Die Sekem Vision - Baumwolle - Gift im weißen Gold

01.04.2004

Auszug aus Die Sekem Vision - Eine Begegnung von Orient und Okzident verändert Ägypten

Bei Pestiziduntersuchungen unserer Heilpflanzen kamen eines Tages Spuren von Rückständen zum Vorschein, über die wir mit Recht empört waren. Woher kamen diese Pestizide, da wir doch selbst keine verwendeten? Nachdem wir alle möglichen Ursachen ausgeschlossen hatten, begriffen wir schließlich, dass sie von Flugzeugen ausgesprüht wurden, die bis zu 20 Mal während der Wachstumszeit der Baumwolle über die nahen Felder flogen.

Als mir dies deutlich war, beschwerte ich mich bei einem Minister des Landwirtschaftsministeriums. "Wir wollen auf unseren Farmen biologisch anbauen und ohne Gift auskommen", sagte ich, "ihr macht unsere Mühe zunichte und wir sind machtlos gegen das Spritzen aus der Luft!" Er schaute mich erstaunt an und fragte: "Was wollen Sie, gibt es eine Alternative?" - "Nicht spritzen!", sagte ich. - "Wissen Sie denn, was alles geschieht, wenn nicht gespritzt wird?", fragte er zurück. Da erkannte ich erst, in welchen Schwierigkeiten der Mann bezüglich der Chemie-Konzerne steckte.

Ich beriet mich mit Helmy und Georg Merckens und fragte ihn, ob er eine biologische Methode des Pflanzenschutzes bei Baumwolle kennen würde. Er riet uns, die Insekten, die die Pflanzen schädigen, zunächst genau zu studieren und ihre Lebensweise kennen zu lernen. Von Entomologen ließen wir uns daraufhin das Verhalten der entsprechenden Insekten erläutern und genaueste Untersuchungen über ihre Entwicklungsstadien vorlegen. Dann fragten wir bei verschiedenen Wissenschaftlern nach, wie wir mit biologischen Methoden der Vermehrung dieser Insekten Herr werden könnten. Diesmal halfen uns die ägyptischen Wissenschaftler Dr. El Araby und Dr. Abdel Saher, die auf vorbereiteten Versuchsfeldern mit ihren Untersuchungen begannen. Mit dem Aufwuchs der Pflanzen und der zunehmenden Hitze entstehen Kleininsekten wie Blattläuse, Blasenfüße und weiße Fliege. Sie lassen sich mit beleimten Gelbtafeln abfangen, weil sie von der gelben Farbe angelockt werden. Dann folgen während des Wachstums die Blattraupen Spodoptera und die Kapselbohrer Pectinophora, um nur die gefährlichsten zu nennen. Sie bilden im heißen Sommerklima vier Generationen aus und gefährden die Pflanzen bis zur Ernte hin. Es war nur zu verständlich, dass gegen diese Schädlinge 20 und mehr Pestizidspritzungen eingesetzt wurden.

Der Insektenkundler Dr. Youssef Afifi von der Kairoer Universität nahm die Chance wahr, seine Laborerfahrungen mit dem Spodoptera-Falter im Großfeldanbau anzuwenden. Keiner wusste, ob es wirklich funktionieren würde, aber wir begannen mit der Bebauung eines Feldes von elf Hektar im Nildelta. Schon ehe die Falter anflogen, wurden einfache Trichterfallen mit Pheromonen (Duftlockstoffen) über das Feld verteilt, mit denen die Falter gefangen wurden, noch bevor sie befruchtete Eier ablegen konnten, aus denen sonst die sich rapide vermehrenden und blattverzehrenden Raupen schlüpfen würden. Als Nächstes galt es, die sich bildenden Fruchtkapseln, in denen die Samen mit ihrem haarigen Anhang - also der eigentlichen Baumwolle - entstanden, vor den Kapselbohrern zu bewahren, die den ganzen Ertrag bedrohten. Hier setzte Dr. Afifi Spencer-Röhrchen ein, denen ein betörender Duft entströmte. Wenn die Kapselbohrer anflogen, wurden sie so verwirrt, dass sie die Kapseln nicht fanden. Im ersten Jahr hielt der verwirrende Effekt allerdings nicht lang genug an und elf Prozent der Kapseln wurden dennoch zerstört. Das korrigierten wir und bald lag der Schaden schon unter der Rate, die sonst mit den Chemiespritzungen im konventionellen Anbau zu erreichen war. Als dann die erste Ernte gewogen war, ergaben sich sogar 10 Prozent Mehrertrag an Rohbaumwolle gegenüber dem Gebietsdurchschnitt, ein stolzes Ergebnis, das wir im Wesentlichen auf die allgemein bodenbelebenden und die pflanzenwuchsfördernden Maßnahmen der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise zurückführen konnten.

Als wir dachten, dass damit alle Probleme gelöst seien und die Flugzeuge über Ägypten keine Pestizide mehr aussprühen müssten,luden wir zum ersten internationalen Organischen Baumwoll-Kon-gress der Welt nach Kairo ein. Dort versammelten sich rund 120 Fachleute, die am Rande des Kongresses auch das nächstliegende der insgesamt 19 biologisch-dynamisch bewirtschafteten Baumwollfelder während der Ernte besichtigen konnten. Das ägyptische Fernsehen war dabei und strahlte einen sehr positiven Bericht aus, man bewunderte unseren Erfolg. Auch der Landwirtschaftsminister hatte die Entwicklung interessiert mitverfolgt und erschien auf unsere Einladung hin mit seinen Mitarbeitern. In seiner Rede sagte er sinngemäß: "Ich spreche Ihnen für Ihren Einsatz meine volle Anerkennung aus. Aber wer weiß, ob es noch einmal gelingt! Sie müssen den Erfolg erst mehrmals nachweisen!" So blieb uns nichts anderes übrig, als die von uns entwickelten Methoden der Insektenbekämpfung noch weiter auszuprobieren. Der Minister suchte nach einem bestimmten Plan die verseuchtesten Gebiete jedes Jahr von neuem aus und meinte, wenn es dort gelänge, dann könnte er entscheiden. Er handelte aus meiner Sicht als verantwortungsbewusster Mensch.

Die Versuchsfelder lagen über ganz Ägypten verteilt und Helmy war ständig unterwegs. Die Felder mussten Tag und Nacht überwacht werden. Er war vor Ort, wenn ein schnelles Handeln nötig wurde. Aber durch Helmys Einsatz allein wäre es nicht möglich gewesen, wenn seine von mir über alles geschätzte Frau Konstanze seine Aufgabe nicht mitgetragen hätte, weil sie die Notwendigkeit sah. Dabei war sie von ihrer Erziehung her eigentlich gewohnt, dass Freizeit groß geschrieben wurde. Hier erlebte sie das Gegenteil. Sie und ihre vier Kinder mussten Helmy lange Zeit entbehren und oft kam er spätabends übernächtigt nach Hause.

Aber nach drei Jahren hatten wir es geschafft und konnten unsere Untersuchungsberichte vorlegen. Der Minister hielt Wort und reagierte mutig, indem er die Beendigung der Pestizidspritzungen aus den Flugzeugen anordnete. Erst wurde eine Fläche von 200.000 Hektar völlig ohne Pestizide behandelt, die, ein Jahr später, auf 400.000 Hektar, die gesamte damalige Anbaufläche für Baumwolle in Ägypten, erweitert wurde. Überall ging man im Pflanzenschutz bei Baumwolle auf biologische Methoden über.

Es lässt sich kaum schildern, was dadurch bewirkt wurde, dass somit 35.000 Tonnen Spritzgifte von der chemischen Industrie nicht mehr abgesetzt werden konnten. Wie hatten die darin verwickelten Menschen zuvor gegen den organischen Anbau gehetzt und die Presse aufgewiegelt. Wir konnten das nur mit innerer Ruhe entgegennehmen und uns in Gelassenheit üben, nichts Böses erwidern, sondern friedvoll reagieren. Ich glaube, die Attacken, die wir überwunden haben, hätten unsere Gemeinschaft durchaus zerrütten können. Von einem besonders heftigen Angriff möchte ich später erzählen.

Eines der schlimmsten Gifte war abgeschafft. Dr. El Beltagy vom staatlichen Landwirtschaftsforschungsinstitut sagte in einer Ansprache, selbst wenn die Vereinten Nationen den pestizidfreien Anbau für Ägypten beschlossen hätten, wäre es ihnen nicht gelungen! Und unter den Wissenschaftlern aller Universitäten des Landes wäre es wohl nicht zu einer Einigung gekommen. Es war der Einsatz und Wille der SEKEM-Gemeinschaft, die für das Land etwas Heilendes bewirkt hatte.

Die schädlichen Pestizidspritzungen waren beendet. Was aber sollte nun mit den Hunderten von Tonnen biologischer Baumwolle geschehen, die in der Weiterverarbeitung normalerweise wiederum mit stärksten Giften behandelt werden? Für diesen Bereich wurde im Zusammenhang mit SEKEM die Firma Conytex gegründet. Nach dem Entkernen, dem Ginnen und Spinnen der Baumwolle werden hauptsächlich Strickstoffe daraus gefertigt. Der rohe Stoff wird üblicherweise mit chemischen Mitteln ausgerüstet und mit umweltschädlichen und giftigen Farben gefärbt, was auch bei Garnfärbung geschieht. Bei der Firma "Conytex" tritt anstelle der chemischen Ausrüstung die mechanische, die allerdings in Folge bis zu sechs Prozent Einlaufwert hat. Darauf können sich die Kunden jedoch einstellen. Die verwendeten Farben sind nach Demeter-Richtlinien umweltfreundlich, biologisch abbaubar und hautfreundlich. Zwischen den einzelnen Verarbeitungsschritten finden mehrere Qualitätskontrollen statt. Vom Zuschnitt an werden alle weiteren Verarbeitungsschritte in SEKEM selber durchgeführt.

Den ungewöhnlichen Firmennamen "Conytex" verstanden die Mitarbeiter zunächst nicht. Ich aber wollte damit meine liebe Konstanze würdigen, indem ich einen Teil ihres Vornamens mit den Produkten, die es zu verarbeiten galt, zusammenbrachte. "Noch nie wurde eine Firma bei uns nach einem Menschen benannt!", hieß es daraufhin. Ich beruhigte alle, indem ich verdeutlichte, dass die arabischen Menschen die Silbe "con" mit Baumwolle verbinden, wie es sich dann auch bestätigte. Schon während der Baumwollversuche verhandelten wir mit der deutschen Textilfirma "Hess-Natur", die uns bald darauf Muster für Schnitte schickte. Nun traten wieder riesige logistische Probleme auf, all die vielen Zuliefererbetriebe zu koordinieren. Hier half meine Frau Gudrun,wie bei dem Aufbau aller Betriebe, wieder tatkräftig mit. Ihre Aufgabenbereiche waren die Mitarbeiterschulung und das Einrichten der Logistik. Die Menschen, die sie geschult hat, haben sehr viel dabei gelernt. Wenn einem Ägypter etwas fehlschlägt, zuckt er gern die Achseln und sagt: "Malesh! Macht nichts!" Jeder weiß, dass er sich so etwas bei ihr nicht leisten kann. Niemand verstand und versteht es so wie sie, die Menschen konsequent anzuleiten und zu führen.

Von Gudrun übernahm Johanna Merckens die Koordination der Logistik und zusätzlich des Exports. Ich entdeckte in ihr, die eigentlich gelernte Kindergärtnerin war, die pädagogische Fähigkeit, zwischen Kunden und betriebsinternen Interessen zu vermitteln. Während sie bisher nur selten in die Lage gekommen war, Geschäftsbriefe schreiben zu müssen oder auf die rechtzeitige Anlieferung der vielen Einzelteile für die Textilien zu achten - ein ständiger Kampf! -und die Qualität der genähten Teile zu kontrollieren, stieg sie nun mit Schwung und Freude ein. Konstanze, die Künstlerin und Lebenskünstlerin, betätigte sich als Modedesignerin mit der gleichen Einsatzkraft, die sie schon beim Aufbau der Käserei und des Musikunterrichtes an der Schule gezeigt hatte. Sie erhält eine Aufgabe, singt und packt zu! Um sie herum sprüht Fröhlichkeit. Das Team wurde später von der aus Rumänien stammenden Maria Raileanu ergänzt, die mit ihren beiden Kindern zu uns kam und seither in der Qualitätskontrolle arbeitet.

Mit den Conytex-Produkten ging es zügig voran. Zuerst wurden auf Anfrage von Dr. Götz Rehn von "Alnatura" für den Markt in Deutschland naturfarbene Babybodys hergestellt. Wegen der Gefahr von Allergien bei Babys und Kleinkindern waren biologische Textilien hier besonders begehrt. Weil die Firma sich ständig vergrößerte, musste "Conytex" auf dem SEKEM-Gelände zweimal umziehen. Auch eine Druckerei für die Drucke auf T-Shirts oder Firmenlabels wurde eingerichtet. Inzwischen hat Conytex rund 100 Maschinen, eine Produktion von täglich etwa 2000 Teilen verschiedenster Modelle und beschäftigt 180 Mitarbeiter. Weil wir den internationalen Markt beliefern, verläuft unser Geschäft stabil. Wir versuchen weiterhin, auch den lokalen Markt auszubauen und uns exportmäßig darüber hinaus gen Osten auszudehnen.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren Ibrahim Abouleish und des Verlags Johannes M. Mayer


Die Sekem Vision - Eine Begegnung von Orient und Okzident verändert Ägypten