Ein Weg zur alternativen Weltwirtschaftsordnung - Die soziale Dreigliederung

01.03.2004

Ein begriffliches Instrumentarium zur Analyse der Weltwirtschaft, das zwar 85 Jahre alt ist, aber immer noch relativ unbekannt, ist die so genannte "Dreigliederung des sozialen Organismus" von Rudolf Steiner. (Etliche attac-Teilnehmer gehen ausgesprochen oder unausgesprochen von diesem Ansatz aus). Hier können nur einzelne, für die Globalisierung relevante Aspekte angeführt werden.

Laut Steiner haben wir seit ca. 1900 eine Weltwirtschaft. Diese ist ein geschlossenes System, das in sich ins Gleichgewicht kommen muss, das heißt Produktion und Konsumtion müssen sich die Waage halten. Durch die stetigen Produktivitätsfortschritte hat es aber in den hundert Jahren eine kontinuierliche Produktionssteigerung gegeben, ohne dass eine entsprechend große Konsumtionsmöglichkeit geschaffen worden ist.

Ein wirkliches Gleichgewicht im System haben wir seit 1900 noch nie gehabt; immer gab es ein übermächtiges produzierendes Gebiet, das ein anderes Gebiet als Absatzmarkt in Abhängigkeit gehalten hat: früher die Kolonialmächte mit den von ihnen abhängigen Kolonien (z.B. Großbritannien und Indien); heute die industrialisierte westliche Welt und die unterdrückte Dritte Welt.

Die Globalisierung hat diesen Zustand nur außerordentlich verschärft.

Im geschlossenen System muss der Ausgleich gefunden werden: es muss eine Konsumtionsmöglichkeit für die Produkte des (an sich positiven) rasanten Produktivitätsfortschritts gefunden werden.

Das kann die Wirtschaft allein nicht aus sich heraus finden, es muss von einem anderen Gebiet der Gesellschaft kommen.

Der "soziale Organismus", laut Steiner, setzt sich aus drei Funktionen zusammen: Wirtschaftsleben: "Kreislauf der Waren"; Geistesleben: Bildung und Einsatz der individuellen Fähigkeiten der Menschen; Rechtsleben: Regelung des "rein menschlichen" Verhältnisses der Menschen untereinander. Für das erste gilt das Ziel der "Brüderlichkeit" (=Sozialismus); für das zweite die "Freiheit", für das dritte die "Gleichheit" (=Demokratie). Der gesunde soziale Organismus muss heute jedem dieser Gebiete eine Souveränität, wie einem souveränen Staat, zugestehen, damit die Funktionen sich nicht gegenseitig korrumpieren. Ein weltweites Rechtsleben, zum Schutz der Umwelt, beispielsweise, kann nicht von Parlamenten kommen, die vom wirtschaftlichen Lobbyismus beherrscht werden. Die Instanz, die heute ein solches weltweites Rechtsleben durchsetzt, ist zum Beispiel Greenpeace (oder auch attac!), welche das Rechtsempfinden der Menschen zur Geltung verhilft. Sie haben aber nicht die formale Legitimation dazu! Sie müssen stattdessen auch lobbyistisch vorgehen, haben aber Erfolg, weil sie dem echten Rechtsgefühl der Menschen entsprechen.

Das gesellschaftliche Gebiet, das als Konsumpol das Gegengewicht zum wuchernden (ständig wachsenden) Produktionspol bilden kann, ist das Geistesleben. Dieses ist ein reiner Konsument (produziert keine Waren), ohne "nutzlos" zu sein; im Gegenteil, in die Zukunft hinein ist das Geistesleben am allerproduktivsten, durch die Erziehung der nächsten Generation, durch die Bereitstellung aller wirtschaftlichen Erfindungen, u.v.a.m. Das Geistesleben ist aber außerordentlich verkümmert, dominiert vom Wirtschaftsleben oder Rechtsleben (Staat); es muss befreit werden, das heißt auch finanziert werden, um konsumieren zu können. Eine gesellschaftliche Betrachtungsweise, die das einsieht, kann soziale Gestaltungen vornehmen, welche das ermöglichen, und zwar nicht durch Steuern oder "wohltätiges Mäzenatentum". Eine Dynamisierung des Geldsystems ist möglich, wodurch Wert "in das Geistesleben hinein" vernichtet wird; dazu gibt es Vorschläge von Steiner.

Jeder, der von der Arbeitsfron "freigestellt" wird, muss nicht "arbeitslos" werden; im ständig wachsenden (weil finanzierbaren) Gebiet des Geisteslebens kann er eine sinnvolle Betätigung suchen. Die Bedürfnisse sind da nie gesättigt!

Wenn durch diese rein konsumierende Instanz die Produktionsexplosion aufgefangen und ins Gleichgewicht gebracht worden ist, wird die Erste Welt es nicht mehr nötig haben, die Dritte Welt und Osteuropa als "captive markets" abhängig zu halten und als mehr oder weniger reine Absatzgebiete zu missbrauchen. Der Dritten Welt wird man erlauben können, ein ihrem Niveau entsprechendes Wirtschaftsleben zu entwickeln. (siehe z.B. Small is Beautiful, E.F. Schumacher, Abacus Books, London, 1974).

Dem überbordenden Wirtschaftsleben muss von einem erstarkten Rechtsleben Grenzen gesetzt werden. Alle Bodenrente führt zu Wertsteigerungen, die irreal sind, weil der Boden nicht verbessert wird - er wird nur knapp! Dieses Kapital fehlt dem produktiven Geistesleben. Auf ewig festgeschriebene Eigentumsrechte an den Produktionsmitteln (Aktien) führen ebenfalls zu irrealen Wertsteigerungen: alles, was leistungsloses Einkommen ermöglicht, ist unsozial und krankmachend für den sozialen Organismus (außer, wo eine Not vorliegt: Kranke, Alte, Kinder, etc.).

Durchgreifende rechtliche Verbesserungen, beispielsweise in diesen Bereichen, können zu einer Selbstheilung des Wirtschaftslebens führen. Damit wäre ein echter Sozialismus verwirklicht, der durch Wahrung der Souveränität des Geisteslebens den Fehler vermeiden würde, dem Individuum in der Gesellschaft Gewalt anzutun.

Die WTO ist eine Einrichtung, die weltweites Rechtsleben institutionalisiert, aber auf der Basis eines unsozialen Rechtssystems der Wirtschaft, das einseitig private Profitmaximierung auf Kosten der Allgemeinheit ermöglicht. Wenn wir die Axt an die Wurzel dieses unsozialen Wirtschaftsrechts ansetzen, können wir ein System schaffen, das sich in menschengemäßer Weise selbst reguliert, ohne dirigistische Maßnahmen zu benötigen.

Im Sinne der "Dreigliederung" ist der soziale Organismus dann gesund, wenn die drei Systeme Wirtschaftsleben, Geistesleben und Rechtsleben, wie bei der Gewaltenteilung, im Gleichgewicht sind und sich gegenseitig die Waage halten. Es gibt eine Entsprechung im menschlichen Organismus, der durch das Gleichgewicht zwischen Nerven/Sinnessystem, Stoffwechsel/Gliedmaßensystem und Atmungs/Blutkreislaufsystem erhalten wird.

Literatur

Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft, Gesamtausgabe Nr. 23, Dornach/Schweiz, 1976.
Rudolf Steiner, Nationalökonomischer Kurs, Gesamtausgabe Nr. 340.
Hans Georg Schweppenhäuser, Das soziale Rätsel, Verlag am Goetheanum, Dornach/Schweiz, 1985.
Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, Hg. Initiative "Netzwerk Dreigliederung", Red. Dr. Christoph Strawe, Haußmannstr. 44a, D-70188 Stuttgart. Erscheint vierteljährlich.

Nicholas Dodwell-Humpert
Attac-Karlsruhe, AG "Hintergründe der Wirtschaft".