Wie funktioniert freies Geistesleben? - Eine Replik III

01.09.1994

Zum Beitrag Wie funktioniert freies Geistesleben? von Christoph Lindenberg in Heft 6/94, S. 486-489

Der Abschnitt, dem meine Bedenken gelten, trägt die Überschrift Führung und Entscheidung. Beides hält Lindenberg in einer Korporation des Geisteslebens für unverzichtar. Mit beidem habe ich zunächst keine Probleme. Schon gar nicht damit, daß Lindenberg auf die unterschiedlichsten Formen der Führung hinweist (Führung durch einzelne, Selbstführung der Gruppen u.a.). Das zeichnet ja eine nicht durch äußere Reglementierung beeinträchtigte Institution aus, daß sie für die verschiedenen Frage- und Problemstellungen die jeweils angemessene Form, also auch die Form der Führung findet. Hilfreich allerdings wäre hier der Hinweis gewesen, daß man sich damit bereits im Bereich des Rechtslebens einer Institution bewegt, im Bereich des durch Absprachen geregelten menschlichen Miteinanders.

Problematischer wird es, wenn Lindenberg die Führungsaufgaben inhaltlich benennt. Hier eilt er in stichwortartiger Beschleunigung an einem für die Praxis entscheidenden Punkt vorüber. Als Aufgaben nennt er u. a.: »Korrektur, Weiterentwicklung, Erneuerung der Aufgabenstellung«.

Nehmen wir einmal die an Waldorfschulen gebräuchliche, zugegeben etwas phantasielose Form der Führung einer Konferenz durch einen einzelnen Leiter und werfen im Anschluß an die Beobachtung der Praxis einen Blick zurück auf das von Lindenberg unterbreitete Stichwort-Angebot. Als Konferenzleiter bieten sich mir prinzipiell zwei Führungsmöglichkeiten, die sich deutlich voneinander unterscheiden und mit unterschiedlicher Gewichtung handhaben lassen. Die erste entsteht dadurch, daß ich meine eigene Auffassung zur Sache weitestgehend zurückhalte und den Gesprächsverlauf aktiv beobachte. Hält er sich innerhalb des vereinbarten Rahmens? War der Rahmen zu eng gesteckt, oder sind die Beiträge zu weitläufig? Muß infolgedessen die Fragestellung erweitert werden, oder müssen die Redner angehalten werden, konzentrierter auf sie einzugehen? Hier also kämen die genannten Stichworte Lindenbergs wie »Korrektur«, »Erneuerung« usw. zum Einsatz.

Die Beobachtung der Verlaufsform eines Gespräches kann es aber auch einmal notwendig erscheinen lassen, ein kräftiges Wort zum Inhalt zu sprechen. Die zweite Führungsmöglichkeit ergibt sich daraus, daß ich eben dies bevorzugt tue, den Akzent also stärker auf den eigenen Beitrag zur Sache selbst verschiebe. Und Lindenbergs ganz auf das impulsierende, produktive Geistesleben ausgerichteter Artikel drängt mich ja förmlich dahin, meine Führung primär im Wettstreit der Meinungen über den bestmöglichen Beitrag zur Sache auszuüben. Auch diesmal werde ich korrigieren (und zwar die Ansicht eines Konferenzteilnehmers - denn die war leider falsch), werde die Aufgabenstellung erneuern (das wird jeder nach meinem notgedrungen etwas längeren Beitrag wohl einsehen) und für Fortschritt sorgen (den werde ich auch erreichen und zwar für mich, von der Gruppe weg).

Die größten Schwierigkeiten bekomme ich, wenn Lindenberg im nächsten Abschnitt »noch ein Wort« zu den notwendigen Entscheidungen sagt. Persönlich hätte mich an dieser Stelle interessiert, wie Lindenberg sich die Übertragung der zuvor benannten Führungsaufgabe auf die entsprechende Persönlichkeit denkt. Darüber schweigt er sich aus. Statt dessen spricht er über Entscheidungen - wie sie etwa in einer Konferenz - häufig anstehen: »Es ist immer gut, wenn Entscheidungen allen Mitarbeitern einsichtig sind oder einsichtig gemacht werden. Aber man darf nie vergessen, daß Entscheidungen inhaltliche Kompetenz erfordern«.

Soweit, so kurz! die Gedanken sind ausgesprochen allgemeiner Natur. Allerdings zeichnet sich ein Gegensatz ab zwischen einer eher demokratischen Breitenwirkung (»ist immer gut, wenn Entscheidungen allen ... «) und einer eher geistigen Tiefenwirkung (»Kompetenz«). Hinweise, wie Formen qualifizierter Entscheidung aussehen könnten, unterbleiben.

Jeder verantwortliche Mitarbeiter einer Korporation des Geisteslebens aber hat heute ein Interesse an der Erarbeitung und Feststellung bindenden Rechts. Ohne gültige (und phantasievolle!) Verfahren wird dieses Interesse abgelähmt und bleibt Verantwortung ein Abstraktum. Mit ihrer Entwicklung bewegen wir uns im Bereich demokratischen Vorgehens, genauer gesagt, im Bereich eines von außen nicht reglementierten, aber von innen gestalteten Rechtslebens. Hier könnte man sich auf institutioneller Ebene in tätiger Glasnost üben und damit eine Chance ergreifen, die die parlamentarische Demokratie selbst dem einzelnen Abgeordneten heute versagt: nämlich Beschlüsse aus Einsicht und Kompetenz zu fassen (ein Abgeordneter ist wegen der Überfülle der Gesetze in 99 Prozent der Fälle dazu gerade nicht in der Lage). Hier könnte ein neuer prozessualer Demokratie-Begriff (in unserer Zeit so notwendig wie nie zuvor!) wachsen. Statt dieser Erweiterung begegnen wir bei Lindenberg seiner Verkürzung, seiner Reduktion auf die Abstimmung selbst und dem Stereotyp eines Schreckgespenstes demokratischer Entscheidungen in geistigen Fragen: »Wo man in geistigen Fragen zu demokratischen Entscheidungen übergeht, drohen immer die Gefahren der Stagnation und einer Diktatur der Mittelmäßigkeit«.

Ich kann den behandelten Abschnitt auch folgendermaßen lesen und befürchte fast, damit keiner eigenen Lesart aufzusitzen: - Es ist immer gut, wenn Entscheidungen einsichtig gemacht werden können (aber leider nicht immer möglich?!).
- Entscheidungen erfordern Kompetenz (und die ist nur bei wenigen?!).
- Demokratie ist Diktatur der Mittelmäßigkeit (alle wollen über alles entscheiden, und keiner weiß mehr über etwas Bescheid!).
- Also behalten wir die Entscheidung einer kleinen kompetenten (selbsternannten?) Führungsgruppe vor?

[Die Zuschrift wurde von der Redaktion gekürzt.]


Quelle: Die Drei, 9/94, S.722-724