Warum schneidet Finnland in der Pisa-Studie besser ab?

01.10.2002

Prof. Dr. Reijo Wilenius (Helsinki, Finnland), Präsident des Europäischen Forums für Freiheit im Bildungswesen (effe) nennt die Punkte, in denen sich das Schulsystem Finnlands von anderen unterscheidet.

EINHEITLICHKEIT UND VIELFALT IM SCHULWESEN

Podiumdiskussion 18.10. 2002, Jean-Paul-Schule, Kassel

Die Resultate der grossen internationalen Schulleistungsuntersuchung, der PISA-Studie, hat in vielen Ländern, besonders in Deutschland ”Bildungspolitiker und Öffentlichkeit aufgeschreckt”, schreibt der deutsche Bildungsrechtler Prof. Dr. Frank-Rüdiger Jach und empfiehlt als Vorbild das heutige Schulwesen der skandinavischen Länder.

Die Frage, warum besonders die finnischen Schulen – nach dieser, zwar begrenzter Untersuchung – die besten in Europa sind, wurde natürlich auch in Finnland diskutiert. In einem Zeitungsartikel habe ich folgende Antwort gegeben. (Diese Antwort hat auch die mächtige finnische Gewerkschaft der LehrerInnen bejaht.)

Die Lehrer haben in Finnland gesetzlich Methodenfreiheit: sie dürfen frei nach eigenen pädagogischen Einsichten den Unterricht gestalten. Das macht – wenn diese Freiheit praktiziert wird - den Unterricht den Schülern lebendiger und interessanter als ein lehrbuchmässiger Unterricht. Und das allgemeine didaktische Prinzip ist, die Schüler zum selbständigen Lernen, zum eigenen Erkennen zu ermuntern.

Die Methodenfreiheit ist auch garantiert durch die Autonomie der kommunalen Schulen - Staatsschulen gibt es in Skandinavien nur wenig. Die Eigenverantwortung der Schulen ist seit dem 19. Jahrhundert eine lange Tradition des skandinavischen Schulwewens. Die Schulen sind zum eigenen pädagogischen und didaktischen Denken ermuntert.

Erfahrungen und Untersuchungen zufolge fördert das eigene pädagogische Ethos der Schulen die Lernprozesse. An der Spitze dieser Entwicklung zum eigenen pädagogischen Ethos gehen die reformpädagogischen Schulen.

Die freie Schulwahl der Eltern wird dadurch garantiert, dass die Schulen in freier Trägerschaft rechtlich und finanziell gleichberechtigter Bestandteil des Schulwesens sind, d.h. sie bekommen – in allen skandinavischen Ländern - ungefähr dieselbe staatliche Finanzierung wie die kommunalen Schulen. Das gibt gute Gelegenheit, neue pädagogische Ansätze zu entwickeln, die das ganze Schulwesen inspirieren können.

Durch die freie Schulwahl engagieren sich die Eltern mehr für die Erziehung ihrer Kinder.

Nach dem ’World Value Survey’ (2000) sind die skandinavischen Länder Vorgänger im dem Übergang zu postmateriellen Werten, zum Beispiel zu der Selbstbestimmung der Bürger. Ein Ausdruck dieser Selbstbestimmung ist die Teilnahme der Bürger an dem Schulwesen.

Kurz: Freiheit mit Verantwortung ist die beste Methode im Bildungswesen.

Die Frage ist: Was bedeutet dieses freiheitliche Schulwesen für die Entwicklung der ganzen Gesellschaft?

Ich nehme wieder als Beispiel Skandinavien, weil ich die Entwicklung dieser Länder am besten kenne.

Die führenden skandinavischen Bildungstheoretiker im 19. Jahrhundert, in Dänemark S. Grundtvig (1783-1872) , in Finnland J. W. Snellman (1806- 1881), hatten die Vision, dass das freie Schulwesen die ganze nationale Entwicklung fördert.

Durch Grundtvig hat Dänemark das Freischul- und Volkshochschulsystem bekommen, das noch heute besteht, und auch Snellman wollte die Volksschule und die höhere Schule vor der staatlichen Bürokratie schützen und hat die Autonomie der Schulen verteidigt, damit sie frei ihre allgemein-menschliche Bildungaufgabe erfüllen können.

Die Grundeinsicht war: durch Bildung der ganzen Persönlichkeit zum aktiven Gebrauch ihrer individuellen Fähigkeiten, auch des selbständigen Denkens, werden die Demokratie und das Wirtschaftsleben blühen. ”Bildung und Wirtschaft bedingen einander”, sagte Snellman.

Das europäische Forum für Freiheit im Bildungswesen (effe)

Hier möchte ich etwas von der Arbeit des Europäischen Forums für Freiheit im Bildungswesen einschalten.

Nach der Gründung des Forums, vor 12 Jahren (1990), war unsere Arbeit vor allem auf die früheren sozialistischen Länder gerichtet, die eine Neuorientierung suchten. Wir haben Modelle für ein freiheitliches Schulsystem geschaffen.

Aber ideal ist die Situation auch nicht in den EU-Ländern.

Deswegen wurde uns die Formulierung der Bürgerrechte in der Europäischen Union wichtig. Ende 2000 wurde in Nizza die Europäische Charta der Grundrechte verabschiedet, in der – im Artikel 14, Recht auf Bildung – steht:

”Die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihrer eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen,…”

Unsere Wirkung war vor allem, dass die Pluralität der Erziehung garantiert wurde.

Zusammenfassend: Das freie, aktive und innovative Schulswesen hat nicht nur für die Individualentwicklung Bedeutung – auf ihr beruht auch die Dynamik des Kultur- und Wirtschaftslebens, der ganzen nationalen Entwicklung.

Man muss aber feststellen: die ganze Gesellschaft leidet heute an der gefährdeten Individualentwicklung. Symptome sind zum Beispiel die sinnlosen Gewalttaten, neulich (den 11. Oktober) auch in Finnland.

In seinem weltbekannten Buch ’Emotional Intelligence’ (1996) hat der amerikanische Psychologe Daniel Goleman alarmierende Statistiken gezeigt und vor einem "Gewaltsturm” in nächsten Jahrzehnten gewarnt.

Nach einigen amerikanischen und europäischen Untersuchungen wuchsen zwischen 1970 und 1990 bei den 7 bis 16-jährigen Aggressivität, Ängstlichkeit und Verlust an Konzentrationsfähigkeit. Bei den Teenagern war ein starkes (dreifaches) Wachstum der Kriminalität, der Selbstmorde, der Drogenkonsumption und der psychischen Störungen festzustellen.

Golemans Konsequenz: diese psychische und soziale Katastrophe ist ebenso gefährlich wie die Umweltkatastrophe. Sie fordert eine Erneuerung der Pädagogik, der Menschenbildung. Seine Empfehlungen gehen in die Richtung der Waldofpädagogik, die als Vorbeugung einer katastrophalen Entwicklung immer aktueller wird.

Die Freiheit der pädagogischen Innovationen ist eine soziale Methode, um effektiv die zeitgemässe Entwicklung der Bildung zu fördern.

Der deutsche Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig hat festgestellt: ”Die Antwort auf unsere behauptete Orientierungslosigkeit ist Bildung.”

Zu dieser modernen Bildungsidee gehören gewisse rechtlich Voraussetzungen: Autonomie der Bildungsinstitutionen und flexibles Recht auf Gründung und staatliche Finanzierung der Schulen in freier Trägerschaft – wenn diese nicht für einen privaten wirtschaftlichen Gewinn begründet werden, sondern zur Pluralität der pädagogischen Ansätze im Lande beitragen, d.h. wenn sie eine innovative Kraft im ganzen Bildungssystem bedeuten.

Ein staatliches Monopol auf Bildung – wie in den kommunistischen Ländern – wirkt erlahmend. Auf längerer Sicht erlahmt es auch die Wirtschaft.

Das europäische Parlament hat schon im Jahre 1984 Abstand genommen von dem staatlichen Monopol auf Bildung, durch die Entschliessung des Europäischen Parlaments zur Freiheit der Erziehung. Das Parlament hat die traditionelle Pluralität der europäischen Schullandschaft festgestellt.

In diesem Sinne arbeitet Europäisches Forum (effe) für eine aktive, innovative Bildungsgesellschaft, im Grunde aber dafür, dass die Kinder und junge Menschen die bestmögliche Bildung ihrer Fähigkeiten bekommen und als Erwachsene ein sinnvolles menschliches Leben führen können.


Weiterführende Informationen