Warum wurde Hartz IV zum Fiasko?

01.05.2005

Eine Vokabel beherrscht die Debatte um Arbeitslosigkeit in Deutschland: "Hartz IV". Was bedeutet sie? Die Hartz Reformen I – IV sind benannt nach dem VW-Personalvorstand Peter Hartz, der im Auftrag der deutschen Bundesregierung Konzepte für Reformen am Arbeitsmarkt entwickelt hat. Diese Reformen sind Teil eines Gesamtkonzepts der gegenwärtigen Regierung, der "Agenda 2010", die bis zum Jahr 2010 den "Standort Deutschland" fit machen soll für die weltweite Konkurrenz unter den Bedingungen der Globalisierung.
Ohne zu sehr in die Details zu gehen, seien die Leitgedanken der Hartz IV Reform skizziert: Es geht darum, mehr Menschen in Arbeit zu vermitteln. Zu diesem Zweck sollen erwerbsfähige Langzeitarbeitslose eine gekürzte Unterstützung bekommen, das sogenannte "Arbeitslosengeld II". Die Zumutbarkeitskriterien, die das Ablehnen einer angebotenen Arbeitsstelle erlauben, werden abgesenkt; das bedeutet auch, dass die Ausweitung der "Billigjobs" ermöglicht wird. Und das eigene Vermögen des Arbeitslosen wird stärker angerechnet bei der Festsetzung der Höhe der staatlichen Unterstützung.
Die Arbeitslosen werden also finanziell schlechter gestellt, um sie anzuregen, sich intensiver um neue Arbeit zu bemühen: ihnen wird sozusagen "Feuer unterm Hintern" gemacht.
Bei den sogenannten "Ein-Euro-Jobs" wird Langzeitarbeitslosen, die dem Arbeitsprozess entwöhnt sind, ein Anreiz geboten, in eine geregelte Tätigkeit einzusteigen, die sie "an den Arbeitsmarkt zurückführen" soll.
Es sind alles edle Motive, die zu diesen Maßnahmen geführt haben; der Wille zur Reform ist da. Sie läßt allerdings die Grundbedingungen des heutigen neo-liberalen Wirtschaftens unangetastet; es ist daher die Frage, ob diese Maßnahmen wirklich weiterführen. Sie haben ja bis jetzt noch nicht einmal die Arbeitslosenzahl in Deutschland gesenkt; diese ist, im Gegenteil, unmittelbar nach Einführung von Hartz IV auf über fünf Millionen geklettert.

Hartz IV, dieser Maßnahmenkatalog der Wirtschafts-"praktiker": wo ist er gelandet, fünf Monate nach seiner Inaugurierung? Auf dem Kehrichthaufen der Geschichte! Wirkung verpufft, bzw. alles noch schlimmer gemacht; die deutsche Arbeitslosenstatistik ist gestiegen, eher möchte man verschämt verschweigen, dass man da überhaupt etwas gewollt hat - denn es ist das Gegenteil dessen eingetreten, was die "Macher" erwartet haben! Sowohl in der Regierung wie in der Opposition wie in der "Wirtschaft". Jetzt versucht man mit einem Konjunkturprogramm, den Schaden zu begrenzen. Das kaschiert aber nicht, dass die "Macher" mit ihrem Latein am Ende sind - schon lange!

Manchmal kann ein Bild aus einem Märchen eine Situation am griffigsten darstellen: wir sind in einer Lage wie bei "des Kaisers neue Kleider". Die Geschichte von Hans Christian Andersen ist vielleicht den meisten bekannt: der Kaiser, von Höflingen und Schneidern umschmeichelt, promeniert vor seinem Volk, sich aufs prunkvollste gekleidet wähnend. Jeder in seiner Umgebung bewundert ihn, weil er nicht zugeben will, dass er die Kleider gar nicht sieht! Es bleibt dem kleinen Kind überlassen, auszurufen: "Seht hin! Der Kaiser ist ja nackt!"

Spielen wir die Rolle dieses Kindes: denn genauso verhält es sich mit der neoliberalen "Lösungs"-strategie für die deutschen Wirtschaftsprobleme. Offiziell wird angestrebt: mehr Wirtschaftswachstum! Das bringe den Unternehmen mehr Gewinn, lasse sie ebenfalls wachsen: sie würden mehr Menschen anstellen, und die Arbeitslosigkeit würde sinken.

Bloß geschieht es so nicht. Ein deutliches Beispiel in letzter Zeit war die Deutsche Bank, die trotz großer Gewinne Arbeitsstellen abbaute: um mit der Rendite noch besser dazustehen! Dieser "Mechanismus" funktioniert also schon lange nicht mehr: Wirtschaftswachstum verleitet heute typischerweise dazu, Stellen abzubauen, nicht neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Außerdem: wie soll die Wirtschaft wachsen, wenn immer weniger Menschen in der Lage sind, die Produkte zu kaufen? Damit wird auf den anderen Wirklichkeitsfaktor der Wirtschaft in Deutschland hingedeutet.

Die Hochleistungswirtschaften der westlichen Industrieländer sind heute in der Lage, die Bedürfnisse der Menschen alle mit Leichtigkeit zu befriedigen. Gerade die jährlich fortschreitende Produktivitätssteigerung - auch "Rationalisierung" genannt - führt aber dazu, dass immer weniger Menschen in der wirtschaftlichen Produktion gebraucht werden, und "arbeitslos" werden. Was heißt "Arbeitslosigkeit"? Das heißt, ein Mensch macht (oder hat) nicht eine Arbeit, für die er bezahlt wird. Arbeitslose machen vielleicht durchaus manchmal sinnvolle Arbeit (das prüft niemand nach); bloß bekommen sie kein Geld dafür.

Dabei gibt es viele Arbeiten, die heute nötig wären: man denke nur an den Zustand des Bildungswesens; an das, was nötig wäre, um "schwierigen" Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden; an die Versorgung der älteren Generation, an den Zustand von Kunst und Wissenschaft, an die überfüllten Universitäten, etc. Demgegenüber sind neue Computer, Autos und Unterhaltungselektronik nicht das, was wir am dringendsten brauchen; ständig wechselnde Kleidermoden dienen auch zu einem guten Teil dazu, von unbefriedigenden Lebenssituationen abzulenken: drohende Arbeitslosigkeit etwa, oder Sinnkrisen bei Jugendlichen: "Ich werde nicht gebraucht".

An dieser Stelle, bei diesem Dilemma setzt Rudolf Steiners Analyse des Sozialen ein - auch noch nach hundert Jahren! Sein Vortragszyklus Nationalökonomischer Kurs von 1922 enthält Ausführungen, die derart radikal sind, dass sie heute als unumstößlich geltende Lehrsätze hinwegfegen, wie ein Kartenhaus; seine Analyse schneidet, wie man auf englisch sagt, "like a hot knife through butter": wie ein heißes Messer durch die Butter. Wollen wir sie ein wenig anschauen.

Zur Wirtschaftswissenschaft im engeren Sinne gibt es leider von Steiner nur die 14 Vorträge dieses Zyklus; zu mehr hatte er damals nicht die Zeit, bzw. ist von seiner Umgebung dazu nicht befragt worden. Das Allgemeine hat er oft ausgeführt im Rahmen der allgemeinen "Dreigliederung des sozialen Organismus": das Wirtschaftleben ist ein Zentralproblem des Sozialen heute, weil es wächst und wuchert, wie ein Krebsgeschwür; es überwuchert die beiden anderen Gebiete des Sozialen, das Rechtsleben und das Geistesleben. Diese beiden müssen gestärkt werden, um das Wirtschaftsleben einzudämmen und auf eine gesunde Grundlage zu stellen.

Es ist oft schwierig, von diesen allgemeinen Aussagen den Übergang zur konkreten Durchdringung der Gegenwartsphänomene, und zu Massnahmen zu finden. Ein "Grund"-Satz der Steinerschen Analyse des Wirtschaftslebens, der weiterhelfen kann, weil er Hartz IV und die Arbeitslosigkeit betrifft, lautet: "Man kann Arbeit nicht kaufen!" Dazu aus dem 7. Vortrag des Nationalökonomischen Kurs:

Sehen wir uns einmal dasjenige an, wovon gerade in der Gegenwart am allermeisten gesprochen wird, und durch das eigentlich am meisten Irrtümer in die Volkswirtschaftswissenschaft kommen. Man spricht von Lohn und benennt wohl den Lohn auch so, daß der Lohn aussieht wie der Preis für die Arbeit. Man sagt, wenn man einem sogenannten Lohnarbeiter mehr bezahlen muß, die Arbeit sei teurer geworden; wenn man einem sogenannten Lohnarbeiter weniger bezahlen muß, sagt man, die Arbeit sei billiger geworden; spricht also tatsächlich, wie wenn eine Art Kauf stattfinden würde zwischen dem Lohnarbeiter, der seine Arbeit verkauft, und demjenigen, der ihm diese Arbeit abkauft. Aber dieses ist nur ein fingierter Kauf. Das ist gar kein Kauf, der in der Tat stattfindet. […] Was in Wirklichkeit geschieht, ist dieses: daß auch im Arbeits- oder Lohnverhältnis Werte ausgetauscht werden. Der Arbeiter erzeugt unmittelbar etwas, der Arbeiter liefert ein Erzeugnis; und dieses Erzeugnis kauft ihm in Wirklichkeit der Unternehmer ab. (S. 96-98) 1)

Im Grunde genommen ist es also falsch, von einem Arbeits"markt" zu sprechen, weil Arbeit im eigentlichen Sinne nicht gekauft werden kann. Nun - was bedeutet das für das Problem der Arbeitslosigkeit? Wie schafft man hier einen Übergang zu einem Lösungsansatz?

Zunächst die Frage: Warum kann man "Arbeit nicht kaufen"? Der eine Grund ist, dass Arbeit als "bloßes Tätigsein" keine Bemessungsgrundlage enthält, um ihr einen Wert zuzuschreiben. Wenn ich auf dem Heimtrainer im Wohnzimmer vor mich hin strample, mag ich vielleicht sehr viel arbeiten; diese Arbeit erzeugt aber keinen wirtschaftlichen Wert! Ich kann nur Ergebnisse der Arbeit bewerten.

Der andere Grund ist, dass dieser "Kauf" von Arbeit dem tieferen Wesen des Menschen elementar zuwiderläuft; und wenn man sich gegen dieses Wesen mit sozialen Einrichtungen "versündigt", schafft man am allermeisten soziales Konfliktpotential. Dieses Potential "rumort" zwar unterhalb der Schwelle des Bewußtseins, und bricht sich vor allem in Gefühlen der sozialen Unzufriedenheit Bahn; das Problem ist deswegen aber umso hartnäckiger 2).

Man kann Arbeit nicht kaufen, weil Arbeit immer den Einsatz des menschlichen Willens bedeutet. Der menschliche Wille ist zur Freiheit veranlagt; das heißt, dass jeder Mensch eigentlich von sich aus tätig sein möchte, und nicht zur Tätigkeit von außen gezwungen werden. (An jedem Erstklässler, der in die Schule kommt, kann man dieses Phänomen beobachten - da sind die Menschen noch unverbildet!). Jede soziale Einrichtung, die so tut, als ob man Arbeit kaufen würde - das heißt, dass der Mensch nicht arbeiten würde, wenn er nicht eine "Belohnung" dafür bekäme - stellt - unbewußt - eine tiefe Beleidigung dieses Willenskerns des Menschen dar. Steiner drückt es mal drastisch aus: "Man kann vom Menschen nicht verlangen, daß er seinen himmlischen Anteil verkaufe!" Und das ist, sagt er, eine Hauptquelle sozialer Unzufriedenheit.

"Abschaffung der Lohnsklaverei!" Das war einmal eine Forderung der sozialistischen Bewegung. Das haben die Sozialdemokraten heute vergessen. 1918 erkannte Steiner diese Forderung als berechtigt an; nur werde sie "nicht tief genug verstanden".

Was ist die Folge der Koppelung von Arbeit und Einkommen im heutigen Arbeits"markt"? Das Kardinalproblem der Wirtschaft heute ist nicht, Waren produzieren und Dienstleistungen bereitstellen zu können; das Problem ist, diese konsumieren, in Anspruch nehmen zu können! Zu vielen Menschen fehlt das Einkommen dazu. Das Einkommen ist, unter den heutigen Verhältnissen, an die wirtschaftliche Arbeit gekoppelt; diese Arbeit wird immer weniger nötig; die Menschen können immer weniger nachfragen; der Absatz geht zurück. Wir haben eine Krise der Überproduktion, die eigentlich eine Krise der "Unterkonsumtion" ist.

Steiners Forderung ist: Arbeit und Einkommen entkoppeln. Ist das unrealistisch? Idealistisch?

Was ist denn überhaupt "realistisch" im Wirtschaftsleben? Was passiert da wirklich?

Steiner gibt seine eigene, ganz klare Analyse dessen, was im menschlichen Wirtschaftsleben abläuft. Zu diesem Leben gehören "Warenproduktion, Warenverteilung und Warenkonsum"; sonst nichts. Das heißt, alles, was zum Wirtschaftsleben gehört, kann ge- und verkauft werden: das dürfen aber nur Waren sein. "Ware" ist, in Steiners "menschengemäßer" Definition, ein von menschlicher Arbeit verändertes Stück Natur; alles andere ist nicht Ware, oder darf nicht dazu gemacht werden. Ein Mensch, der eine Ware herstellt, bekommt nicht seine Arbeit bezahlt, sondern er bekommt einen Anteil von dem Preis, den die Ware erzielt; weil er zu dieser Wertsteigerung beigetragen hat.

Das ist der einzige Fall, wo im Zusammenhang mit menschlichem Einkommen etwas bezahlt (gekauft) wird. Die allermeisten arbeitenden Menschen stellen aber heute keine Waren mehr her. Tendenziell wird die Warenherstellung immer mehr von Maschinen übernommen. Diese vielen anderen arbeitenden Menschen bekommen ein Einkommen, ohne dass ihnen Waren abgekauft worden sind. Einen solchen Geldfluss nennt Steiner: "Schenkungsgeld". Das hat überhaupt keine moralische, sondern eine rein wirtschaftliche Bedeutung: Geld fließt, ohne Gegenfluss von Waren.

Die Arbeit, welche diesen Geldfluss (Einkommen) veranlasst, muss ja trotzdem einen Wert erzeugen; es wird aber nicht die Arbeit selbst bezahlt; sondern es wird der Arbeitende in die Lage versetzt, weiter zu leben, so das er diese seine wertschaffende Tätigkeit weiterhin ausüben kann.

Das ist der feine, aber entscheidende Unterschied zwischen Arbeit "bezahlen" und nicht bezahlen.

Wie gesagt, die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung ist heute auf diese Weise tätig. Dazu gehören, um zunächst einige Felder zu nennen, die der Warenproduktion noch relativ nahe sind: das Transportwesen; die Organisation eines Betriebes, wie "Lohn"buchhaltung, Rohstoffeinkauf, Vertrieb und Marketing; Managertätigkeiten; Unternehmensberater, etc. etc. In Steiner’scher Diktion: "auf das Wirtschaftsleben gerichtetes, "halbfreies" Geistesleben". Dieses Geistesleben ist aber gleicher Art wie das restliche Geistesleben, wozu z.B. gehören: das Gesundheitswesen, das Bildungswesen, die Forschung, sowohl Grundlagenforschung wie angewandte, die Kunst, die Religion, die Freizeitindustrie.

Das Gestaltungsprinzip der "Freiheit" für das Geistesleben bedeutet sowohl die Freiheit der Initiative, wie auch die Freiheit, das Angebotene anzunehmen (und ihm dadurch einen Wert zu verleihen) - oder auch abzulehnen. Eine Schule lebt von der pädagogischen Freiheit der Lehrer; sie hat aber nur eine Existenzberechtigung, wenn es Eltern gibt, die ihre Kinder diesen Lehrern anvertrauen wollen. Wenn das der Fall ist, wird sie auch bezahlt werden.

Alle Menschen, die im Geistesleben arbeiten, leben von Schenkungsgeld.

Eine Volkswirtschaft kann nicht ohne Schenkungsgeld funktionieren. Dazu Steiner:

Wir haben uns nun klargemacht, wie die Gesamtvolkswirtschaft so verläuft, daß als treibenden Faktoren, als bewegende Faktoren drinnen sind: Kauf, beziehungsweise Verkauf, Leihung und Schenkung. Wir müssen uns schon klar sein darüber, daß ohne dieses Ineinanderspielen von Leihen, Schenken, Kaufen eine Volkswirtschaft nicht bestehen kann. Was also im Volkswirtschaftlichen die Werte […] erzeugt, was also zu der Preisbildung führt, das wird hervorgehen aus diesen drei Faktoren, aus Kauf, Schenkung, Leihung. Es handelt sich nur darum, wie diese drei Faktoren drinnen in der Preisbildung spielen. Denn, erst wenn wir einsehen, wie diese Faktoren in der Preisbildung spielen, werden wir zu einer Art Formulierung des Preisproblems kommen können. (S. 96, Nationalökonomischer Kurs)

"Schenken" ist also lebensnotwendig für jede Volkswirtschaft. (Was sagen wohl die Neoliberalen dazu?!) Allerdings ist Schenken nicht immer so "nett". Es gibt auch "Zwangsschenkungen": alle Steuern sind zum Beispiel Zwangsschenkungen. Und wenn ein Großgrundbesitzer die von ihm abhängigen Arbeitenden zwingt, ihre Produkte zu billig abzugeben, beinhaltet das ebenfalls eine Zwangsschenkung. Aber auch alle Ausgaben für Kinder, Alte, Kranke und sonst nicht Leistungsfähige sind Schenkungen.

Wovon leben wir? Wie wird das Leben eines Einzelnen erhalten? Real betrachtet: niemand arbeitet für sich; das Ergebnis seiner Arbeit geht fast vollständig an Andere. Es geht in das allgemeine weltweite Wirtschaftsleben ein. Und das eigene Leben wird von Erzeugnissen dieses weltwirtschaftlichen Gesamtorganismus erhalten; man kann den Ursprung nicht auf bestimmte Menschen zurückverfolgen.

Unsere Erwartung ist: jeder, der kann, soll zu diesem weltwirtschaftlichen Prozess beitragen; es soll keine "Schmarotzer" geben, die ohne eigenen Beitrag auf Kosten der Anderen leben. Aber: es ist umso weniger Menschenarbeit nötig, wie es - zunehmend im Laufe der neueren Geschichte - "Arbeitsteilung" gibt. Zu dieser Arbeitsteilung zählt, im Sinne Steiners: die Mechanisierung, die Elektrifizierung, die Rationalisierung, und heute die IT-Revolution. Sie alle sparen Menschenarbeit ein, machen das Wirtschaftsleben effizienter. Und: der Ursprung dieser Wertsteigerung ist immer das Geistesleben! Durch Erfindungen, neue Ideen, effizientere Organisation, etc.

Da zeigt sich der "organische" Zusammenhang: je mehr Arbeitsersparnis durch das Geistesleben, desto mehr Schenkungsgeld muss in das Geistesleben fließen: um die zusätzlich angebotenen Güter und Dienstleistungen nachfragen zu können. Hier muss immer ein organisches Gleichgewicht herrschen! Das heißt, die Menschen, die vom Produktionsprozess "freigesetzt" werden, müssen in die Lage versetzt werden, diese Produkte konsumieren zu können. Sie erhalten ein neues Einkommen, wenn sie im Geistesleben tätig werden können. Dazu muss aber das Geistesleben entsprechend seiner wertschöpfenden Tätigkeit finanziert werden; und das geschieht heute fast gar nicht. Das wären aber die Einkommen der heutigen sogenannten "Arbeitslosen".

(Steiner gibt auch ein gesamtgesellschaftliches Mass an für diese Finanzierung des Geisteslebens: jeder Einsatz von Leihgeld, der erfolgreich mit Zins zurückgezahlt wird (Investition), ist Ausdruck dafür, dass Geist wertsteigernd in das Wirtschaftsleben eingegriffen hat; deswegen ist es gerechtfertigt, dass das Geistesleben wiederum Schenkungsgeld in dieser Höhe erhält; um in die Zukunft hinein weiterhin produktiv sein zu können. Das übersteigt natürlich bei Weitem die Summe, die der Staat an Steuergeldern sich mühsam abringt, beziehungsweise private Mäzene meinen erübrigen zu können.)

Die Koppelung von wirtschaftlicher Arbeit und Einkommen führt zu dem Problem der "Arbeitslosigkeit" und der wachsenden Armut; die "Trennung von Arbeit und Einkommen", beziehungsweise die Nichtbezahlbarkeit der Arbeit, eine Grundforderung Steiners für eine menschengemäße Gesellschaft, führt aus ihm hinaus. Nicht nur wird eine solche Gesellschaft dem Menschen heute gerecht; sie überwindet auch die rein wirtschaftlichen Probleme, die wir mit der durch das System produzierten "Arbeitslosigkeit" haben.

Es sind verschiedene Lösungsmöglichkeiten vorstellbar, an die auch schon gedacht wird: zum Beispiel wird verschiedentlich vorgeschlagen ein Grundeinkommen für jedermann 3); nicht als "Almosen" der Gesellschaft, sondern als Grundlage eines "Rechts auf Leben". Damit würde jedem die "Existenzangst" genommen, ob er seinen Lebensunterhalt "bestreiten" kann; er bekommt Raum für eine freie, selbstbestimmte Tätigkeit.

Es soll nicht geleugnet werden, dass viele Menschen auch einen Anreiz zum Arbeiten benötigen; bei entsprechend geringem Grundeinkommen könnte die Ergänzung durch das Einkommen, das eine wertbildende Tätigkeit erzielt, einen solchen Anreiz darstellen.

Bei Steiner allerdings wird die grundlegende Verteilungsproblematik der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung dadurch gelöst, dass die von ihm vorgeschlagenen Institutionen des Wirtschaftslebens - die Assoziationen - die Einkommensverteilung in Bezug auf alle ihre Mitglieder vornehmen.

Die Einheitlichkeit von Steiners Sozialimpuls fällt einem ins Auge, wenn man an seine erste größere Äußerung zur sozialen Frage denkt, an die drei Aufsätze Geisteswissenschaft und soziale Frage, die vor genau hundert Jahren erschienen sind. Der Gipfelpunkt dieser Aufsatzreihe, das soziale Hauptgesetz, geht vollkommen konform mit diesen Ausführungen aus dem Nationalökonomischem Kurs von 1922:

Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.

[…] Worauf es also ankommt, das ist, daß für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen zu erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien. 4)

Diese erste Formulierung des Gesetzes ist ganz allgemein gehalten, und klingt vielleicht sehr "idealistisch": Wie wäre es umzusetzen? Den ersten Schritt der Konkretisierung stellt Steiner selbst im Nationalökonomischen Kurs dar: Arbeit kann nicht gekauft werden. Die weiteren Schritte, und den Bezug zu den Menschheitsproblemen heute, müssen wir selber in kongenialer Fortführung leisten. Es wird hoffentlich klar, dass Schritte in diese Richtung das Allerpraktischste sind, das wir heute tun können. Nur eine Gesellschaftsgestaltung, die das Wesen des Menschen ernstnimmt, kann auf Dauer auf die Zustimmung der Menschen hoffen. Gleichzeitig wird sie die Schieflagen, die eine nicht menschengemäße Wirtschaftsgestaltung herbeigeführt hat, auf richtige Weise bekämpfen.

Nachwort

Im Kontext von Hartz IV thematisiert dieser Artikel nur die Nichtbezahlbarkeit von Arbeit. Eine umfassende Gesundung des Wirtschaftslebens muss auch Weiteres fordern: auch die zwei anderen Produktionsfaktoren, die Natur und das Kapital, müssen der Käuflichkeit entzogen werden, das heißt, sie dürfen nicht wie Waren behandelt werden.

Die Erde, die Natur, ist keine Ware; sie gehört, wenn überhaupt jemandem, der gesamten Menschheit. "Our world is not for sale!" Das Verfügungsrecht über ein Stück Erde, und seine Schätze, darf nicht käuflich erworben, "privatisiert" werden, sondern muss - widerrufbar! - von der Allgemeinheit zugeteilt werden; und zwar kostenlos.

Die Produktionsmittel - im herkömmlichen Sinn "Kapital" genannt - die Basis des modernen Wirtschaftslebens, dürfen ebenfalls nicht durch Kauf privatisiert werden. Einerseits müssen sie zum Wohle der Allgemeinheit betrieben werden; andererseits müssen sie in die Verfügbarkeit der Fähigen gelangen, damit sie so betrieben werden können. Hans Georg Schweppenhäuser (1898 - 1983), der anthroposophische Sozialforscher, hat im Anschluß an Rudolf Steiner ein gegliedertes Eigentumsrecht erarbeitet, das beiden Erfordernissen, der sozialen Zweckbindung wie der freien Verfügbarkeit, Rechnung trägt 5). Ein neues Eigentumsrecht würde den unheilvollen Einfluss der Börsen und der internationalen Finanzmärkte auf das reale Wirtschaftsleben an der Wurzel bekämpfen und es diesem Einfluss entziehen.

"Kein Eigentum an Grund und Boden", "kein Privateigentum an Produktionsmitteln" - welche Rolle spielt eigentlich der Sozialismus heute? Seit dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung des Ostblocks gilt er als überholt, historisch widerlegt. In seiner marxistischen Variante war er sicher nicht menschengemäß, und auf Dauer nicht durchzuhalten; denn er konnte dem menschlichen Individuum keinen Platz einräumen. Aber Marx hat die richtigen Fragen gestellt - zum Beispiel nach dem Eigentum an den Produktionsmitteln - auch wenn sein Gesellschaftsentwurf nicht lebensfähig war.

Heute lebt der Kapitalismus weiter, weil er das Individuum zwar berücksichtigt; aber nur in seiner niederen, egoistischen Variante. Deswegen ist auch er nicht menschengemäß. Steiners soziale Dreigliederung beinhaltet einen "Sozialismus", der zusätzlich noch dem Menschen als Geistwesen gerecht wird; sie entstand zur selben Zeit, als der Marxismus gesellschaftlich wirksam wurde. Sie stellte dieselben Fragen an den Kapitalismus, die heute genauso vonnöten sind; und gab menschengemäße Antworten darauf.

Zur Zeit der weltweiten Konkurrenz der Gesellschaftssysteme, im "Kalten Krieg", gab es im Osten verschiedene Reformversuche des Sozialismus. Sie zeigen, dass nicht nur eine Spielart des Sozialismus möglich ist. Ein besonders verheißungsvoller Ansatz war der "Prager Frühling" 1968, der nur einige Monate existieren durfte, bevor er militärisch von der Sowjetunion und deren Verbündete beendet wurde. Sein Ideal, der "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" ("socialismus s lidskou tvari") weckt Hoffnungen, die von Steiners Dreigliederung des sozialen Organismus erfüllt werden.

Die Lösung der sozialen Frage ist eben heute immer noch nicht verwirklicht; wir müssen mutig voranschreiten in diesem Bemühen. Dabei ist Hartz IV leider keine Hilfe.

Anmerkungen

1) Rudolf Steiner, Nationalökonomischer Kurs, Dornach 1965, Gesamtausgabe 340

2) siehe Was tut der Engel in unserem Astralleib? Vortrag vom 18.6.1918, in GA 182 "Der Tod als Lebenswandlung"; der Vortrag ist auf heute (2000 n.Ch.) bezogen! Würde da überhaupt noch jemand arbeiten? (Die letzte Frage sollte man nicht von dem heutigen, korrumpierten Wirtschaftsleben her beurteilen, sondern berücksichtigen, dass ein mögliches alternatives, gesünderes Wirtschaften auch andere Motivationsquellen - zum Beispiel im Geistesleben - freilegen würde).

3) siehe Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, 16. Jg, Heft 1, März 2005; Hg. Initiative Netzwerk Dreigliederung, Haußmannstr. 44a, D-70188 Stuttgart; ISSN 1619-1900. www.sozialimpulse.de Thema: "Grundeinkommen und soziale Dreigliederung – Alternativen zu Hartz IV".

4) R. Steiner, Geistewissenschaft und soziale Frage, in: GA 34, "Luzifer-Gnosis", Dornach 1960

5) Hans Georg Schweppenhäuser, Macht des Eigentums, Stuttgart 1970, Radius Verlag