo nicht verwundern! Haben wir sie doch rechtzeitig die Leistung wie Erbsen zählen gelehrt! Warum also klagen! Die Schüler haben ihre Lektion aus Korrektur und Zensur gelernt. Die Schere in ihrem Kopf aber schneidet nur deshalb so scharf, weil wir die vorgeprägt falschen Perforierungen tradieren.

Alternative "Portfolio"

Die Formen der Leistungserbringung, ihres Nachweises und ihrer Bewertung existieren gegenwärtig an den Waldorfschulen in einem weitgehend unreflektierten Nebeneinander. Relikte des überkommenen Berechtigungswesens machen Front gegen Ansätze, die im Zeichen der Freiheit entwickelt wurden. Die Kunst bestünde darin, beide in ein bewusst geführtes Verhältnis zu bringen und insbesondere an vernachlässigter Stelle phantasievoll Neues entstehen zu lassen. "Wenn man Selbstständigkeit und Mündigkeit als Bildungsziele (sprich: die Erziehung zur Freiheit, Anm. der Verfasser) ernst nimmt und sie auf die Situationen überträgt, in der Schüler nachweisen sollen, was sie gelernt haben, so gelangt man zu anderen Prüfungskonzepten und einem anderen Umgang mit der Leistung insgesamt." In seinem umfassenden Werk entfaltet der Pädagoge Felix Winter vor dem Hintergrund der bestehenden Formen ein großes Spektrum der Alternativen. (18) In Theorie und Praxis führt er ein erweitertes Verständnis von Schülerleistung und ihrer Würdigung vor Augen, das vielfältige Übereinstimmungen mit den Intentionen der Waldorfpädagogik aufweist. (19) Deutlich wird aber auch, wie viel vernachlässigter Boden hier gutzumachen ist. Mit einem Seitenblick auf die Praxis der Waldorfschulen etwa stellt Winter in einem Kapitel so konkret wie analytisch präzise die Jahresarbeit neben die klassische Klausur und eine so genannte dialogisch-reflexive Form der Leistungsbewertung. Zwar darf das vorgestellte Beispiel einer Jahresarbeit als ausgesprochen gelungen bezeichnet werden, dennoch wird signifikant, wo hier der Freiheit der Waldorfschule, um sie in den Rang einer echten Alternative zu erheben, deutlich mehr Gestalt gegeben werden müsste. (20)

Hier soll stellvertretend nur für die Hausaufgabe der Ansatz in Richtung eines Wandels aufgezeigt werden. Dabei lässt sich nahtlos anknüpfen an Gedanken, mit denen Rudolf Steiner einst die Kollegen der ersten Waldorfschule wachzurütteln versuchte. "Individualisieren" hieß seine erste Devise, also nicht die gleiche Aufgabe für alle. "Probleme zu lösen geben, also nicht rein reproduktives seitenlanges Üben", hieß seine zweite. (21) Was für uns hieße, bei den Neigungen und Interessen der Schüler anzusetzen und ihnen dazu zu verhelfen, "die Grenze einer meist als wenig angenehm empfundenen Schularbeit und einer interessanten Freizeitbeschäftigung" aufzuheben. Statt die Freude allmählich in "eine Pflichtgewöhnung" umzumünzen, sollte sie den Ausgangspunkt bilden und als Antrieb in den notwendig folgenden Bemühungen erhalten bleiben. (22) Damit sind Merkmale bezeichnet, die sich im Portfoliokonzept wieder finden, im Prinzip einer Mappe mit ausgewählten Arbeiten, wie man sie aus dem Bereich der Kunst seit langem bereits kennt. Aus dem Lateinischen übersetzt, bedeutet der Name soviel wie "Blätterträger" und bezeichnet damit den Ansatz, die eigenen Leistungen in einer Mappe zu dokumentieren, für andere sichtbar und direkt beurteilbar zu machen. (23)

Für die Hausaufgabe wiederum hieße das in einem ersten Schritt, unumgängliches Üben in den Unterricht selbst zu verlegen (wie Steiner immer gefordert hat), daraus Aufgaben individuellen Charakters zu entwickeln, die, als Schularbeit begonnen, ihre Fortsetzung in der Freizeit und später Eingang in ein Portfolio finden könnten. Fächerübergreifend am besten und verbunden mit einer Präsentation der Ergebnisse und einem Einblick in den zurückgelegten Lernweg. Durch Vorgaben hätte der Lehrer die Möglichkeit, die Inhalte zu steuern. Und könnte doch einen Ausgleich zwischen seinen objektiven Forderungen und der individuellen Interessenslage seiner Schüler herbeiführen. So würde die Pflichtaufgabe alten Stils allmählich in eine individuelle umgemünzt und der Anspruch der Förderung jedes Einzelnen Bestandteil der Methode.

Hat die Hausaufgabe bislang die unangenehme Eigenschaft, sich vor die Freizeitinteressen der Schüler zu schieben und eine Kluft zu vertiefen, die es heute zu überbrücken gilt, so ließe sich mittels Portfolio die Sache auch einmal umdrehen: Leistungen und Lernerfolge, die die Schüler außerhalb des Unterrichts erbringen, könnten erfragt, dokumentiert, gestaltet und als Bestandteil der Jahresmappe präsentiert werden. So entstünde statt des Drucks der Schule auf die Freizeit, ein Sog, der die Freizeit in die Schule hineindrängen ließe.

Die Vielfalt möglicher Einlagen für das Portfolio entspricht der Vielfalt dessen, was an Waldorfschulen geleistet wird. Kognitive, künstlerische, handwerkliche Fächer könnten stärker zueinander finden, die Praktika besser eingebunden werden. Das Buchbinden bildete die Grundlage (für die Mappe), die Kunst (der Gestaltung ihrer Einlagen) stiege auf in den Rang eines fächerübergreifenden und verbindenden Prinzips. Am Ende des Jahres könnten die Mappen ausgestellt, präsentiert, aber auch in Form von Kolloquien die Grundlage einer eigenen Prüfungskultur legen.

Bei aller damit verbundenen Verheißung aber sollte man sich die Arbeit mit Portfolio nicht zu leicht vorstellen oder gar durch inflationären Wortgebrauch das Neue abnutzen, bevor man den Begriff bis in seine Wurzeln hinein erfasst hat. Im Gegenteil ist die Arbeit mit Portfolio hart! Bürstet man doch seinen alten Adam (bzw. die alte Eva) gegen den Strich. Nichts geht mehr wie bisher. Zwar allmählich, doch unerbittlich gerät – in ihrer vollen Länge – die Einbahnstraße in den Blick: Stoffvermittlung, Hausaufgabe, Klassenarbeit, Abschlussprüfung, Formen, derer man sich bislang so selbstverständlich bedient hat, wie sie jetzt fraglich werden. Auch die eigenen: Epochenhefte, Zeugnisse und, wie schon erwähnt, die Jahresarbeit. Nicht genug, wird die Notwendigkeit einer Unterrichtsökonomie objektiv zwingend, die Zusammenarbeit unter den Kollegen sachlich unumgänglich. Und erst die gesellschaftlichen Implikationen! Wenn das Portfolio schließlich zur Bewerbungsmappe würde, mit der Schüler ins Berufsleben starten; wenn es in der Schule gar als Mittel entdeckt würde, die Qualitätsbemühungen auf das eigentlich pädagogische Fundament zu stellen: Möglichkeiten, Unwägbarkeiten allemal, die, hier nur benannt, zukünftig und im Einzelnen aufgezeigt werden sollen. Nur eines stünde mit Beginn der Bemühungen schon fest. Man schüfe nicht nur – mehr als bisher – Ursachen, sich auf die eigenen Schultern zu klopfen, man hätte auch mehr Bündnispartner, mit denen man es gemeinsam tun könnte. Nicht "wir" gegen den Rest der Welt, hieße die Devise, sondern "wir" in Kooperation mit Partnern, die mit uns gemeinsam den archimedischen Hebel suchten. Zur Aufrichtung dessen, was zweifellos in Deutschland keine Attraktion wie in Italien ist, hier aber ebenso schief wie dort steht. Aber das ist eine längere Geschichte und soll ein anderes Mal ausführlicher erzählt werden. (24)

Rüdiger Iwan ist seit 24 Jahren Waldorflehrer und seit fünf Jahren Geschäftsführer der perpetuum novile gemeinnützige Schulprojektgesellschaft.

www.perpetuum-novile.de

1. Eine Formulierung Rudolf Steiners, die er im Zusammenhang unseres Themas gebraucht, s.u. 3.
2. Dietrich Wessel, Hausaufgaben – kein Thema? In Erziehungskunst 9/2002, S. 966 ff.
3. Dass. S. 972, Konferenz vom 9. Dezember 1922
4. Eine Formulierung Rudolf Steiners, dass. S. 972
5. Alle Zitate in diesem Abschnitt, dass. S. 969, 970
6. Perestroika (Umbau) ist zwar schon lange außer Mode; der Begriff weist meiner Meinung nach in die richtige Richtung...
7. Wie 2., S. 968
8. Dass. S. 968, „Das Schlimmste aber ist in der Schule, wenn dasjenige, was der Lehrer haben will, von den Schülern nicht ausgeführt wird."
9. Dass. S.972
10. Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart, Band 2, GA 300b. Die Zitate finden sich jeweils unter den angegebenen Daten.
11. wie.), S. 972, „Ich möchte nicht hart sein, nicht jedesmal muss das mit einem Sturm abgehen, es ist nicht überall die Waldorf-Schulmethodik angewendet. Es wird manchmal in gewöhnlichen Schulschlendrian verfallen. Wo sie angewendet wird, da sind die Resultate da."
12. Dass. S. 969
13. Die Aussagen Rudolf Steiners legen es nahe, dass eine Reihe von Impulsen aus dem Umkreis der anthroposophischen Bewegung im Zuge ihrer Realisierung (und Institutionalisierung) von dieser Lähmung erfasst wurde, vgl. die Konferenz vom 15.10.22, S.154 und 28.10.22, Seite 180,181.
14. Vgl. Rüdiger Iwan, Das Prinzip Kochlöffel in Erziehungskunst November 2002, S. 1199 ff.
15. Wie 2., S.967
16. Dass. S. 973
17. Vgl. Andreas Schleicher, „Die Zukunft schulischen Lernens" in: Erziehungskunst 1/2004, Seite 4.
18. Felix Winter, Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen, Schneider Verlag Hohengehren, 2004
19. Zwischen den Ausführungen von Felix Winter und denen von Andreas Schleicher (s.u.17) existieren zahlreiche Anknüpfungspunkte; die wichtigste Übereinstimmung dürfte in der Rolle liegen, die beide Autoren der Bewertung der Schülerleistung für die Förderung des Lernens zusprechen, dazu Winter insbes. Kapitel 2, Schleicher S. 10;
20. Tatsächlich hat man sich bezüglich der Jahresarbeit bereits auf den Weg gemacht. Nähere Informationen: Franz Glaw, FWS Düsseldorf.
21. Wie 2), S. 971
22. Dass., S.974
23. Vgl. bei Winter, Leistungsbewertung, Das Portfoliokonzept, S. 187; auch Erziehungskunst 3/2002 und Rüdiger Iwan, Ansätze zur Entwicklung einer neuen Oberstufengestalt, Verlag Freies Geistesleben, S. 93 ff.
24. Ein Buch zur Einführung der Arbeit mit Portfolio und ihrem Verhältnis zur Waldorfpädagogik soll im Herbst 2004 erscheinen.


Quelle: Info3 3/2004, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.