Die Sekem Vision - Die "Anbeter der Sonne"

01.04.2004

Auszug aus Die Sekem Vision - Eine Begegnung von Orient und Okzident verändert Ägypten

In der Zeit vor Einstellung der Pestizidspritzungen über den Baumwollfeldern hatte die Regierung feste Verträge mit den Fluggesellschaften und der chemischen Industrie unterhalten. Aus diesem Grund war es dem Minister im ersten Jahr gar nicht möglich gewesen, sofort auf unsere Forderung nach Einstellung der Spritzungen einzugehen. Aber nach drei Jahren, als wir auf den Testfeldern eine biologische Alternative zeigen konnten, kündigte er die Verträge. Das war ein mutiger Schritt. In seinem Ministerium gab es aber weiterhin Stimmen, die behaupteten, dass wir schädlich für das Land seien. Natürlich haben wir dem mit viel Aufklärungsarbeit entgegengesteuert. Wie oft habe ich in dieser Zeit der Umstellung aber auch im Stillen gebetet, dass alles gut gehen möge!

Einige Wochen später erschienen in den großen Tageszeitungen in Kairo Artikel, die beweisen wollten, dass das biologische Wirtschaften nur für die Reichen tauge, die die höheren Preise, die natürlich maßlos übertrieben wurden, bezahlen konnten. Andere Zeitungsartikel gaben vor, dass sich nicht einmal die reichen Industrieländer die biologische Anbauweise leisten könnten - wenn schon nicht diese, dann die ärmeren Völker wohl erst recht nicht. Wie aber sollten Hunderte Millionen von Menschen auf der Erde ernährt werden, wenn nicht durch den Kunstdünger die Erträge erhöht würden? Das biologische Wirtschaften wurde kalt als Versagerprinzip deklariert. Man behauptete sogar, dass wir die Menschen verhungern lassen wollten. In vielen Beiträgen wurde SEKEM auch namentlich erwähnt und ich bekam anonyme Anrufe, die mir drohten. Es gab allerdings auch andere, die mir Mut machen wollten und die mir sagten: "Gib nicht auf! Die Sache ist gut!"

Im ganzen Land machte sich eine Kampfstimmung breit und Diskussionen wurden losgetreten, die uns eigentlich nur recht sein konnten. Wir merkten, dass die Angriffe die Verkaufszahlen unserer Firmen nicht negativ beeinflussten, obwohl sie unseren Ruf schädigen wollten. Wir wurden als "Aristokratenfirma" bezeichnet, die angeblich nur die Deutschen fütterte.

Das war alles noch zu ertragen - bis eines Tages in einer lokalen Zeitung ein seitenlanger Artikel mit der Überschrift "Die Anbeter der Sonne" erschien. Ein Journalist hatte ohne unser Wissen SEKEM besucht und auf einem Foto festgehalten, wie wir donnerstagnachmittags, dem Ende der Arbeitswoche, im Kreis stehen. Er stellte die Frage, was wir dabei machten, und beantwortete sie selbst mit der Behauptung, dass wir dabei - die Sonne anbeteten! Er hatte das Rundhaus aufgenommen, berichtete auch über andere runde Formen in und vor den Firmen - in seinen Augen alles Sonnenzeichen! Zum Schluss zitierte er noch einen Mann der Schulbehörde, der wörtlich berichtete: "Dr. Abouleish stand vor der Klasse und fragte die Kinder: Wer ist euer Gott? Die Kinder antworteten wahrheitsgemäß: Allah! Da sagte er ihnen: Nein, nicht Allah. Ich bin euer Allah! Das habe ich selbst so erlebt", log dieser angebliche Schulrat weiter.

Für die Muslime aber bedeutete Sonnenanbeter soviel wie in Europa Satansverehrer. Die Menschen waren aufgewühlt. Dass es so etwas in ihrem Lande gab! Ihre Empörung machte sich Luft. Mitarbeiter von SEKEM wurden beschimpft: "Stimmt das? Ihr seid Sonnenanbeter?" Sekem-Arbeiter wurden mit Steinen beworfen. Der Zeitungsartikel machte in ganz Ägypten die Runde.

Da bekam ich einen Anruf vom Chef der geheimen Staatssicherheitspolizei, der mich zu sich bat. Als ich sein Büro betrat, sah ich auf seinem Schreibtisch die Zeitung liegen. Er zeigte lachend darauf und sagte: "Was wollen Sie zu dem Zeug da sagen?" Da ich ihn nicht kannte, wartete ich erst einmal ab. Er fuhr fort: "Wir hier wissen genau, dass kein Wort von dem stimmt, was da an Vorwürfen gegen Sie erhoben wird. Ich rate Ihnen aber, wehren Sie sich und prozessieren Sie gegen diese Leute! Das können Sie nicht so stehen lassen!" Jetzt erst bestätigte sich für mich, was ich schon immer gedacht hatte, dass natürlich auch SEKEM, wie alle größeren Betriebe, aus Angst vor Fundamentalisten in der Mitarbeiterschaft Spitzel der Staatssicherheit hatte. Ich folgte seinem Rat und begann mit einem Prozess gegen die Zeitung, wohl wissend, dass er Jahre dauern würde.

Aufgrund des Artikels begannen nun die Vorbeter in den um SEKEM gelegenen Moscheen, die Menschen gegen uns aufzuhetzen und zu verbreiten, dass wir nicht Allah anbeten würden, sondern die Sonne. Unter ihnen saßen Mitarbeiter von SEKEM, die wussten, dass alles nicht stimmte. Doch wer durfte in der großen Masse aufstehen und etwas gegen den Imam sagen! Ich fürchtete, dass es den geschädigten Chemiekonzernen nun doch gelungen war, uns mit viel Geld kleinzukriegen.

Sollten wir dagegen kämpfen oder den anderen Weg wählen, den friedlichen, der den Feinden den Wind aus den Segeln nimmt?! - Ich suchte den zweiten, wie schon zuvor bei dem Konflikt mit den Beduinen. Zehn Vertrauensleute aus der Mitarbeiterschaft bekamen den Auftrag, jene Leute, die in der Zeitung zitiert wurden, sowie den Bürgermeister und einflussreiche Scheichs der Umgebung nach SEKEM einzuladen. Wir vereinbarten einen Termin und ich schärfte ihnen ein, dass jeder verantwortlich dafür sei, dass die Leute auch wirklich kämen. An dem angesetzten Donnerstag empfing ich sie alle im Mahad. Sie kamen herein, eine gewaltige Männerschar in weiten, langen Gewändern. Ich begrüßte sie mit Handschlag, den sie ungern erwiderten. Doch ich blieb ganz ruhig. Als alle Platz genommen hatten, bat ich einen Scheich, einen Vers aus dem Koran vorzutragen, was er mit seiner schönen Stimme tat. Als er geendet hatte, winkte ich Musiker von SEKEM herein, die begannen, eine Serenade von Mozart zu spielen. Da stand plötzlich ein Mann wütend auf, schlug mit der Faust auf seine Stuhllehne und rief: "Das Teufelswerk hören wir uns nicht an!" Ich ging auf ihn zu, während die Musiker tapfer weiterspielten, und sagte: "Beruhige dich und hör erst einmal zu Ende!" Darauf ließen alle Anwesenden die "schrecklichen" Mozartklänge über sich ergehen. Nachdem die Musiker den Raum verlassen hatten, bat ich die Männer, sich zu äußern. Einer stand auf und donnerte gleich los: "Musik und Kunst sind im Islam verboten. Der Prophet hat es so gesagt!" Ich fragte ruhig zurück: "Steht das im Koran?" - "Nein, das ist vom Propheten!" - "Ich glaube an jedes Wort im Koran und auch an das des Propheten. Ich muss es nur erst sehen!", erwiderte ich. - "Ich bringe es dir!" - "Gut, ich warte, bis du es mir bringst!" So begann die Versammlung. Die Stimmung war aufs Äußerste gespannt und drohte jeden Augenblick zu eskalieren.

Aufgrund der Fragen begann ich nun zu erzählen, wie Allah von allen seinen Geschöpfen die Menschen als seine Nachfolger auserwählt hat. Einige nickten, denn ich belegte, auswendig zitierend, alles aus dem Koran. Allah sagt: "Wir sind verantwortlich der Erde, den Pflanzen und Tieren gegenüber." Denn Allah hatte vorher diese Verantwortung dem Himmel und den Bergen angetragen, aber sie hatten abgelehnt. Es war zu viel für sie. Nur der Mensch nahm sie auf sich. Diese Verse kannten sie alle (Sure 33, Vers 72).

Nun sprach ich weiter über die tote und die lebendige Erde, wie es auch im Koran steht. "Allah ist der Spalter des Samenkorns und Fruchtkorns. Er zieht das Lebendige aus dem Toten und zieht das Tote aus dem Lebendigen" (Sure 6 Vers 95). Jetzt tat sich eine Schwierigkeit auf, der ich bei meinen Schulungen der Landwirte schon öfter begegnet war. Die Menschen, die mir gegenüberstanden, waren nämlich gewohnt, alle diese Koranworte nur abstrakt zu nehmen und sich nichts Konkretes darunter vorzustellen. Ich führte ihnen nun anhand von Beispielen aus, was diese bildhaften Verse für das praktische Leben bedeuten könnten. Ich schilderte die Millionen von Mikroorganismen und ihre Tätigkeiten im Boden und erzählte auch, dass eine lebendige Erde im Kontakt mit dem Himmel stünde. Dann zitierte ich wieder: "Die Sonne und der Mond laufen ihre vorgeschriebene Bahn. Die Sterne und die Bäume verneigen sich vor dem Herrn. Und die Himmel hat er emporgehoben und in Balance gebracht. Stört das Gleichgewicht nicht und haltet das rechte Maß und verliert es nicht" (Sure 55 Vers 59). Danach fragte ich sinngemäß: "Wie kann nun dieser Kontakt mit dem Himmel gefördert werden? Was ist die Pflanze? Ist sie nur das Samenkorn, das wir in die Erde legen, oder empfängt dieses Korn Leben von Allah, damit aus dem Korn die verschiedenen Pflanzenarten hervorkommen? Denn Allah sagt: Nicht ihr baut an, sondern Allah baut an. Er lässt die Pflanzen wachsen!"

Zwischendurch machte ich kleine Pausen und ließ Raum für Fragen. Dann sprach ich über das biologisch-dynamische Wirtschaften, über den Kompost und die Präparate und führte aus, wie dadurch die Erde verlebendigt würde. Ich erläuterte, wie wir bei der Aussaat nach Sternenkonstellationen schauen und uns dabei durch Allah zum richtigen Tun inspirieren lassen. Nun brachte ich die Rede auf die Überheblichkeit der Wissenschaft, die meint, dass allein die physischen Stoffe die Pflanzen wachsen lassen, und nicht Allah. Deswegen verwendete man Kunstdünger und chemische Gifte und übersähe die Folgen für die Gesundheit der Menschen und die Auswirkungen auf den Insektenbefall.

Plötzlich stand einer von den Leuten auf, kam auf mich zu und umarmte und küsste mich. Ich bemerkte, dass einem anderen Tränen in den Augen standen. Was hatte diese gestandenen Männer so berührt? Viele waren erschüttert darüber, wie konkret die Verse des Koran verstanden werden konnten. Sie fühlten offenbar ihre Religion durch meine Ausführungen tief bestätigt. Auf das bohrende Fragen eines Teilnehmers hin erklärte ich die Bedeutung der Stellung von Sonne und Mond für das Wachstum der Pflanzen. Und als zum Schluss nur noch drei sehr intellektuell geprägte Anwesende nicht überzeugt waren, wies ich auf die Sure "Der Stern" hin, in der geschildert wird, wie der Prophet die fünf Gebetszeiten von Allah empfing: "Und das Ewige im Menschen sah Ihn noch einmal herabkommen, beim Sykomorenbaum, am Ende des Weges, der Heimstätte des Paradiesgartens. Das göttliche Licht überstrahlte den Baum. Da wich der Blick des Ewigen im Menschenwesen nicht ab und suchte nicht in der Ferne. Wahrlich, er sah von den Zeichen seines Herrn die größten." Was hatte der Prophet gesehen? - Einen Baum, der von Licht überstrahlt war. Er sah die Lebensgestalt des Baumes, die lebendigen Prozesse, die in dem Baum vor sich gehen und die sich physiologisch im pflanzlichen Leben wie folgt abspielen: Wenn die Morgenröte naht, beginnen die Pflanzen, Zucker zu bilden, bis die Sonne im Zenit steht und dieser Prozess aufhört, dann nämlich, wenn die Sonne Schatten wirft, die so lang sind wie die Pflanze selbst. Das ist am Nachmittag. Der Zeitpunkt ist natürlich über das ganze Jahr hin verschieden, entsprechend des Sonnenlaufes. Vom Nachmittag bis Sonnenuntergang transportiert die Pflanze den Zucker, den sie gebildet hat, in alle ihre Organe. Nach Sonnenuntergang beginnt dann ein dritter Prozess, bei dem die Pflanze aus dem Zucker Wirkstoffe bildet. Mit Einbruch der Dunkelheit hört auch dieser Prozess wieder auf und die Pflanze fängt an, in der Nacht zu wachsen. Vier Prozesse sind es entsprechend den fünf Sonnenstellungen, die das Leben der Pflanze zur Erscheinung bringen. Der Prophet Mohammed empfahl uns, fünfmal zu diesen Zeiten an Allah zu denken und uns auf das Übersinnliche hin zu wenden. Durch den Zusammenhang der fünf Gebete mit dem Sonnenlauf und den Rhythmen der Pflanzenwelt schließt sich der betende Mensch an die kosmischen Prozesse an.

Dies erzählte ich den versammelten, tief religiös empfindenden Menschen. Nun trat eine große Stille ein. Sie hatten verstanden und erfahren, dass auch unsere Gemeinschaft aus Muslimen bestand, die aus der Kenntnis des Koran verantwortlich arbeiteten. Das ganze Treffen hatte bisher drei Stunden gedauert. Einer der Männer erhob sich langsam und meinte: "Wenn du uns nun noch sagst, dass die Musik und die Kunst auch von Allah und vom Propheten erlaubt ist, dann glauben wir es dir, denn du weißt es besser!" Ich dankte ihm, bat die Musiker herein und gemeinsam hörten wir uns noch einmal die Serenade von Mozart an, jetzt einig und offen.

Bevor wir zum Essen gingen, erwähnte ich noch, wie wichtig eine entsprechende Schulung für die Landwirte sei, wenn sie verantwortungsvoll mit der Erde, den Pflanzen und Tieren umgehen sollen. Da wollten sie mehr, auch über unsere Pädagogik und die Ausbildung der Kinder, wissen. In den Moscheen war immer wieder gegen die Schule gepredigt und gesagt worden, dass die Eltern ihre Kinder nicht dort hinschicken sollten. Gleich nach dem Essen aber erlebten sie im Saal der Schule eine Kinderaufführung, an der auch die Behinderten teilnahmen. Von der Freude, mit der die Kinder sich auf der Bühne bewegten, waren sie tief ergriffen. Danach wollten sie erfahren, was für Sprüche die Kinder in der Schule lernten. Ich ließ einige Schüler kommen und sie selbst das, was sie gelernt hatten, aufsagen. Da begriffen die Männer, dass die Sprüche wohl von der Sonne handeln, aber dass es Allah ist, den wir anbeten, damit er uns Kraft gibt. Sie fingen an, uns um Entschuldigung zu bitten, dass so schlecht über uns geredet worden war. Aber es gab noch andere Fragen, die sie nun frei und offen stellten: zum Beispiel, warum wir die Kinder den ganzen Tag bei uns behielten. Das gab mir Gelegenheit, über die Entwicklung des Menschen von Kindheit an und die Aufgabe der Pädagogik zu sprechen: Ich sagte etwa: Es gilt auf allen Lebensgebieten die Zeichen Allahs zu erkennen. Und eines der verschlüsseisten Zeichen ist der Mensch. Der Prophet beschreibt den Menschen in seinen verschiedenen Seinsebenen als himmlisches und als irdisches Wesen; auffallend aber ist dabei, dass er ihn als etwas im Werden Begriffenes darstellt, also den Entwicklungsprozess betont. Der Prophet sagt: "Die ersten sieben Jahre des Kindes sollt ihr mit ihnen spielen. Die zweiten sieben Jahre sollt ihr mit ihnen lernen. Im dritten Lebensjahrsiebt sollt ihr mit ihnen wie mit Erwachsenen umgehen, sie nicht mehr erziehen, sondern sie mehr wie Partner behandeln. Danach entlasst sie in die Freiheit." Anhand dieser Zitate aus dem Hadith können wir auch die Lehrer für unsere Schule bilden. Als ich danach noch weitere lebendige Beispiele erzählte, fühlten alle, dass diese Weisheiten tief aus dem Islam heraus begründet waren.

Die grimmigen, bärtigen Männer vom Anfang des Tages waren nun meine Gäste geworden und verabschiedeten sich herzlich und tief ergriffen. Ich wusste, dass sie sich am Freitag wieder in den Moscheen treffen würden und dort weitererzählten, was für einem Irrtum sie gefolgt waren. Ich entließ sie mit einem Wort aus dem Koran, das besagt: "Wenn einer zu euch kommt und euch ein Gerücht erzählt, dann glaubt dem nicht, sondern überzeugt euch selbst." Genau so gaben sie es weiter. Sie verbreiteten, wie tief der Islam in SEKEM lebte, was es derart im ganzen Land nicht gäbe. Und zum Andenken an ihren Besuch schenkten sie uns eine Tafel, auf der in schönen, kalligrafisch gestalteten goldenen Schriftzügen stand, dass die Gemeinschaft der Scheichs bezeugt, dass SEKEM eine islamische Initiative ist. Diese Tafel hängt heute im Eingangsbereich der Schule.

Nach dem Besuch lud ich Journalisten der bekanntesten Zeitungen von Ägypten zu einer Pressekonferenz ein. Danach erschienen ganz andere Artikel über SEKEM. Der Chef der lokalen Zeitung dementierte den Hetzartikel und entließ den Journalisten, der ihn verfasst hatte. Der Prozess gegen die verantwortlichen Redakteure wegen Rufschädigung lief trotzdem weiter und führte zu einer Verurteilung auf Schadensersatz. Weil ich ihnen verzieh, wurde ihnen jedoch dem ägyptischen Recht entsprechend die Strafe erlassen. Mir ging es um die Richtigstellung unserer Idee.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren Ibrahim Abouleish und des Verlags Johannes M. Mayer


Die Sekem Vision - Eine Begegnung von Orient und Okzident verändert Ägypten