Bemühungen um die Dreigliederung des sozialen Organismus

01.03.1995

Wer in heutiger Zeit mitverfolgt, unter welchen Umständen die Menschen auf der Erde leben, wird sich sagen, daß eine gründliche Veränderung dieser Umstände nötig ist. Andererseits ist es so, daß „die Umstände“ ein Ergebnis dessen sind, was die Menschen fühlen, denken und wollen. Wir befinden uns in einem Labyrinth, sehen zunächst keinen Ausweg.

Wenn unsere Beobachtungen uns so bedrücken, daß wir ernsthaft motiviert sind, nach einem Ausweg zu suchen, werden wir bemerken, daß wir ihn nur mit Hilfe unseres Denkens finden können. Das Denken ist der Faden, mit dessen Hilfe auch Theseus den Weg aus dem Labyrinth des Minotaurus fand, wie die griechische Sage erzählt.

Etwas Neues kann nur werden, wenn wir - zumindest - einen Teil des Gewohnten überwinden. Würden wir die gewohnten Empfindungen, Vorstellungen, Handlungen nicht verändern, so könnte nichts Neues entstehen, weil wir alle Neuanfänge innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit in das alte Fahrwasser abgedrängt hätten. Die Menschen und ihre Einrichtungen bedingen einander. Daher ist kein plötzlicher Neuanfang möglich, sondern nur schrittweise Verwandlung: Etwas günstigere Einrichtungen ermöglichen es den Menschen, sich etwas besser zu entfalten. Die Möglichkeit eines etwas stärkeren Eingreifens einsichtiger Menschen bringt eine weitere Verbesserung der Einrichtungen usf.

Aber auch die ersten „etwas günstigeren Einrichtungen“ können nur geschaffen werden, wenn sie von „genügend vielen Menschen“ erkannt und mit Nachdruck angestrebt werden. Also müssen sich doch erst „die Menschen“ ändern, bevor etwas besser werden kann? Nicht ganz. Denn meistens wird darunter vorgestellt, daß sich „die Menschen“ erst bessern müßten. Das ist jedoch nicht der Fall. Wir dürfen nicht vom „Besseren Menschen“ ausgehen, wenn wir für die jetzigen Menschen bessere Umstände anbahnen wollen. Es kommt nur darauf an, daß ein gangbarer (praktizierbarer) Weg gefunden wird, der in die Richtung der künftigen Entwicklung der Menschheit führt.

Ein solcher Weg kann nur gefunden werden, wenn man die Gesetzmäßigkeiten kennt, die dem Fortschreiten der Menschheitsentwicklung zu Grunde liegen. Den erforderlichen Einblick in diese Gesetzmäßigkeiten hat nur ein Geistesforscher. So ergibt sich die Notwendigkeit, von den Forschungsergebnissen Rudolf Steiners auszugehen. Sie können mit Hilfe des „gesunden Menschenverstandes“ begriffen und auf ihre Fruchtbarkeit hin geprüft werden. Rudolf Steiner sagt, daß er die Grundlage so wirklichkeitsgemäß dargestellt habe, daß sich aus ihnen alle erforderlichen Einzelheiten ableiten lassen. Die große Zahl seiner Angaben ist zunächst zu sortieren: Was sind die grundlegenden Aussagen und was sind die erläuternden Beispiele? Welche Stellen beziehen sich nur auf damals vorliegende Umstände und welche betreffen Längerfristiges? Und für das längerfristig Gültige ist zu fragen: Auf welchen Zeitraum und welche Gebiete der Erde bezieht es sich? Die Differenzierung ist bereits bei den Hauptgesetzmäßigkeiten nötig. Das „soziale Hauptgesetz“ bezieht sich auf einen viel größeren Zeitraum als das „soziologische Grundgesetz“. Das „soziale Urphänomen“ ist wohl auf das Zeitalter (die Kulturepoche) der Bewußtseinsseele begrenzt, und die Idee von der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ muß nach Rudolf Steiners Worten vom 28.09.1919 bereits in drei bis vier Jahrhunderten (also etwa um das Jahr 2300) durch eine andere Sozialidee abgelöst werden. Andererseits ist es so, daß die Texte zur Idee der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ die konkretesten Angaben enthalten, wie wir die zwischenmenschlichen (sozialen) Zusammenhänge vor der Mitte des Zeitalters der Bewußtseinsseele (2493) zweckmäßigerweise einzurichten hätten - also gerade in der Zeit, in der die antisozialen Triebe der Menschen ihrem Höhepunkt zustreben.

Wenn wir - zunächst gedanklich - weiterkommen wollen, ist eine erhebliche intellektuelle Leistung erforderlich: Die vielen, oft widersprüchlich erscheinenden Aussagen Rudolf Steiners müssen so verarbeitet werden, daß wir sie den zugehörigen Situationen zuordnen können, daß wir erfassen, worauf genau sie sich beziehen. Dann wird es uns auch gelingen, die erforderlichen Konkretisierungen für unsere Einzelprobleme abzuleiten.

Wenn die Idee der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ die für die nächsten 300 Jahre erforderlichen Sozialprinzipien enthält, dann werden wir uns fragen müssen, worin die Grundgedanken bestehen, welche Folgerungen sich aus ihnen für den jetzigen Zeitpunkt und für unser Land ableiten lassen und auf welche Weise die Realisierung eingeleitet werden kann.

Wenn wir die Frage nach der Arbeitsweise noch weiter konkretisieren wollen, wäre festzuhalten, daß vor allem Lernprozesse nötig sind. Lernen ist nun immer eine individuelle Angelegenheit, kann nur von Einzelmenschen geleistet werden, läßt sich nicht an andere delegieren.

Da jeder Mensch sich laufend innerhalb dessen bewegt, was später die bewußt eingerichteten drei Glieder des sozialen Organismus sein werden, benötigt auch jeder eine Kenntnis der Gliederung, der Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Glieder und ihres Zusammenwirkens. Bisher konnte man die „öffentlichen Angelegenheiten“ irgendwelchen Führern (Politikern) überlassen. Das ist schon seit einiger Zeit recht fragwürdig geworden und wird künftig immer weniger gehen bzw. zu immer chaotischer werdenden Zuständen führen. Der Einzelmensch wird sich die entsprechenden Kenntnisse aneignen „müssen“.

Dadurch wird es auch möglich, daß neu eingerichtete Strukturen verständig genutzt werden und nicht innerhalb kurzer Zeit wieder scheitern, weil man ohne Wissen um das Neue wieder in das Althergebrachte, Gewohnte zurückfällt.

Es gibt aber noch einen zweiten wichtigen Grund dafür, daß sich die einzelnen in bezug auf die „Dreigliederung des sozialen Organismus“ kundig machen, und das ist deren Einführung. Diese Einführung wird den bisherigen Machthabern einen erheblichen Teil ihrer Macht nehmen müssen, und das ist nur möglich, wenn ein ausreichend starker Machtfaktor mit der Einführungsforderung verbunden ist - eine genügend große Zahl sachkundiger, selbstbewußter und energisch auftretender Menschen. Diese Menschen werden sich darum bemühen, ein Verfahren rechtsverbindlich zu machen, das neben die Repräsentativ-Methode tritt und geeignet ist, diese im Rahmen eines Wettbewerbs allmählich zu verdrängen und schließlich ganz zu ersetzen.

Sowohl die Einführung dieses Verfahrens als auch seine fleißige Nutzung lassen sich nur dann durchführen, wenn eine genügend große Anzahl sachkundiger Bürger vorhanden ist, die das will. Die Schaffung dieses Potentials ist eine Ausbildungsfrage. Zunächst braucht man Ausbilder (Dreigliederungs-Lehrer) und geeignetes Studienmaterial. Soweit ich sehe, gibt es in der Sekundärliteratur bisher kein geeignetes Einführungswerk in die „Dreigliederung des sozialen Organismus“, und die auftretenden Lehrer tragen Inhalte vor, die in grundlegenden Punkten voneinander abweichen. Der Anfang dürfte also darin bestehen, daß der von Rudolf Steiner gegebene Gedankeninhalt von den Lehrern verstanden wird, damit sie nichts Gegensätzliches verbreiten. Ich gehe davon aus, daß mit den Äußerungen Rudolf Steiners eine vollständige und einheitliche Darstellung vorliegt und daß die Differenzierung zu Lasten der Schüler geht, von der unterschiedliche Interpretationen herrühren. Ob es wohl möglich ist, daß diejenigen, die über die Idee von der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ vortragen bzw. schreiben, sich um ein einheitliches Verständnis bemühen?


Quelle: Beiträge zur Dreigliederung, Anthroposophie und Kunst, Heft 45, 1995. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.