Schulische Bildung - Lernen im Bildungsnetz

01.10.2009

Lernen für ein besseres Über-Leben?

Das Klagen über die Bildung der jungen Menschen in Deutschland ist groß. Ihr Wissen sei unzulänglich und das soziale Klima in den allermeisten Schulen selbst für die LehrerInnen häufig gesundheitsschädlich.

Wer bestimmt über Schule?

Wer bestimmt über das Wie, das Was und das Wo des Lernens? Die Entscheidungsgewalt hat der Staat. Eltern in Deutschland haben letztlich keine Wahl, sie müssen sich, unter Androhung von Gefängnis und Kindesentzug, beugen und ihre Kinder dazu bringen, dass auch diese sich fügen. Inhaltlich sollen die Erwartungen der Wirtschaft erfüllt werden. Das hat eine noch immer anschwellende Flut von Richtlinien, Evaluationen und Prüfungen zur Folge. Der Druck auf die jungen Menschen äußert sich im beängstigend steigenden Konsum von Psychopharmaka und in Schulverweigerung bis hin zu zerstörerischen Feindseligkeiten der Kinder gegen sich selbst oder gegen Andere. Vierzig Kinder täglich machen einen Selbstmordversuch und täglich endet ein weiterer tödlich.

Da stellt sich die Frage: entscheidet die Art und Weise, wie wir lernen, über die Qualität unseres Lebens? Gilt ebenso, dass die Art wie wir leben zugleich auch unser Lernen beschreibt?

Wenn das so ist, ist zu fragen: Wie wollen wir leben? Und: Welche Wirkung hat die Art und Weise unseres Lebens und Lernens auf die menschliche Gemeinschaft?

Zu den Erfahrungen mit einem Bildungsnetz

Über die Auseinandersetzung mit diesen Fragen hatte sich in den achtziger Jahren in Bayern ein Freundeskreis von rund fünfzig Menschen um die selbst organisierte Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft „pars pro toto“ (Der Teil steht für das Ganze) gebildet. Das selbst bestimmte Leben und Lernen, wie wir es in diesem Netzwerk mehr und mehr verwirklichten, wollten wir auch unseren Kindern ermöglichen. Wir waren allerdings überzeugt, dass Geborgenheit, gepaart mit Offenheit und Vielfalt, sich in einer Institution wie Schule, zumal unter deutschen Bedingungen, so nicht würde entfalten können.

Wir gründeten unter dem Namen „Temenos“ ein offenes Bildungsnetz, in dem auch die Kinder ihre Bedürfnisse verwirklichen konnten. Wir gingen davon aus, dass in allen Menschen, ob jung oder alt, ein elementares Interesse an Bildung vorhanden ist. Deshalb konnte Temenos nicht einfach ein Ersatz für eine ungeliebte Schule sein, sondern war etwas grundsätzlich Neues. Dies galt, entsprechend unserer gesamten freiwilligen und selbst bestimmten Struktur, vor allem für deren Inhalte und die Konsequenzen. In diesem geschützten sozialen Umfeld lebten und lernten partnerschaftlich elf Mädchen und Jungen, begleitet von der Autorin und weiteren, freundschaftlich engagierten Menschen. Wir nannten es die „Temenos Lerngruppe“.

Notgedrungen blieb das Bildungsnetz außerhalb von Schule, d.h. der Legalität. Unter Androhung hoher Bußgelder setzte die staatliche Kontrolle dem blühenden Bildungsprojekt nach vier Jahren ein Ende.

Der aktuelle Stand

Mit der Kerngruppe des damaligen „Temenos“ begründeten wir fünfzehn Jahre später in einer dünn besiedelten Region in Ostvorpommern, zusammen mit engagierten Einwohnern, die ebenfalls Bildungsfreiheit im Sinne des Temenos für ihre Kinder verwirklichen wollten, erneut einen vitalen, sozial, kulturell und wirtschaftlich vernetzten Zusammenhang. Gestützt auf die Erfahrungen in Bayern streben wir diesmal den Weg einer kultusministeriellen Ausnahmeerlaubnis für einen Modellversuch an.

Wir geben dem Projekt (heute pragmatisch „Familienschule“ genannt) eine Chance, weil sich inzwischen nachweisen lässt, dass die offene und zugleich verbindliche Struktur einer freien Lerngruppe Kindern optimale Bedingungen für ihr Lernen und ihre Entfaltung bietet. Von der Basis eines geborgenen sozialen Zusammenhanges aus können sie sich kreativ den jeweiligen Herausforderungen ihres Umfeldes und ihrer Zeit stellen.

Aber nicht nur das. Durch das auf Gemeinschaft hin orientierte Lernen im konkreten Alltag ist „Familienschule“ für Singles, Klein- und Kleinst-Familien zugleich Motivation zur Begründung neuer, vitaler Lebensformen. In ihrer Verbindung von gegenseitiger Unterstützung können sie ihre Potenziale fruchtbar einbringen. Dies wurde durch die Erfahrungen in Bayern und jetzt wieder durch die fortschreitende Vernetzung in unserer Region bestätigt.

Unter den Umwälzungen unserer Zeit drohen die bekannten institutionellen Formen, wie zum Beispiel „Schule“, zusammen zu brechen. Auch deshalb bedürfen wir solcher Zusammenschlüsse von der Art neuer Nachbarschaften, wo sich die Beteiligten kennen und wo soziale Beziehungen in einem solidarischen Miteinander, das alle Lebensbereiche umfasst, gelebt werden können. Also: Lernen für ein besseres Über-Leben – durch ein Lernen im Leben selbst.

Anke Caspar-Jürgens lernte sowohl als Kind als auch als Lehrerin und als Mutter von zwei Kindern eine Vielzahl von Schulen, Schulkollegien und Klassen kennen. Sie war Initiatorin und Mitarbeiterin der ersten Alternativ-Schule in Hamburg sowie einer neuen Art der Bildung von Kindern in geborgenen sozialen Zusammenhängen. Die Dokumentation zu Letzterem "Lernen heißt Leben" erscheint im Frühjahr 2010 im Drachenverlag.

Anke Caspar-Jürgens 2009, Kontakt über: acj@bvnl.de

Mehr zum Thema: