Entscheidungen im Gliede "Geistesleben" des sozialen Organismus

01.03.1995

Zwei Dinge erschweren das Erkennen der Zusammenhänge:

1. Die Beziehung zwischen dem Gliede "Geistesleben"(GL) und den beiden anderen Gliedern des "sozialen Organismus" sowie
2. die überall gebräuchliche falsche Verwendung der Wörter "Demokratie" und "demokratisch".

Zu 1:

Bisher ist mir nur eine Stelle aufgefallen, an der Rudolf Steiner die Verschachtelung des Gliedes GL mit den beiden anderen Gliedern ("Wirtschaftsleben"=GL und "Rechtsleben"=RL) des sozialen Organismus beschreibt, und das ist Absatz 8 des Aufrufs "An das deutsche Volk und die Kulturwelt!"(1). In den Absätzen 5 bis 8 des Aufrufs ist die Idee der "Dreigliederung des sozialen Organismus" in aller Kürze prägnant dargestellt. Absatz 8 lautet:

"Zu diesen beiden Gliedern des sozialen Organismus muß, in voller Selbständigkeit und aus seinen eigenen Lebensmöglichkeiten heraus gebildet, ein drittes treten: das der geistigen Produktion, zu dem auch der geistige Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen von dem mit eigener gesetzmäßiger Regelung und Verwaltung ausgestatteten dritten Gliede überliefert werden muß, der aber nicht von ihnen verwaltet und beeinflußt werden kann, als die nebeneinander bestehenden Gliedorganismen sich gegenseitig beeinflussen."

Da jede menschliche Betätigung (ob geistig oder körperlich) zum Gliede GL gehört, wäre sie nach der Gesetzmäßigkeit des GLs zu handhaben. Wie sieht es nun mit dem "geistige(n) Anteil der beiden anderen Gebiete" aus? Ich deute den zitierten Satz so: Bestimmte Tätigkeiten können Vorgänge (Prozeduren) in den Gliedern WL und RL vorbereiten und wären in reiner Form nach dem Individualprinzip durchzuführen. Andere Tätigkeiten sind jedoch Bestandteil der Vorgänge (Prozeduren) in den Gliedern WL oder RL. Diese letzten Tätigkeiten wären daher nicht mehr allein nach dem Individualprinzip zu handhaben, sondern dieses müßte modifiziert werden: im WL durch eine brüderliche Komponente (Einmütigkeit) und im RL durch das Gleichberechtigungsprinzip.

Zu 2:

Demokratie heißt auf deutsch "Volksherrschaft" und Volksherrschaft besteht nur dann, wenn die Bevölkerung die oberste Sach-Entscheidungsbefugnis innehat! Hat sie - wie bisher - nur die oberste Personal-Entscheidungsbefugnis, so kann sie nur diejenigen festlegen (wählen), die anschließend die Sach-Entscheidungsbefugnis innehaben. Wahlen sind also nur eine Vereinbarung darüber, wer (meist für einen begrenzten Zeitraum) für das Fällen der Sach-Entscheidungen zuständig sein soll: nämlich die Gewählten. Daher kann die wählende Bevölkerung logischerweise nicht mehr zuständig sein, d.h. es besteht keine Volksherrschaft. Die heutige Regelung des öffentlichen Lebens wird also fälschlicherweise als Demokratie bezeichnet.

Das Wort "demokratisch" wird ebenfalls falsch verwendet. Wir benutzen es entweder, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, daß eine Gesamtheit einzelne wählt (und damit Personal-Entscheidungen fällt), oder daß eine Gesamtheit abstimmt (also Sach-Entscheidungen fällt). Es wäre am zweckmäßigsten, wenn wir statt des Ausdrucks "demokratisch" die Wörter "wählen" und "abstimmen" benutzen würden. Mit "Demokratie"=Volksherrschaft wird nämlich nur ausgesagt, daß die Bevölkerung herrschen soll bzw. herrscht. Das Mittel dazu muß gesondert behandelt werden. Daß Wählen keine Methode ist, um Demokratie zu erreichen oder zu praktizieren, haben wir oben gesehen; es kann sich nur um das Abstimmen handeln. Eine Mischung gibt es nicht! Die Idee des "imperativen Mandats" beruht auf ungenauer Beobachtung bzw. auf einem Trugschluß.

Schlußfolgerungen aus 1 + 2:

Im Bereich (Glied) GL kommt es darauf an, daß der/die einzelne sich entfalten und die Sachentscheidungen allein fällen kann. Im öffentlichen Leben sind zwei Fälle zu unterscheiden:

a) Solange eine Einzelperson von den (Sach-)Entscheidungsfragen allein betroffen ist, braucht sie niemanden an den jeweiligen Entscheidungsakten zu beteiligen.

b) In einer Institution des GLs arbeiten jedoch mehrere Menschen zusammen, also muß die zwischenmenschliche (soziale) Komponente einfließen. Die Frage ist nur, auf welche Weise. Wenn festgelegt ist, wer in einem bestimmten Bereich die (Sach-)Entscheidungen fällen soll, ist Klarheit geschaffen.

Anmerkungen

(1) in:Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage. GA 23. 6.Auflage Dornach 1976. Seite 157 ff.
(2) ebd. Seite 161


Quelle: Beiträge zur Dreigliederung, Anthroposophie und Kunst, Heft 45, 1995. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.