Die Standardisierung ist genau das Mittel,
um die Komplexität nicht mehr begreifbar zu machen

01.08.2010

Thomas Brunner, Ralf Gleide und Clara Steinkellner im Gespräch mit Dr. Konrad Schily, Witten, 17.8.2010. Eine gekürzte Fassung ist in Die Drei, Ausgabe 2011/1 erschienen.

Im Jahre 1993, als in Witten-Herdecke Deutschlands erste Privatuniversität ihr zehnjähriges Bestehen feierte und Pisa und Bologna noch getrost mit einer Italien-Reise assoziiert werden konnten, erschien das Buch Der staatlich bewirtschaftete Geist – Wege aus der Bildungskrise, ein Plädoyer für ein wahrhaft autonomes Bildungswesen, das sich von staatlicher Bürokratie befreit und selbstverantwortlich innovative Wege beschreitet. Die begeisternde Lektüre dieser Publikation war Anlass für uns, Thomas Brunner, Ralf Gleide und Clara Steinkellner, den Buchautor Dr. Konrad Schily für ein Interview anzufragen, um die Aktualität der vor 17 Jahren entwickelten Thesen zu besprechen. Erfreulicher Weise stimmte Dr. Konrad Schily unserem Ansinnen zu und empfing uns am 17. August 2010 im medizinischen Institut der Universiät Witten Herdecke zu einem ausführlichen Gespräch, in dem eine große Bandbreite von Fragen mit großer Offenheit bewegt werden konnten. Nach eingehender Redigierung des mehr als dreistündigen Gesprächs ist nun eine gekürzte Fassung entstanden, die u.a. auch zur erneuten Befassung mit dem oben genannten Buch anregen möchte.

Thomas Brunner: Herr Doktor Schily, nachdem wir mit Begeisterung Ihr Buch „Der staatlich bewirtschaftete Geist“ aus dem Jahr 1993 gelesen hatten, war die Idee entstanden ein Interview mit Ihnen durchzuführen. Wir freuen uns, dass es nun tatsächlich dazu gekommen ist. Können Sie uns einleitend ein wenig schildern, wie Sie, der Sie ja erst einmal als Arzt tätig waren, überhaupt dazu kamen, sich immer mehr in grundsätzliche Fragen der Bildung hineinzuarbeiten, um letztendlich maßgeblich an der Gründung der ersten privaten Universität Deutschlands, Witten-Herdecke, beteiligt zu sein?

Konrad Schily: Das hat ja immer biographische Wurzeln - und wie heißt es? Jeder junge Mensch, wenn er denn nicht links ist und revolutionär, ist er nicht jung. So ging mir das natürlich auch. Meine Studienbiographie hat 1957 in Basel mit einem wunderschönen Semester in Philosophie bei Karl Jaspers, Theologie bei Karl Barth und Zoologie bei Adolf Portmann begonnen. Außerdem bin ich zu einem Mathematiker gegangen, bei dem ich kein Wort verstanden habe. Aber ich fand diesen Mann so toll und hatte immer Angst in der Vorlesung, dass er mich ansprechen würde, weil dann mein absolutes Nichtwissen zum Vorschein gekommen wäre (lacht). Dann bin ich nach Tübingen gegangen, kam dort sofort an die Leiche und habe mich dann eben darüber aufgeregt und gemeint, dass das alles so nicht ginge. Herr Gögelein, ein Waldorflehrer, der inzwischen verstorben ist, hat mich dann viel später daran erinnert, dass ich mich damals in einem Examen mit dem Professor gestritten habe und gesagt habe: O.K., ich kann das jetzt zwar nicht ändern, aber später werde ich alles ändern. Und jetzt können Sie mich examinieren. Ja und dann hab ich dem Kienle-Kreis angehört. Gerhard Kienle war für mich ein väterlicher Freund, eine Führungsfigur. Er hat immer gesagt: nicht soviel herumreden, sondern etwas tun! Das habe ich zu befolgen versucht und das führte mich dann bald eng mit Dieter Lauenstein zusammen. Lauenstein war Wissenschaftler und Pfarrer in der Christengemeinschaft. Gegen ihn als dem Älteren habe ich mich auch ein bisschen aufgelehnt, aber trotzdem natürlich seine Autorität anerkannt. Das führte zum Bau des Fichte-Hauses in Tübingen, wo Lauenstein mir dann, als er sehr schwer erkrankt war, die gesamte Vollmacht übergab. Dann kamen die Erfahrungen im Fichte-Haus mit meinen Kollegen und der freien Grundordnung dort, die zu einem ersten Streit mit dem Wissenschaftsrat geführt hat. Der Wissenschaftsrat lehnte es damals ab, dass Mädchen und Jungen in einem Hause wohnen, weil das für das Examen nicht förderlich sei. Wir wohnten damals sogar auf einem Flur. Natürlich sind daraus auch einige Ehen hervorgegangen. Aber deswegen hat keiner sein Examen später gemacht. Da war eigentlich immer der soziale Wille: ich will etwas anderes. Die Welt soll sich ändern. Das gehört auch zu meiner Generation. 1937 geboren, wach geworden mit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Meine Generation war die Vorgeneration der 68er. Mit unserer Generation konnte dann Alexander Mitscherlichs Buch „Medizin ohne Menschlichkeit“ veröffentlicht werden. Aber erst 1968 wurde es dann ein Erfolgsbuch. Es war ja 1948 erschienen, war dann eingestampft worden, weil es nicht gelesen wurde, dann kam es 1958 neu heraus, mit, glaube ich, einer Auflage von 30-40.000. Doch erst 10 Jahre später hat es die 100.000er Auflage dann erreicht. Im Gemeinschaftskrankenhaus wollte ich dann natürlich auch der anthroposophischen Medizin einen Platz verschaffen. Das war ja auch Kienles Anliegen gewesen. Ich war immer mehr auf der praktischen Seite. Kienle war die hohe Intelligenz und auch forschende Intelligenz. Mir ging es eher um konkrete Strukturen. Das führte immer mehr in die Planung der Universität.

Etwa 1973 gab es dann ein Symposium mit dem Titel: „Towards a Human Centred oder Man- Centred Medicine“. Dieses war aus einer Verbindung Kienles mit Karl Heinz Schäfer, dem sogenannten U-Boot Schäfer zustande gekommen. Das war ein Physiologe, der nach dem Krieg von Heidelberg in die USA geholt worden ist, der den ersten Umweltlehrstuhl hatte und Umweltphysiologie betrieb. Die Amerikaner wollten wissen, wie der Mensch als Taucher unter Wasser reagiert und wie er sich im Weltraum physiologisch verhält, aber Schäfer hat viel Anthroposophisches da hinein fließen lassen. Kienle und Schäfer haben eine ganz besondere Menschengruppe zusammengebracht. Das waren alles Leute, die sich, wollen wir mal sagen, humanistisch in der Wissenschaft bewegten, nicht anthroposophisch, sondern humanistisch. Da kamen dann Leute, wie Samuel Beecher, das war derjenige, der in Amerika gesagt hat, wir dürfen keine Medikamentenversuche an Abhängigen machen, an Gefangenen oder an geistig Behinderten, da kam Joseph Weizenbaum, das war der erste große Computerspezialist. Alles solche Leute vorwiegend aus den USA und Skandinavien, Frankreich weniger und ich war da so der Kleine dazwischen, der das organisierte und zwischen Lievegoed und Beecher hin und her lief. Einmal hatte ich die alle nach Hause eingeladen, wo es auch einen Wein gab und so weiter. Ab zwölf Uhr am Kamin erzählten die auf österreichisch Witze oder auf berlinerisch. Die konnten alle natürlich noch deutsch und ich bin heulend ins Bett gegangen, denn das war so… ja… brauch ich nicht weiter zu erklären. Daraus ist dann die freie europäische Akademie geworden, die dann doch nicht so ganz frei war, weil viele wollten, dass da nur habilitierte Anthroposophen drin sind. Dadurch, so habe ich gesagt, bekommen wir schon wieder so ein Ausschlusskriterium. Diese Akadademie war aber doch einige Jahre lang nützlich, weil so eine Begegnungsmöglichkeit wichtig war. 1975 hatten sich Kienle und Lauenstein dann entschlossen, mit einer freien Universität zu beginnen. Durch die freie europäische Akademie waren sie mit lauter Professoren in ganz Mitteleuropa verknüpft und haben dann gesagt: So, Schily, sie machen das. Daraufhin habe ich gesagt, dass ich das nicht mache. Das fanden die beiden ganz erstaunlich, dass der Schily plötzlich etwas nicht macht, was man ihm sagt. Und dann hab ich ihnen gesagt: das wird nicht anerkannt werden. Sie können die Damen und Herren herumschicken, dann bekommen die einen Physiologieschein als Gasthörer in Marburg und einen zweiten für Chemie aus Bochum. Dann haben die Studenten zwar die ganzen Scheine, aber sie haben offiziell an keiner Uni studiert. So sehen die Bürokraten das halt, das ist eben so. Sie fanden es schlimm, dass ich das nicht machen wollte. Daraufhin habe ich gesagt, ich versuch´s selber. Ich versuche es auf meine Weise. Und bin dann ganz anders vorgegangen. Ich habe den Studiengang für Musiktherapie in Aachen zur Anerkennung gebracht und habe auf diesem Wege, das habe ich in meinem Buch auch ein bisschen beschrieben, die Menschen kennen gelernt, die ich kennen lernen musste. Und das war dann, ein Anthroposoph würde sagen, karmisch. Auf der einen Seite wurden die Dinge nun immer praktischer. Ich musste dann fragen: Herr Brunner haben sie Lust bei uns mitzumachen? Und dann hätte der Herr Brunner gefragt, wie es mit der Bezahlung aussieht. Und ich hätte dann gesagt: für die nächsten 4 Monate weiß ich es. Für die Zeit danach weiß ich es nicht. Und dann musste man sich sehr in die Augen sehen. Man musste über sehr sehr Vieles sehr grundsätzlich nachdenken. Ich musste auch über das Gemeinschaftskrankenhaus grundsätzlich nachdenken, auch über die Struktur dort. Es hatten sich Vorbereitungskreise gebildet und bald war klar, dass Herbert Hensel Rektor wird, denn er war ein anerkannter Wissenschaftler und altgedienter Ordinarius in Marburg. Kienle sollte sein Konrektor werden. Das ging sehr gut zwischen den beiden. Und ich hätte dann die politische Vertretung gemacht und hatte dann eigentlich vor, das Gemeinschaftskrankenhaus zu reorganisieren, damit aus ihm eine forschende Klinik wird. Doch das kam dann alles ganz anders. Als die Universität zur Anerkennung gelangte, waren Schäfer und Hensel tot und Kienle lag auf dem Sterbebett. Er starb dann zwei Tage nach der Eröffnung. Und dann war ich ziemlich allein. Lauenstein saß in Namibia. Er hat sich dann sehr stark verändert im Alter und war schon nicht mehr ganz verlässlich. Deshalb gab es damals auch eine Auseinandersetzung zwischen ihm und mir. Das war nun eine lange Antwort auf eine kurze Frage, weil mein Weg eigentlich auf der einen Seite immer mehr in die Praxis führte und auf der anderen Seite immer mehr in das Grundsätzliche hinein.

Ralf Gleide: Mir ist beim Lesen Ihres Buches aufgefallen, was Sie jetzt auch formuliert haben, dass die wichtigsten Initiatoren der Uni Witten- Herdecke überraschend früh gestorben sind. Auch Gerhard Kienle starb kurze Zeit nach Eröffnung des medizinischen Studienganges. War das Zufall oder lesen Sie im Rückblick an diesen überraschenden Rückschlägen etwas ab?

Konrad Schily: Da sollte man doch nicht zu viel hineingeheimnissen. Aber ich denke, dass besonders diese vier Personen, die ich jetzt genannt habe, viel miteinander zu tun hatten, selbst wenn sie zeitweise auf verschiedenen Kontinenten gelebt haben. Ich glaube heute, dass diese vier bis zu diesem Punkt kommen konnten. Und danach haben sie sich nicht mehr lange auf der Erde aufgehalten. Dann haben sie sich gesagt: So nun ist gut und nun gehen wir auch. Jeder auf seine Weise. Lauenstein hat das sehr schön dargestellt nach dem Tode von Kienle. Lauenstein hat ja noch länger gelebt. Kienle hatte die Sache bis zu diesem Punkt durchgearbeitet. Danach, sagte Lauenstein, hätte es Risse bekommen können. Und da ist er vorher gestorben. Nachträglich betrachtet sagen natürlich viele und wahrscheinlich haben sie Recht, die Uni wäre ganz anders geworden, wenn diese vier am Leben geblieben wären. Es hätte aber auch sein können, dass es gar nicht funktioniert hätte. Also das weiß man nicht.

Clara Steinkellner: Also die Universität war ja dann gegründet und nach 10 Jahren ist Ihr Buch erschienen. Da wollte ich Sie fragen, wie Sie die Rezeption erlebt haben. Wie sind die Gedanken Ihres Buches aufgenommen worden? Und von wem? Hat das Buch etwas in Gang gesetzt?

Konrad Schily: Also erstmal habe ich mich gewundert, dass das Buch überhaupt verkauft wurde. Der Verlag wollte, dass ich Lesungen mache und so. Aber dazu hatte ich keine Zeit. Zwei, drei Jahre später habe ich gemerkt, dass das Buch doch ganz hilfreich ist. Das kann man mal irgendwo nach einem Vortrag im Rotary Club liegen lassen. Dafür war ich vorher zu genant. Dann kam die zweite Auflage und ich habe festgestellt, dass der eine oder andere es doch gelesen hat. Verändert hat das Buch aber, glaube ich, nichts. Bücher können eigentlich nur was nützen, wenn einer schon einen Sinn hat für die Freiheit, für das Geistige. Sie haben mir am Anfang alle gesagt: du musst jetzt, nach 10 Jahren, ein Buch schreiben und so weiter. Ich selbst wollte das ja gar nicht und wenn es nicht die Frau Bollejoschkow gegeben hätte, die immer gesagt hat, morgen noch mal vier Seiten und so weiter, dann wäre das Buch auch nicht entstanden. Denn ich wusste ja damals schon, wie wenig gelesen wird. Die Leute wollen eigentlich bloß Geschichtle hören und deswegen hat es ja auch ein paar Geschichtle drin. Den Zusammenhang mit dem dritten Reich, der in dem Buch auch beschrieben wird, den sparen die meisten aus. Das ist eben dann doch zu nah. Besonders wenn sie an der Uni arbeiten. Das wird noch ein paar Jahre dauern. Auch die Tübinger Uni hat ja ihre Geschichte jetzt ein bisschen aufgearbeitet, aber erst 30 Jahre, nachdem Walter Jens sein Buch über Tübingen geschrieben hat. Haben Sie schon Bücher geschrieben?

Thomas Brunner: Ja… Bisserl was habe ich auch schon geschrieben, z.B. ein Schiller- Buch, verschiedene sonstige Texte und insbesondere auch ein philosophisches Werk neu herausgegeben, ein sehr spannendes von Paul Asmus.

Konrad Schily: Und wie heißt das?

Thomas Brunner: Das Ich und das Ding an Sich

Konrad Schily: Schöner Titel. Ich sage immer, das Ding an sich ist eine schöne Geschichte. Wie heißt der, der die „Briefe an Max“ geschrieben hat? Wunderschöne Kurzgeschichten. Da schreibt er an Max immer irgendwas und dann sagt er: Max, also ich habe gerade wieder am Fenster gestanden und in meinen Garten geschaut. Du weißt, unten die Haselhecke, ja es sind auch Weidenbüsche dazwischen und Ginster. Naja, es spielt ja keine Rolle welche Büsche, aber ich hab das Ding an sich da liegen sehen. Stell Dir vor. Wie soll ich es dir beschreiben. Es war nicht rund, es war nicht viereckig, es hatte eigentlich auch keine Farbe, naja ein Ding an sich hat ja auch keine Farbe und, er beschreibt das dann so wunderbar, stell Dir vor, das hab ich jetzt schon ein paar Tage gesehen und heute Morgen war es weg. Ich habe zu meiner Frau gesagt, da ist wohl ein Tourist vorbeigekommen und ist zu nah herangegangen und meine Frau meinte aber, das war ein Neukantianer. Das verträgt das beste Ding an sich nicht. Das war die Stelle, die ich mir gemerkt habe. (Lachen)

Ralf Gleide: In Ihrem Buch wird sehr deutlich, dass Sie mit der Gründung der Universität Witten-Herdecke nicht allein das Ziel verfolgt haben, eine erfolgreiche Universität in die Welt zu setzen, sondern dass Sie eigentlich ein gesamtgesellschaftliches Umdenken in Bezug auf Bildung angestrebt haben…

Konrad Schily: …und noch heute tue.

Ralf Gleide: Wie erfolgreich war die Universität Witten-Herdecke im Hinblick auf das Ziel, ein gesamtgesellschaftliches Umdenken auf dem Feld der Bildung anzustoßen?

Konrad Schily: Also strukturell, glaube ich, erfolglos. Ich hab das auch vor ein paar Wochen in einem Zeitungsinterview gesagt. In Herdecke gibt es eine Medizinerausbildung, die ist nachweislich gut. Da liegt Witten-Herdecke immer einsam an der Spitze. Und in der studentischen Zufriedenheit und der Bewertung von praktischen Ärzten fünf Jahre nach der Uni befragt, ist Uni Witten-Herdecke wieder einsame Spitze. Dann kommt bisschen nix und dann kommt Lübeck und dann kommt lange gar nix und dann kommen ein paar Ostuniversitäten und dann erst kommt erst der ganze Rest. Und das alles zu einem Drittel der üblichen Kosten. Aber das interessiert kein Schwein! Weder die Ministerien, noch die Gesellschaft, die in diese Dinge ja keinen Einblick hat. Die Ministerien sind zwar bereit, über das Begriffspaar „privat“ oder „staatlich“ nachzudenken. Das geschieht aber im Sinne von privat = kommerziell und nicht privat = frei oder unabhängig. Strukturell wollen sie das nicht. Wenn Sie jetzt aber inhaltlich fragen, ist das erstaunlicherweise ganz anders. Wir haben gesagt: warum soll eigentlich eine Universität nicht, wenn sie das offen macht, Industrieaufträge annehmen? Das tun sie ja alle, nur die anderen versteckt. Warum soll ein Professor nicht in der Tageszeitung schreiben? So etwas war 1980 absolut verpönt. Wenn ein Wirtschaftswissenschaftler in der FAZ im Wirtschaftsteil geschrieben hat, wurde er nicht mehr eingeladen. Das hat sich alles verändert. Jede Universität rühmt sich heute für irgend so etwas wie ein Studium fundamentale oder generale. Ich finde dieses plakative Gerede inzwischen ja ganz furchtbar, aber das Gerede hat schon in Witten angefangen: Persönlichkeitsbildung. Irgendwo hasse ich dieses Wort. Genauso, wie ich nie auf die Fahne geschrieben hätte: „Zur Freiheit ermutigen“ und so. Das ist mir zu plakativ. Die alte Approbationsordnung für Medizin hat sich lange Zeit gegen alle Widerstände gehalten. Als Herdecke es dann einfach anders gemacht hat, war sie nicht mehr zu halten. Aber es hat dann immer noch 10 bis 15 Jahre gedauert, bis sie dann geändert wurde. Und auch jetzt ist sie nicht gerade frei. Also strukturell waren wir nicht erfolgreich und inhaltlich hätte ich mir natürlich immer gewünscht, besonders in der Wirtschaftswissenschaft, dass da einer mal darüber nachdenkt, wie man die Banken abschaffen kann. Es war damals schon sehr gut, was der Ekkehard Kappler da gemacht hat. Der hat das von innen her erweitert und den Studenten viel Freiraum gelassen. Das war einfach eine ganz große Leistung. Aber ich hätte mir halt noch den großen Professor, der einmal die Woche das neue Staatswesen verkündet, gewünscht. Den habe ich aber nicht gefunden.

Ralf Gleide: Also noch einmal zu der Frage von vorhin. Es ging mit der Gründung der Privatuniversität nicht nur um die Erhaltung einer Universität um ihrer selbst willen, sondern um ein Beispiel, ein zu schaffendes Vorbild im Hinblick auf eine Erneuerung des Bildungswesens insgesamt. Es ging um den „Rückzug des Staates aus allen kulturellen, bildenden, künstlerischen Einrichtungen und ihre Überführung in freie, wirtschaftlich und rechtlich eigenständige Einrichtungen“ (Schily, S. 140)

Konrad Schily: Ja, es ging darum, aber heute glaube ich, dass wir viele verschiedene Elemente brauchen. Wir brauchen mehr direkte Demokratie. Nur in der Schweiz ist es möglich, dass eine Elternschaft fragen kann: warum wird unsere Kantonsschule nicht eine Waldorfschule? In Bern, da funktioniert das heute. Da gibt es eine kantonale Schule als Waldorfschule. Das geht. Aber die Schweiz ist da eben vorbildlich. Direkte Demokratie.

Ralf Gleide: In Deutschland gibt es inzwischen ungefähr 10 private Universitäten. Welchen Stellenwert hat das Motiv, beispielhaft für die Befreiung des Bildungswesens aus staatlicher Vormundschaft zu wirken, für die heute dort Verantwortlichen? Welchen Stellenwert hat es in der heutigen Uni Witten-Herdecke? Wie schätzen Sie das ein?

Konrad Schily: Also ich glaube, das ist sehr unterschiedlich. Ich will da jetzt keine Namen nennen, aber da gibt es Leute, die sich mehr darum kümmern, die Einrichtung zu sichern. Dann gibt es solche, die sagen: wir können doch hier nicht einschlafen, wir müssen weiter nach vorne. Also das ist sehr unterschiedlich. Der Dekan für Medizin hat jetzt gerade eine wunderbare Sommeruniversität für integrative Medizin gemacht. Da kamen knapp 200 Studenten aus verschiedenen medizinischen Fakultäten Deutschlands. Großes Interesse. Und für Neues ganz aufgeschlossen. Aber die großen Revolutionäre hatten wir nie in der Uni. Wir hatten ausgesprochene Typen, Charakterköpfe mit Eigenheiten und Knorzigkeiten. Die machen irgendwie alle ihre Karriere und sitzen gleichzeitig ganz viel in Dingen, wo sie wiederum etwas Neues machen. Also das ist schwer zu fassen für mich.

Thomas Brunner: Nun zu Wilhelm von Humboldt: bereits wenige Jahre nach Gründung der Berliner Universität (1809) schrieb Humboldt in einem Brief an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1816), dass „die berlinische Universität mehr noch als untergeht […] - denn „der Geist ist aus allem gewichen.“ Auch Sie sprechen immer wieder vom „notwendigen Geist“ der Universität. Können Sie uns die damit angesprochene Sphäre etwas skizzieren?

Konrad Schily: Anfang der neunziger Jahre war Professor Dieter Simon Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Der hat damals gesagt: die Universitäten sind im Kern verrottet. Das war damals ein berühmtes On-dit. Und das war es, was Wilhelm von Humboldt seinerzeit in Bezug auf die Reste der noch mittelalterlichen Universität auch meinte. Humboldt wollte ja die Forschung in die Uni bringen, um die Forschung zu beleben. Und zwar nicht, um die Professoren munter zu machen, sondern um die jungen Leute mit der Forschung zu konfrontieren. Das war sein Ziel. Also: den Alten wird nichts einfallen, wenn die Jungen nicht dazu kommen. Deswegen finden Sie auch in den USA keine Teilchenbeschleuniger, die so wie bei uns in Hamburg, irgendwo in der Welt stehen, sondern die befinden sich immer an einer Uni. Die liefern sich zwar vorher beinharte Schlachten darum, wer das kriegt, aber, auch wenn es ein zentrales Institut ist, es ist immer an einer Uni. Da gibt es eigentlich auch keine Organisationen wie das Max Planck Institut, die dann eine Extra –Einrichtung sind, sondern es ist immer mit Universität verbunden, immer mit Studenten drin, sehr Humboldtsch. Also das California Institut of Technology hat knapp 1000 Studenten, ist aber eine Forschungseinrichtung. Es hat 1000 Studenten und dadurch ist es so produktiv. Joseph Weizenbaum beispielsweise hat innerhalb seines Studiums sein Programm ELIZA entwickelt, mit dem er dann berühmt geworden ist. Für Humboldt war dies der idealistische Geist, auf den er hoffte. Der wurde natürlich durch die Berufungspraxis des Staates, die später der berühmte Friedrich Alhoff in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert hat, verhindert. Es wurden dann nur noch die Regierungstreuen berufen. Oder wie Max Weber kritisch kommentierte: A Jud´ kann kein Professor werden, kein Ordinarius werden. Man musste katholisch und majestätshörig sein oder evangelisch. Eins von beiden. Was Humboldt insbesondere bedauert hat, war, dass das Recht sich nicht weiter entwickeln konnte. Das Recht hat sowieso den Hang, das Bestehende zu sichern. Also das wendet sich gerne rückwärts und nun werden damit noch staatliche Institutionen vermischt. Es ist ja interessant, das Staatsexamen gab es in Recht und Pädagogik und Medizin. Die drei wichtigsten Lebensfelder waren staatlich kontrolliert. Und das wollte er nicht. Das Recht kann sich nicht entwickeln, wenn es staatlich administriert ist. Und deswegen: „der Geist ist gewichen“.

Ralf Gleide: Wie würden Sie die Universitätsidee Wilhelm von Humboldts in wenigen Worten charakterisieren? Wieso hat sich diese Idee eher in den USA durchgesetzt, als in Deutschland, wo sie staatlich abgeschwächt wurde.

Konrad Schily: Es gibt eine Situation Ende des ersten Weltkrieges, wo Steiner die Dreigliederung vorschlägt, doch für die er das vorgetragen hat, denen ist das so fremd, dass sie es dann doch nicht machen und doch nicht aufgreifen. Polzer-Hoditz sagt dann in seinen Memoiren, es wäre gut gewesen, wenn Steiners Ideen zumindest in die österreichische Öffentlichkeit gekommen wären und vielleicht hätten sich viele Dinge dann anders entwickelt. Die Dinge, die Humboldt gebracht hat, waren den Deutschen ebenso fremd, dass Humboldt ja lange gezögert hat, seine Schrift „Ideen zu einem Versuch die Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ dem Zensor zu geben. Dann wurde es regierungsamtlich gemacht. Zu gleicher Zeit gibt es bezeichnenderweise zwischen in Amerika, in New Hampshire einen ähnlichen Prozess. Das ist der Dartmouth Case. Mit dem Dartmouth Case wird juristisch die freie, also die nicht-staatliche Universität charakterisiert. Und die Amerikaner schauen dann auf die Humboldtsche Universität, als Vorbild einer freien Universität und nehmen den Humboldt ernst, denn das ist ja der Fortschrittlichste. Und am Ende des 19. Jahrhunderts haben die sich gewundert, dass die Deutschen zwar erfolgreich sind, aber es nicht so machen, wie Humboldt. Und man muss sagen, ein Teil der Kraft der USA ruht eben in diesen ganz eigenständigen Universitäten, dass immer wieder andere Kräfte kommen können.

Thomas Brunner: Ein Grundgedanke Humboldts ist ja gegeben in der ganz deutlichen Unterscheidung zwischen Staat und Öffentlichkeit: „Öffentliche Erziehung scheint mir ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit entfalten muss.“Ist das nicht auch eine Begrifflichkeit, die einfach wirklich öffentlich deutlicher ausgearbeitet gehört.

Konrad Schily: Ja, das ist ja verschiedentlich versucht worden. Also wir haben eigentlich den Zustand in den Universitäten, dass die sagen, wir sind frei, damit meinen sie, es ist warm und es regnet nicht durch. Und alles Weitere bemerken sie gar nicht, dass sie dirigiert sind. Im Lernzielkatalog, in den Staatsexamina, u.s.w. Jetzt bewegen wir uns in der Straßenverkehrsordnung, da bewegen wir uns in der Ordnung. Jetzt gehen Sie in die Medizin, gehen Sie in die Pädagogik, da sind dann so Sparecken erlaubt. Aber nur erlaubt! Ersatzschulen ist schon so ein Begriff. Ersatzkassen! Wir sind eben vom Staat durchorganisiert und wir bemerken es gar nicht. Und abends lassen wir uns dann noch mit Fernsehen berieseln und so, ja? Und jetzt wundern sich alle, dass die Leute nicht spenden nach Pakistan und bemerken gar nicht, warum diese Ergriffenheit nicht da ist. Wenn der Spiegel nicht damit aufmacht, sondern das nur dritte Meldung ist, und die erste Meldung ist, dass in Bagdad einer erschossen wurde, dann muss ich doch da nichts machen. Es gibt im „Also sprach Zarathustra“ von Nietzsche eine schöne Stelle. Zarathustra kommt über die Berge und trifft die letzten Menschen. Wir sind glücklich, sagen die letzten Menschen und blinzeln, denn schauen können sie nicht mehr… Im Verdrängen sind wir groß, das ist nichts Neues, die Welt hat immer verdrängt, wir haben eben auch keine bewusstseinsbildenden Organe und das müssten Unis oder das Bildungsleben überhaupt sein.

Thomas Brunner: Wie Beurteilen sie die aktuellen Entwicklungen im Bildungsbereich? Also die Bildungsministerkonferenz in Bologna 1999, hat ja doch zumindest eine große Debatte ausgelöst. Dann PISA. Wie beurteilen Sie diese Bildungsoffensive, die damit gestartet wurde?

Konrad Schily: Ich gehöre natürlich auch zu denjenigen die in den 80er Jahren und auch dann immer gesagt haben: Pass mal auf, guck doch mal in die USA. Warum können die das? Ich will nicht das USA-System, aber guck doch da hin. Warum gelingt es den USA 2 Millionen Studierende anzuziehen? Warum sind die Einnahmen aus Bildungsexport höher, als die Einnahmen aus dem Autoexport der USA. Die verkaufen nicht 2 Millionen Autos im Jahr, aber sie verkaufen 2 Millionen Studienplätze, im Schnitt für 10-, 15-, 20.000 $, und mehr kostet so ein Auto auch nicht. Jetzt ist es aber den anderen und mir nicht gelungen, die Begrifflichkeit so rüber zu bringen, dass die Politik das irgendwie geschafft hätte, sondern die haben nur geguckt, wie geht das? Die haben den Master und das machen wir jetzt auch. Also haben die europäischen Minister da gesessen und gedacht, wir werden Europa und dann geht das alles. Und sie haben gedacht, sie können dies Leben durch Verordnungen meistern. Und dann hat man noch gesagt, jetzt werden wir ganz amerikanisch, jetzt machen wir die Eliteuniversitäten. So machen es die Amerikaner doch auch, Stanford, Yale, Harvard und so. So was haben wir ja nicht, also müssen wir es erfinden. Dann haben sich 15 Gangs gebildet und die haben sich untereinander bekriegt und fünf davon sind als Sieger hervor gegangen. Das nennt man dann wissenschaftlichen Wettbewerb. Und nun haben wir den Prozess, dass das alles viel schwieriger als vorher ist. Und wie es weiter geht wissen wir nicht. Es wird mit Sicherheit so weiter gehen, dass einige Universitäten das Diplom wiederkriegen, weil sie sagen, wir kriegen keine Leute mehr. Also wenn ich ´nen Master machen will in Technology, dann geh ich zum MIT oder Caltech oder so.

Ralf Gleide: Hat sich was verbessert in der staatlichen Bildungsplanung seit der Zeit von Witten-Herdecke oder wie würden Sie diesen Vergleich damals und heute, wie würden Sie den anstellen?

Konrad Schily: Ja natürlich. Es haben sich ein paar Sachen verbessert. Zum Beispiel glaube ich schon, dass das Hochschulfreiheitsgesetz, das sich die FDP in Nordrhein-Westfalen da auf die Fahnen schreibt, was allerdinghs nicht von ihr ist, sondern im Wesentlichen von der CDU, vom Zentrum für Hochschulentwicklung, also eigentlich von Bertelsmann entwickelt wurde, eine Verbesserung darstellt. Da ist mehr Freiheit drin. Diese Zielvereinbarung würde ich zwar wieder sehr in Frage stellen, aber es gibt sinnvolle Elemente da drin. Z.B. bei der Bewerbung von Professoren. Das geht nicht mehr lang zwischen Ministerium hin und her. Das hat aber natürlich einen großen Nachteil. Humboldt sagt, es soll ein gesellschaftlich anerkanntes Kuratorium geben, das guckt, dass in der Universität keine Vetterleswirtschaft gemacht wird. Denn das können die Hochschulräte gar nicht verhindern, das hängt dann sehr am Präsidenten oder der Präsidentin und eigentlich wäre das eine Aufsichtsfunktion, die der Staat behalten könnte. Er kann es aber auch nicht richtig. Er wird dauernd ausgetrickst. Aber es ist ein Versuch, dieses Hochschulfreiheitsgesetz.. Auch dieses niedersächsische Gesetz mit den Stiftungshochschulen geht in eine richtige Richtung. Ist zu mindestens ein Versuch.

Thomas Brunner: Sie selbst sprechen ja im Buch schon davon, dass man über die Ausbildung die Bildung nicht vergessen solle und gerade das ist ja die Hauptkritik an der ganzen Umstellung auf Bachelor und Master. Dass also die Studenten insbesondere zu sehr sich auf eine Schiene gestellt fühlen. Jetzt habe ich das Buch "Tatort Universität" von Wolf Wagner gelesen, er meint, dass sei eine Fehlinterpretation der Bestrebungen von Bologna. So sei die Modernisierung des Bildungswesensgar nicht gemeint.

Konrad Schily: Na ja, es gibt die zwei Auffassungen. Ich würde mal ganz kurz fassen. Einerseits wird gemeint, man muss ja nicht dauernd mit der Verfassung unterm Arm rumlaufen, also mit einem Gesetz. Man kann das ja freier machen. Wenn ich es richtig frei mache, brauche ich gar keinen Bologna-Prozess. Also da hebt sich die Sache wieder auf. Das Zweite ist, wenn Sie das US-System nehmen. Du kommst noch relativ jung in die Universität und du gehst dann eigentlich weiter zur Schule und deswegen nennt sich das Classroomwork und du kriegst Hausaufgaben und die müssen nachgeguckt werden. Eigentlich ist der Professor in vielen Dingen ein Studienprofessor. Es ist ja toll, wenn ich in der Schule von einem Nobelpreisträger unterrichtet werde. Das kann ganz toll sein. Hat aber nichts mit Freiheit zu tun! Sondern das ist Frontalunterricht, Classroomwork, Hausaufgaben usw.. Ansonsten bin ich zum ersten Mal von zu Hause weg und brauch nicht sagen, ob Eleanor heute Abend kommt oder nicht. Das ist natürlich auch eine große Befreiung. Und je weiter Sie dann im amerikanischen System aufsteigen, desto freier werden Sie. Und da gibt esz.B. das wunderbare Sabbatical, das Sabbatjahr jedes 7. Jahr. Ich habe Anspruch auf ein forschungsfreies Semester. Also du bist Professor für Romanistik oder für Kunst und Sie interessieren sich jetzt für Schleifwerkstätten. Würd´ kein Amerikaner was sagen, wenn Sie das machen. Die Deutschen, die Europäer denken eigentlich andersrum. Die denken eigentlich, , dass der junge Mensch mit 17, 18 Jahren, die jungen Damen und Herren, selbstständig denken und lernen können und sich dann, mit der Hochschulreife, , als wie Kappler immer so schön sagt, unwiederbringlich Erwachsene, in die Hochschule bewegen. Wir vergessen, welche Figur dahinter ist! Die Amerikaner haben eine aufsteigende Freiheit und ein ganz anderes System mit ihrem Master. Und dann formen wir Bologna aus und vergessen, dass wir zwei verschiedene Kulturen vor uns haben und bringen sie natürlich nicht überein.

Clara Steinkellner: Zum Stichwort Abitur. Sie bezeichnen es in ihrem Buch so schön als „Verneinen der Lebensschule“, als eines der „großen Verhinderungsinstrumente des freien Geistes über das der Staat seine Untertanen sortiert“ und plädieren eben da für eine Aufhebung des Abiturs als Pauschaleintrittskarte in die Hochschulen. Sie schreiben, „wenn wir das Abitur in seiner Monopolstellung erhalten, verschließen wir uns gegenüber der Vielfalt des Menschen und gegenüber dem Besonderen.“ Da ist aber heute eine Aufhebung dieser Monopolstellung nicht in Sicht. Im Gegenteil, das Zentralabitur, in Österreich die Zentralmatura, wird eifrig vorangetrieben und als Fortschritt gefeiert. Das ist so. Wie schätzen Sie das ein?

Konrad Schily: Furchtbar, ja. Es teilt die Menschen. In Menschen mit Abitur und ohne Abitur. PISA ist ja nix anderes, als dass wir noch mal festgestellt haben, was wir da tun, dass wir die Menschen eingeteilt haben. Und es war französische Soziologe Pierre Bourdieu, der gesagt hat, die Lehrer verstehen die Codes der Jungen nicht und die aus den Banlieues verstehen die Lehrer nicht. Also bleiben die aus dem Banlieue für sich und die Lehrer auch für sichUnd sowas machen wir in großem Umfang. Man schließt damit so viele Menschen aus! Und die Schulen würden sich ja ändern müssen, wenn die Universitäten selbst Aufnahmekriterien entwickeln würden. Da will ich ja hin. Wenn da z.B. verlangt würde, du musst 40 Zeichen Chinesisch können, dann muss ich versuchen die zu lernen, wenn Sie die Hürde aufbauen. Und dann sage ich meinem Lehrer, wie kann ich denn hier chinesische Zeichen lernen? Dann sagt der, du spinnst. Dann sag´ ich aber, ich will da und da hin! Dann ändert sich die Schule. Und dann würden Waldorfschulen plötzlich ganz anders anerkannt werden.

Thomas Brunner: Da kann ich ganz gut anschließen mit der nächsten Frage. Wir gehen über in grundsätzliche Fragestellungen. Pestalozzi unterscheidet, ganz deutlich zwischen individueller Existenz und kollektiver Existenz und er sagt, der Mensch wird entwurzelt, wenn er in seinem Bildungsweg in ein generalisiertes, verallgemeinertes System verpflanzt wird. Also deswegen ist er ja erst mal auch ein Gegner von organisierter Schule. Der Soziologe Niklas Luhmann hingegen, nennt diese ganze idealistische Zeit einen moralischen Mythos. Er sagt, das sind schöne Ideale. Heute gelte es, in den modernen komplexen Gesellschaften aber, eine adäquate Wahrheitstheorie zu entwickeln, also nicht mehr die Vernunft des Individuums solle zur Wirksamkeit kommen, sondern eine adäquate, die sich nicht mehr durch die menschliche Unmittelbarkeit definiert, sondern grundsätzlich im Sinne eines generalisierenden und abstrakten Codes von Regeln.

Konrad Schily: Also es gibt nicht die Wahrheit, sondern es gibt die Vereinbarung.

Thomas Brunner: Genau. Für Luhmann gibt es deshalb nur die Möglichkeit sich mit den bestehenden Systemen durch Kompromisse zu arrangieren. Realität haben für ihn nur der Markt und der Staat.

Konrad Schily: Ich halte den Luhmann für den Philosophen des Unwesentlichen, denn er macht ja alles Wesentliche zu einem Surrogat. Zu einem Vorgestellten. Und der Chomeni sagt, die Gemeinde in Allah ist einig und wer nicht einig ist, ist nicht bei Allah und den kann man umbringen. Und das macht der Westen auch. Der grenzt auch aus. Das ist die Vereinbarung. Ja, da gibt ´s mal Vereinbarungen hin und her. Also deutsche Rechtschreibung und so. Das ist dann wieder komisch. Aber manchmal ist es gar nicht komisch. Oder ich könnte auch sagen, Luhmann ist für mich jemand des „Dran vorbei“, ja? Ein Organismus ist etwas total anderes, als ein System. Aber alle Leute lieben heute das System. Das System tut. Na, das eignet sich wunderbar. Alle Moleküle versammeln sich im System und das System beschließt, ja? Das System beschließt also jetzt machen wir den aufrechten Menschen oder wir machen die Qualle oder so. Na, Unsinn ist das! Oder die Gehirnforscher sagen, das Gehirn überlegt. Ich sage, ja und heute Morgen kam ich ans Klavier. Da hat sich das Klavier Mozart überlegt. War wunderbar. Hab´s nur nicht gehört, weil da saß keiner, der Mozart spielt. Also da merkt man, wie man in die Täuschung gerät.

Ralf Gleide: Ja, mal eine freie Frage dazwischen. Jetzt noch mal, wenn man jetzt unterscheidet: Individuelle Existenz und kollektive Existenz und sagen, wir sind mit dem Staat und mit den Verabredungen im Reich dieser kollektiven Existenz und im Geistesleben brauchen wir aber die Individualität mit ihrer Ursprünglichkeit, wie Sie das auch in Ihrem Buch nennen. Warum haben Sie vorhin davon gesprochen, dass es gegenüber der Klüngelei eine Aufsichtsfunktion des Staates braucht? Also warum sehen Sie den Staat als die Instanz an, die diese Aufsichtsfunktion übernehmen muss.

Konrad Schily: Darum sagte ich ja eben, das kann eine Hilfskonstruktion sein, das muss nicht unbedingt der Staat sein, aber ich sagte ja noch wäre er´s. Ich bin damit nicht fertig. Ich meine schon, dass es Kontrollinstanzen braucht. Ich bin sehr für Therapiefreiheit, aber das muss absolut klar sein, dass man dem Schily als Arzt über die Schulter guckt und sagt: Was machst du da? Das muss im Prinzip offen sein. Rational. Auch wenn es intuitiv ist. Die Welt drängt ja auch immer mehr in Qualitätskontrolle, das ist alles ganz schrecklich, weil es wieder so unfrei ist. Wenn ich mich dann außerhalb der Regel bewege, bin ich schon fast bei Gericht. Dabei muss der Chirurg ständig von der Regel abweichen, weil der Blinddarm sitzt halt bei mir anders, als bei jemand andern oder so.

Clara Steinkellner: Da würde ich gerne noch einmal anknüpfen. In den Beiträgen zur pädagogischen Grundlagenforschung, 2009 erschienen, fragt Gregor Lang-Wojtasik in seinem Beitrag „Schule in der Weltgesellschaft“, in dem er an Luhmann anknüpft, wie gehen wir um, mit dieser Zunahme der Komplexität in der Weltgesellschaft? Die Welt wird immer komplizierter. Wie müssen wir uns um die nachwachsende Generation kümmern, damit die irgendwie eine Chance habe, sich eigenständig zu orientieren? Und da ist jetzt der Vorschlag von Herrn Gregor Lang-Wojtasik: „der Umgang mit einer universalen Zunahme der Komplexität von Informationen ist möglich durch eine globale Standardisierung allgemeinbildenden Wissens als Rahmen schulischer Bildungsprozesse und der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht als Teil universaler Bildungssemantik.“ Sehen Sie noch andere Wege?

Konrad Schily: (Lacht) Ich würde ihm ja empfehlen, dann mach mal schön, ja? Jetzt will ich mal so sagen: Unsere Welt ist nicht komplexer, als vor 100 Jahren. Sie ist nämlich die gleiche Welt. Wir haben da nur ziemlich viel reingebracht. Das nennen wir komplex. Also es gibt heute Eisenbahnen, Großjets, Computer etc. Das Auto vor 50 Jahren war relativ einfach: Hatte vier Räder, einen Lenker, einen Motor, eine Bremse, eine Feststellbremse, eine Hupe, vier Sitze, das war´s. Und ein Regendach. Und heute können Sie zum gleichen Preis 100 mal so viel Auto kaufen. Besteht nur noch aus Computern und wenn du dich hinsetzt, sagt es, wer sind Sie? So. Das nennen wir Komplexität. Also wir haben eine zunehmend technische Welt und die ist hochintelligent. Deswegen bemühe ich mich oder bemühen sich Leute in Namibia, wo ich ab und zu bin, wieder Autos zu kriegen, die einfach sind, die man auf der Farm reparieren kann. Es geht aber nicht um die Komplexität, sondern um diese verdammten Computer, die irgendwelche Teile sind, die irgendwo in Taiwan oder irgendwo gefertigt sind und bis die in Namibia und dann auf der Farm sind ist die halbe Regenzeit vorbei. Nun ist es ganz merkwürdig. Jetzt geh ich mal auf meinen Beruf zurück. Die Medizin ist heute hochspezialisiert, immer komplexer. Aber nur die kommen mit der Medizin gut zurecht, mit der hochkomplexen Medizin, die richtig Medizin können, nämlich mit der Hand am Arm. Selbstverständlich bin ich ungeheuer froh, dass es heute einen Kernspintomographen gibt und die Möglichkeit besteht, dass ich im Kleinhirnbrückenwinkel ganz versteckt den Tumor finde, den ich früher nie gefunden hätte, auch wenn ich den Patienten noch so gequält hätte. Das waren furchtbare Qualen. Dass das vorbei ist, ist ein toller Fortschritt. Aber es kann nur der, der richtig Medizin kann. Der kommt mit der Komplexität zurecht. Deswegen ist es ja so fantastisch, wenn ein Papua Neuguineaner, der mit zehn Jahren in die Schule kommt, mit 13 alles begriffen hat, mit 14 Jahren schon dasitzt und sich überlegt, wie man ein Flugzeug konstruiert. Warum kann der das? Weil der eine so gesunde Kindheit hatte, wo er ständig unbewusst mit Komplexität umging, denn sein Pfeil und Bogen ist nichts anderes als eine komplexe Ballistik, die er dann physiologisch begriffen hat. Und wenn unsere Kinder nicht gerade gehen können, wenn sie in die Schule sollen oder nicht gerade rückwärts gehen und schon gar nicht mit geschlossenen Augen, dann heißt das, sie durften nicht Ball spielen als kleine Kinder. Wenn sie das gedurft hätten, würden sie gerade gehen können, auch rückwärts, auch mit geschlossenen Augen. Weil sie ständig geübt haben. Also auch da machen wir uns was vor! Der erfahrene Arzt braucht weniger Labor und weniger Medikamente und weniger Gerät und ist wirksamer in der hochkomplexen Welt. Also die Standardisierung ist genau das Mittel, um die Komplexität nicht mehr begreifbar zu machen, vom Individuum her. Weil dann der Peruaner, der Javaner oder wer auch immer, sich nicht mehr so entwickeln kann, wie er sich entwickeln können sollte. Dann gibt ´s nur noch Kümmerwuchs.

Ralf Gleide: Inwiefern ist es noch sachgemäß auf die Universitäten als Orte ursprünglicher Innovation zu blicken?

Konrad Schily: Gar nicht mehr.

Ralf Gleide: Es gab Zeiten in Deutschland, vor dem 30jährigen Krieg zum Beispiel, da gab diese Kreise um Johann Valentin Andreae, da gab es um Jacob Böhme Kreise, das waren eher Freundeskreise, aber das waren Bildungsorte, eigentlich außeruniversitäre Kreise. Auch die anthroposophische Gesellschaft bei Steiner war der Versuch eine freie Bildungssphäre erst einmal im außeruniversitären Bereich zu schaffen, um auf diesem Feld, gewissermaßen, pionierhaft, etwa einen Raum zu entwickeln und von da aus dann zurückzuwirken auf die gesellschaftlichen Bereiche. Wie stehen Sie zu einem solchen außerakademischen oder außeruniversitären Ansatzpunkt für ursprüngliche Innovation?

Konrad Schily: Also jetzt muss man fragen, welche Innovation? Die deutsche Universität ist bekannt geworden durch die Personalpolitik von Althoff, im 19. Jahrhundert. Er hat viele innovative Forscher entdeckt und gefördert. Z.B. viele in der Medizin und sie dann berufen und durchgesetzt an der Uni, auch gegen den Willen der Fakultäten. Er hat nicht alle erkannt, aber er hat viele erkannt und das war ja schon so ein deutsches Zeichen, man konnte als Philosoph, wo man früher der Armut ausgeliefert war, nun an der Universität forschen, staatlich bezahlt, warm und regendicht. War ja schon gut. Und darin war Deutschland auch ziemlich führend. Aber die Innovation kam natürlich nicht aus den Universitäten, sondern das waren die Personen, die dann in die Universitäten gingen. Und jetzt nehmen Sie´s mal ganz technisch. Deutschland ist ein Land des Exports, Maschinen, ja Maschinenbau. Da kommt natürlich viel aus den technischen Hochschulen, weil die sehr praxisgerecht ausbilden, Doch wo kommt dieser Erfindungsgeist her? Da macht z.B. einer plötzlich Kehrmaschinen hier in Witten. Beliefert nun die ganze Welt mit Großkehrmaschinen für Flughäfen. Und da Deutschland nur 5 großgenuge Flughäfen für seine Kehrmaschinen hat, verkauft er eben eigentlich nichts in Deutschland, sondern in die ganze Welt. Und sein Pförtner spricht bereits vier Sprachen, denn der Pförtner muss ja verkaufen. Der Mann hat eine Lehre gemacht, der ist Schlosser, der hat nie eine Hochschule gesehen. Aber er ist hoch innovativ! Wo kommt das her? Also irgendwie hat´s die deutsche Regierung nie geschafft, diese innovativen Menschen ganz kaputt zu kriegen. Alle reden immer vom Mittelstand und dem geht ´s so schlecht, doch dann sind die immer wieder da. Das hat viel mit Individualität zu tun. Oft ist es ja so, dass die Institutionen dann die Innovation töten. Nicht nur bei uns. Das ist auch in der ganzen Welt vorfindlich. Also auch bei den Papua-Neuguineaern, wenn die im Stamm plötzlich was anderes machen, dann wird der geköpft. Schluss, aus. Was brauch man so jemanden, der nicht funktioniert? Also das ist nicht etwas, was jetzt typisch deutsch oder so ist.

Ralf Gleide: Sie haben ja vorhin auch dieses internationale Treffen beschrieben, wo also Individualitäten, die in verschiedener Weise in ihrer Art originär oder auch ursprünglich etwas entwickelt haben in Gespräche, in Begegnung miteinander gekommen sind und diese Art, wie sich dieser Raum damals gebildet hat, das schildern Sie ja sehr eindrücklich und ich hab das immer so verstanden, dass so ein Raum, wie die anthroposophische Gesellschaft, eigentlich auch so gedacht war. Dass in freier Weise ein Raum geschaffen wird und die Individualität nicht irgendwo nur in einer gesellschaftlichen Nische existieren kann, sondern sich auch artikulieren kann, in einem solchen sozialen Feld, so war mein Gedanke. Das man dafür auch Räume schaffen kann.

Konrad Schily: Ich hab jetzt in den letzten Wochen die Biographie von Ita Wegmann gelesen und dabei eben auch diesen ganzen Gesellschaftsstreit. Und da entwickelt ja der Biograph van Emmichoven, welchen gedanklichen Fehler man damals gemacht hat. Es gibt nicht die eine Gesellschaft. So hat es Steiner auch nicht gemeint. Sondern es gibt den Bauverein, der kümmert sich ums physische Goetheanum, es gibt die anthroposophische Gesellschaft, als gesellschaftliche Organisation der Menschen, die in der Anthroposophie etwas Anzuerkennendes finden, und dann gibt es die Hochschule. Und dadurch, dass Rudolf Steiner so kurz nach der Weihnachtstagung erkrankt ist, hat er das eigentlich nicht mehr vermitteln können. Und wenn man sich das dann so anschaut, dann ist die anthroposophische Hochschule vollstständig frei, aber voller Initiative und die anthroposophische Gesellschaft, die muss sich schon um ihre Leute kümmern, es müssen ja auch Beiträge gezahlt werden. Aber sie lebt eigentlich von dem, was aus dieser Freiheit kommt. Und dann gibt´s den Bauverein, der muss eigentlich relativ strikt sein und dann war es für mich interessant, da sind heute noch ein paar Leute drin, aber das sind nur fünf oder sechs. Diese Freiheitssphäre ist ja auch sehr schwierig zu beschreiben, auch wenn man das im Christlichen nimmt. Wenn man es institutionell denkt, ist man schon verkehrt. Also, wie finden sich denn die Leute, die den Unternehmer, den Kredit geben sollen? Also wer sitzt dann bei der Bank für Geben-Leihen-Schenken und macht das dann? Sind das dann nur Lehrer, weil die sind ja Geistesleben oder wie ist das?

Thomas Brunner: Ein Problem der gegenwärtigen Bildungsdebatte ist ja auch, dass man Bildung zumeist nach nationalwirtschaftlichen Kategorien aus richtet. Und es heißt auch immer, der „Standort Deutschland“ soll wettbewerbsfähig bleiben, als würde es hier um den großen Nationalstaatswettbewerb gehen. Ist es nicht notwendig wirklich ganz freie zivilgesellschaftliche Zusammenhänge aufzubauen? Steiner beispielsweise sprach ja vom Weltschulverein. Das war doch ein Wink mit dem Zaunpfahl, d.h. nicht nur unsere Schul-Gemeinschaft, unsere Betriebsgemeinschaft oder Staatsgemeinschaft, sondern eine transnationale Gemeinschaft, eine menschheitliche NGO wollte Steiner ins Leben rufen.

Konrad Schily: Könnte sein. Das wäre für mich noch nicht griffig genug, wenn ich Amnesty International sage, dann sehe ich Menschen, die unmittelbar bedroht sind, bei Greenpeace sehe ich den Walfisch, den Bären, den Eisbären, den Panda, was auch immer. Das ist auch die Stärke des WWF, der bemüht sich auch darum, solche Bilder zu schaffen, wie Greenpeace sie geschaffen hat, lang wirksame Bilder.

Thomas Brunner: Eine schöne Formulierung aus den „Ideen zu einem Versuch…“ von Humboldt: „Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfsleistung träger.“ Diese grundsätzliche Kritik am Versorgungsstaat, die ließe sich ja auch auf gegenwärtige Bildungssubventionen beziehen, das heißt, wie Heiner Müller, der ostdeutsche Dramatiker einmal formulierte: Die Intelligenz wird durch Privilegien stillgehalten.

Konrad Schily: Ja schön. Wunderbar!

Thomas Brunner: Also einfach das Problem, dass wir merken: hier reißt die Gesellschaft tendenziell auseinander, eine gewaltige reich-arm Schere entsteht und der Einzelne steht der Gesellschaft ganz partikular gegenüber. Das als Grundmotiv des Versorgungsstaates. Muss in diesem Sinne nicht aktiv an neuen Finanzierungswegen, z.B. an einem wirklich der Freiheit dienenden Stiftungswesen gearbeitet werden?

Konrad Schily: Stiftungswesen ist gut. Ich glaube, dass man viel konkreter werden muss: Ich würd´ die Banken verstaatlichen. Das hat bei der FDP immer große Verwunderung ausgelöst. Dann habe ich gesagt: Der Liberale darf es nicht zulassen, dass mit Rechten gehandelt wird! Und die Börse müsste man gleich hinterher verbieten! Wallstreet heißt Wallstreet, weil das der Wall, die Mauer war, an der früher die zu verhökernden Sklavinnen und Sklaven festgemacht waren. Das ist die Wallstreet und die macht heute nichts anderes. Die Amerikaner sind ja offen und sagen: Ja, so ist es, wir handeln jetzt nicht mehr direkt mit den Leuten, wir handeln nicht mehr mit Schwarzen, aber wir handeln jetzt mit allen. Da muss man rangehen! Es geht nicht an, dass ein Herr Middelhoff über die Börse, ganz wunderbar, zwanzig tausend Leute verspielt und dann auch noch dafür belohnt wird.Und das Zweite ist, dass man deutlich machen muss, wie es laufen könnte. Ein Beispiel: Sie haben das deutsche gesetzliche Krankenkassensystem. Da haben Sie Ansprüche und die Ansprüche wachsen und die Beiträge auch, es geht jeder gegen jeden. Da gibt´s einen Sieger, das ist die Pharmaindustrie! Die hat in den letzten 30 Jahren im Schnitt zwanzig Prozent am Umsatz verdient während einer der besten deutschen Maschinenexporteure in den besten Jahren bei drei, vier Prozent lag, das nur nebenbei. Nun, es gibt Solidargemeinschaften, die sagen: wir verpflichten uns zur Solidarität, aber daraus entwickelt sich kein Anspruch. Und plötzlich ist das Ding frei, und man kann wieder Therapiefreiheit, aber auch Solidarität denken. Plötzlich kommt alles wieder in ein wirtschaftliches Maß, die Patienten haben einen Basissatz von 350 Euro statt 500 Euro bei der gesetzlichen Krankenkasse... Aber keiner ist interessiert dran! Weil sie nichts dran verdienen! Die Pharmaindustrie sitzt da und sagt: Das ist nichts, das wollen wir nicht! Also ich meine, man muss ganz konkrete Dinge machen.Es ist also differenziert. Wenn ich in Namibia arbeite und dann sag ich der namibischen Regierung: Eure verdammten Lehrbücher müssen raus, denn was interessiert einen Erero, der in Otjiwarongo groß geworden ist, wie die Thronfolge der englischen Monarchie war! Und dann liest euer Lehrer das auch noch vor, anstatt die Dinger einzusammeln und zu sagen: Macht mal ein schönes Feuer!

Thomas Brunner: Dazu vielleicht ein Aspekt: Es geht ja nicht nur um Aufklärung, sondern es geht um eine Sphäre der Individualitäten, wo der einzelne nicht nur eine Nummer ist, nicht nur „eine Rolle spielt“, sondern wo er wirklich als Individualität wirksam werden kann. Sie fahren ja jetzt als ein initiativer Mensch nach Namibia, das ist ja schon das, wovon ich rede. Also dass einfach eine Begegnungssphäre im Bildungsbereich übernational eröffnet wird. - Aber dafür kann man doch auch Organe bilden...

Konrad Schily: Na klar, da können Sie natürlich eine Stiftung für gründen! Dann bin ich wieder dabei.

Clara Steinkellner: An der Universität Wien, an der ich ja auch inskribiert bin, war im vergangenen Herbst einiges los. Da haben sich ja ganz spontan Proteste entzündet gegen die Art, wie die Uni umgebaut wurde in den letzten Jahren. Es war spannend, ein echter Gemeinschaftsgeist war spürbar, man hat sich verantwortlich gefühlt für diese Uni, Grundsatzdebatten wurden angestoßen: Was ist Bildung? Wozu Universität? Was tun wir hier eigentlich? Vieles war in Bewegung. Wessen Uni? Unsre Uni! war der Slogan auf den Demos - gleichzeitig wurde „unsere Uni“ durchgehend als eine staatlich verwaltete Uni verstanden. Der Hauptadressat der ganzen Wut war der Bildungsminister, der endlich mehr Kohle rausrücken und die Diplomstudiengänge wieder einführen soll. Nun, was raten Sie Studierenden, die sich für eine freie Bildung engagieren?

Konrad Schily: Also, ich fand diesen Streik so lieb, der war richtig nett. Aber dieser „Elternprotest“ führt nicht weiter. Man kann zu Hause auch sagen: ich will nicht immer abspülen!, das ist dann ja auch wirksam, das ist auch richtig. Und insofern hat der Protest ja auch wachgerüttelt und wie die Politiker so sind, haben die dann alle den Studenten nach dem Mund geredet. Aber dieser Protest hat nicht den Staat in Frage gestellt, sondern nur meine Funktion als Glied im Staat, ich war sozusagen tariflicher Teilnehmer im Staat.Die 68er waren tiefer dran. Aber sie haben auch keinen Freiheitsgedanken gehabt, sondern sie wollten im Grunde die Eltern dahin verwiesen wissen, wo sie auch hingehören. War ja nicht falsch, aber sie hatten dann darüber hinaus ganz wirre Gedanken, mal mehr links sozialistisch, mal mehr marxistisch, aber das wirklich Neue war nicht da. Und dass sie dann zum Schluss nur noch um sich geschlagen haben, das ist auch ein individuelles Schicksal, auch provoziert vom Staat. Wenn ich mich heute wirklich bilden will, kann ich nur gucken, wo muss ich mit den Wölfen heulen und wie kann ich mein eigenes Studium machen. Dann wird´s mir manchmal leichter gemacht und manchmal schwerer. Wenn Sie in Witten-Herdecke Medizin studieren, können Sie ein anthroposophisches Begleitstudium machen, Sie können ein chinesisches Begleitstudium machen, da wird es einem also einfach gemacht. Das müssen Sie aber nicht machen. Sie können ein Studium fundamentale machen, das ungeheuer lohnend ist und Sie können es sozusagen auf einer Backe absitzen. Der Bildungsweg ist also ganz individuell.

Ralf Gleide: Noch mal anknüpfend an die Frage, was raten Sie Studierenden, die sich für eine freie Bildung engagieren, möchte ich Sie fragen: wo sehen Sie in der heutigen Welt konkrete Ansatzpunkte oder bestehende Initiativen, um global auf die Aufhebung der staatlichen Vormundschaft und der staatlichen Bewirtschaftung der Universitäten hinzuwirken?

Konrad Schily: In den Waldorfschulen, in den Waldorfkindergärten, in Teilen der Montessori-Bewegung. Vor allem denke ich, dass es an Waldorfschulen immer noch viele Menschen gibt, die mich eben nicht zu einem Werkzeug des Bruttosozialprodukts machen wollen, sondern die sagen: „Der kleine Konrad ist zwar frech, aber doch ein ganz netter Kerl und ein bisserl´ dumm ist er auch, aber lassen wir ihm Zeit.“

Clara Steinkellner: Zurück zum Stichwort Universität als Bewusstseinsbildungsraum, als Reflexionsraum für das, was gerade abgeht - Gerade die Tendenzen der global organisierten Wirtschaft sind ja nach wie vor besorgniserregend,… Umwelt- und Sozialkosten werden konsequent externalisiert, globale Wertschöpfungsketten sind durch asymmetrische Machtverhältnisse gekennzeichnet, sodass ganze Kontinente zu Rohstofflieferanten degradiert werden; die Befriedigung von realen Bedürfnissen steht längst nicht an erster Stelle, Sonderinteressen der einzelnen Nationalstaaten durchkreuzen den gesunden Fluss permanent. Und jetzt ist die Frage, wie können sich Universitäten da hineinstellen, inwieweit ist es möglich da aktiv zu einer nachhaltigeren Entwicklung beizutragen? Man ist auf der einen Seite dem Wettbewerb ausgesetzt ist, den diese Wirtschaft erst einmal mit sich bringt und auf der anderen Seite hat man ja auch die Möglichkeit, die Gesetze dieses Wettbewerbs in Frage zu stellen und genau zu schauen, wo sind da eigentlich Dinge, die anders werden müssen, wenn wir als Menschheit dieses Jahrhundert überleben wollen ?

Konrad Schily: Da sind Sie ja mitten bei Steiner: Es gibt Dinge, die marktfähig sind und es gibt Dinge, die dem Markt nicht zugänglich sein dürfen. Also kann es eigentlich nur so sein, dass wir, und da ist der Steinersche Gedanke mit Sicherheit richtig, dass ich in einer arbeitsteiligen Wirtschaft vom Kollektiv lebe, aber dass ich kein Gegenstand des Handels dadrin sein kann! Sodass ich nicht sagen kann: krieg ich Sie für acht Euro oder für sechs Euro, sondern dass das außerhalb meiner Macht ist, und es Ihre Entscheidung ist, zu sagen, ich arbeite mit Ihnen zusammen!Heute ist es anders. Sie gehen für zehn Euro lieber hin als für neun, ist doch klar. Manche Waldorfschule blutet aus, weil der Staat sagt, Wir sind zwar beschissen, aber bei uns haste Pension! Der Kapitalismus ist darauf eingerichtet, die Welt zu zerstören, weil er von seiner inneren Anlage her ein Raubinstrument ist. Und in dem Moment, wo ich sagen kann, wir wollen Tennisbälle haben und die sind günstig in China zu produzieren, weil die das Gummi da haben oder so, dann ist es ja gut. Aber es kann nicht sein, dass sie billig sind, weil die Menschen da unterdrückt oder versklavt werden.Der Kapitalismus ist ein Raubtier! Und ein Raubtier kann sich lange in der Schafherde aufhalten, bis alle Schafe ausgerottet sind - dann stirbt´s auch.

Clara Steinkellner: Diese Dramatik ist ja vielen bewusst, ich erleb es gerade in meiner Generation, dass man sich innerlich aufreibt mit der Frage: „Wo soll ich denn heute noch anknüpfen?“ Und da ist Steiners Analyse für mich ein ganz großartiger Schlüssel, dass er nämlich sagt, solang die Bildung so abstrakt verwaltet wird, solange da die grundfalschen Dinge tradiert werden können, eben in regengeschützten und geheizten Räumen, solang der Staat die Bildung und die Wissenschaft verwaltet, werden wir nicht wirklich wach werden. Und da sind wir ja auf der Suche mit der Freien Bildungsstiftung langsam in dem Sumpf irgendwie Sand aufzuschütten und ein paar Trittsteine zu platzieren, dass diese Dinge überhaupt öffentlich in Erscheinung treten können…

Konrad Schily: Sie haben ja eben gefragt, warum macht man eine Stiftung? Meine Frage ist immer, warum gehen so wenige in die Parteien oder die Politik? Warum überlässt man dieses Feld so sich selbst. Das ist ganz furchtbar! Vernünftige Leute, so wie Sie, müssten rein in die Politik.

Clara Steinkellner: Wenn wir aber wollen, dass bestimmte gesellschaftliche Bereiche überhaupt nicht mehr politisch administriert werden?

Konrad Schily: Ja, aber wer soll´s denn ändern? Den Menschen ändern wir nicht. Schon Brecht sagt, also zu dem Tierthema, der Bürger genießt das Schnitzel mit Wohlbehagen und verachtet den Metzger moralisch. Man muss rein in die Politik! Also gerade bei der ganzen Gentechnikdebatte, hätt ich da nur einen in der Fraktion gehabt, der mitgezogen hätte, ja dann wär die Fraktion aufgewacht. Da sagen zwaralle: Also wirklich, nur vierzehn Arbeitsplätze entstehen durch Gentechnik? Da sage ich, natürlich, ja, wenn´s hoch kommt! Aber gucken Sie sich mal an, wie viel vernichtet werden! Dann sagen sie immer, das ist der Professor, der philosophiert. Wenn da nur fünf gesessen hätten, die mich unterstützt hätten, dann hätte ich die Fraktion umdrehen können.

Clara Steinkellner: Ja, aber wäre es da nicht auch wichtig, dass in der Zivilgesellschaft mehr Substanz entsteht und man da dann mit politischen Organen ganz anders zusammen arbeiten kann?

Konrad Schily: Die Grünen zeigen ja, dass die durch die Institutionen gegangen sind. Und sie haben ja einiges bewirkt!

Ralf Gleide: Doch man könnte es auch so sehen, dass die Grünen, solange sie noch eine wirkliche Basisbewegung waren, also eine außerparlamentarische Bewegung, dass sie da eine gesellschaftliche Bewegung waren, und dass sie sich in dem Maße, wie sie eine konventionelle Partei geworden sind, immer mehr eigentlich von der Gesellschaft entfernt haben...

Konrad Schily: Da bin ich völlig bei Ihnen. Nur trotzdem: Sie hätten keine Kernkraftbegrenzung, wenn es die Grünen nicht gäbe, als staatliche Partei. Also das, was angekommen ist, ist der Rest der Überzeugung, der noch da ist. Um nicht ganz zu verspielen beim Volk. Natürlich, als die hier in Nordrhein-Westfalen in die Regierung kamen, haben sie gnadenlos erstmal Versorgungspolitik betrieben. Wie die FDP jetzt nach der Wahl. Gnadenlos! Also, es ist richtig, aber kein Argument dagegen.

Thomas Brunner: Steiner hat 1919, aber auch die Jahre danach deutlich zu machen versucht, wie er sich freie Schulinitiative vorstellt. Zum Beispiel sagte er: Nehmt dem Staat die Schulen ab, damit die Schulen um ihre Existenz kämpfen müssen. Damit! Also er sagte im Grunde, es muss die Selbstverwaltung als Arbeitsproblem erlebbar werden. Nicht nur intern in der Glocke, sondern wirklich bis ins Wirtschaftliche soll die Kraft erlebt werden, die es braucht, um eine Sache wirklich frei auf den Weg zu bringen. Das ist die Geste, die er anlegen wollte. Daraus kann das Geistesleben bis ins Wirtschaftliche, also bis in die Kapitalfragen der Gesellschaft ausstrahlen, und dieses Geistesleben wird durch die radikale Selbstständigkeit auch kräftiger und wirksamer. Das ist, finde ich, ein beachtenswerter Gedanke! Nun, Warren Buffett und Bill Gates treten gegenwärtig mit einer Aufsehen erregenden Spendenaktion in Erscheinung, hier wird also zumindest thematisiert: Schenkungsgeld gehört dazu! Steiner brachte ja diesen großen Impuls, dass er sagte: das Schenkungsgeld muss als eigene Kategorie in die Volkswirtschaft eingedacht werden. Das darf nicht ein willkürliches Element bleiben, sondern Schenkungsgeld ist eigentlich eine notwendige Konsequenz des ökonomischen Prozesses. Dass also das Schenkungsgeld immer mehr die Steuer als staatlich erzwungene Schenkung ersetzt. Dazu kommt ja das Problem der Staatsverschuldung, das als Nebeneffekt mit sich bringt, dass die Subventionen nach immer strengeren Kriterien vergeben werden. Müssen wir nicht wirklich den Begriff des Schenkungsgeldes sehr intensiv in den ganzen Prozess einführen, und zwar eben als volkswirtschaftliche, sozialwissenschaftliche Kategorie und nicht nur als moderne mäzenatische Geste?

Konrad Schily: Unbenommen. Schenkungsgeld, bei Steiner ist ja das Geld, das sozusagen im gesellschaftlichen Blutkreislauf die Erneuerung ist. Was Buffet und Gates machen, das würd ich eher mit Max Weber charakterisieren. Die amerikanische Kultur ist eben eine protestantische Kultur, und da gibt es ein Gesetz: Du darfst nicht reich sterben, sonst kommst Du nicht in den Himmel! Es gibt auch den berühmten Aufsatz eines amerikanischen Universitätspräsidenten, des Herrn Casper aus Stanfort: „Von der Angst reich zu sterben“. Daraus hat sich eine ganz andere Kultur entwickelt. Der eigentlich volkswirtschaftliche Prozess heißt Schwundgeld und das war bereits ein Vorschlag in Bretton Woods, von unserem großen John Maynard Keynes! Der hat in Bretton-Woods vorgeschlagen, es gibt ab sofort zwei verschiedene Dollar. Einen, für die Festhandelswährungsländer und einen Entwicklungshilfe-Dollar, dessen Wert und zwar jährlich um 12% schwindet! Und warum? Damit dieser verdammte Dollar ausgegeben und nicht in der Schweiz gebunkert wird, also nichts anderes als Korruption bewirkt. Unterlaufen wurde dieser Vorschlag von den amerikanischen Banken, die ihre Geschäfte gefährdet sahen. Das wirkt weit herein, z.B. bis zu Alfred Herrhausens Rede zum Weltbanktag: Wir könnten ja auch denken, die Schulden zu erlassen. Das sind sozusagen langperiodische Schwingungen. Aber selbst in der Form, in der Gates das macht, ist das natürlich noch eine Erfrischung, denn stellen Sie sich vor, dieses Geld würde nicht verschenkt, sondern gebunkert, es würde noch mehr Unrecht auf der Welt anrichten. Denn dieses Geld, was da Zins, Anlage und Gewinn sucht, das wirkt nur zerstörerisch. Und in dem es jetzt weggegeben wird, bringt es zwar noch nicht die Erfrischung, die Steiner meint, aber es ist zumindest schon eine Teilerfrischung. Und je freier es gegeben wird, desto erfrischender ist es! Denn es heißt ja oft: Ja, wenn ich Ihnen das schenke, dann darf ich wohl erwarten, dass…. Da hab ich immer als Unipräsident gesagt: Herr Doktor, sie wollen mir ein Geschäft anbieten, kein Geschenk! Wenn ich Ihnen fünfzig Euro anbiete, verkaufen Sie mir ein Hemd. Das ist ein Geschäft. Und es ist genau, wie Steiner sagt, Ihnen sind die fünfzig Euro lieber und mir ist das Hemd lieber. Sonst würden wir nicht tauschen. Also Sie geben mir das Geld und ich soll den Professor ernennen? Nene, das wäre ja ein Geschäft...“

Ralf Gleide, Thomas Brunner, Clara Steinkellner: Vielen Dank für das Gespräch!

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