Republikanisch, nicht demokratisch

01.09.1956

Die Redaktion: In diesem Beitrag beschreibt ein Weggefährte Rudolf Steiners die Verfassung, die Steiner Organen des Geisteslebens zu geben bemüht war. Rudolf Steiner stellte die hier als "republikanisch" charakterisierte Verfassung für Einrichtungen des Geisteslebens neben seine ganz andersartigen Vorschläge für das Rechtsleben (demokratisch) und für das Wirtschaftsleben (assoziativ). Erstmals veröffentlicht in den "Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland," Nr. 37, Michaeli 1956, S. 110-116.

Als Rudolf Steiner aus dem Kreise des Kollegiums der Stuttgarter Waldorfschule in den ersten Jahren ihres Bestehens einmal gefragt wurde, was für eine Verfassung die richtige für ein solches Kollegium wäre, gab er zur Antwort: „Eine republikanische, nicht eine demokratische." Im Laufe der folgenden Jahre, als wir nach Dr. Steiners Hingang um eine sachgemäße Form des Zusammenwirkens in diesem Kollegium zu ringen hatten, konnte sich einem zeigen, was mit diesem Hinweis gemeint war, und dass damit eine ganz neue, dem Geiste unserer Zeit entsprechende soziale Aufgabe gestellt war. Im Erleben und Erleiden dieses Ringens konnte auch deutlich werden, worin die Schwierigkeiten für eine rechte Lösung dieser Aufgabe bestehen. Andererseits ergab sich die Erkenntnis, dass mit der Weihnachtstagung der durch sie gegründeten Anthroposophischen Gesellschaft genau diese soziale Aufgabe im großen Stile gestellt war, und dass Rudolf Steiner durch seine eigene Handhabung dieser Gründung bis in Einzelheiten hinein ein höchstes Vorbild für wahrhaft „republikanisches" Verhalten gegeben hat. Das Leben der Gesellschaft gebietet es, dass einmal von dieser Seite Licht auf ihre Konstitution geworfen werde.

Anstatt rein begrifflich zu beginnen, beginne ich lieber mit einem praktischen Fall, der mir noch vor der Kenntnis von Dr. Steiners Anweisung gleichsam am Vortage des Beginns meiner eigenen Tätigkeit als Waldorflehrer entgegengetreten ist, und den ich wegen der Bedeutung, die er mir sogleich zu haben schien, stets lebhaft in Erinnerung behalten habe. Es war nach der Generalprobe für eine sogenannte Monatsfeier der Schule, der ich einige Zeit vor meiner Übersiedelung nach Stuttgart bei Gelegenheit einer Vorbesprechung mit Dr. Steiner beigewohnt hatte. Da hörte ich zwei Eurythmielehrerinnen sich kritisch über die Programmfolge äußern, in der sie beide durch je eine oder mehrere Nummern vertreten waren. Da sie beide in ihrer Kritik einig waren, fragte ich sie erstaunt, warum sie denn die Reihenfolge nicht änderten bzw. ändern ließen? Daraufhin wurde mir erklärt, man habe einmal durch Kollegiumsbeschluss einen bestimmten Kollegen mit der Aufgabe der Festsetzung der Programmfolge betraut. Dieser tue dies nach den Vorproben vor der Generalprobe, wonach eine Änderung nicht mehr in Frage komme. Wenn jeder bis zuletzt immer dreinreden könne, so würde niemals etwas zustandekommen. „Nachdem wir einmal selber einen von uns mit der Aufgabe der Programmfestsetzung betraut haben, müssen wir uns natürlich seinen Entschlüssen fügen, auch wenn wir innerlich nicht damit einig gehen." Hätte ich damals Rudolf Steiners konstitutionelle Anweisung schon gekannt (die das Kollegium als Ganzes aber niemals recht ins Bewusstsein genommen hat), so wäre mir der „republikanische" Zug in dem, was mir damals entgegentrat, sogleich deutlich gewesen. Als später vielfach hiergegen so schmerzlich gefehlt wurde, musste ich oft an dieses Erlebnis zurück denken.

Was unterscheidet eine republikanische von einer älteren theokratisch-hierarchischen Verfassung, und was hatte Rudolf Steiner im Sinn, als er sie im Unterschiede zu einer demokratischen Verfassung eben eine „republikanische" nannte?

Wie wir wissen, waren die ursprünglichen Sozialordnungen der Menschheit rein vertikale, durch die übersinnliche Führung von oben herab bestimmte. Die Einrichtung und Erhaltung dieser Ordnungen war Sache der Eingeweihten-Priester. Die jeweilige Sprosse auf der sich die Angehörigen dieser Ordnung befanden, war durch den Blutszusammenhang, in dem sie durch ihre Geburt standen, gegeben. Dadurch waren die Fähigkeiten und damit die Funktionsmöglichkeiten des Einzelnen in der Gesamtheit bestimmt. Sie an geeigneter Stelle einzusetzen, war Sache des die Gottheit vertretenden Eingeweihten, bzw. der durch den Eingeweihten wirkenden Gottheit. An die Stelle dieser Ordnung trat in Griechenland erstmalig die Demokratie und in Rom die Republik. Von ersterer macht man sich aber eine falsche Vorstellung, wenn man den heutigen Begriff der Demokratie darauf anwendet. Das Wort bedeutet zwar Volks-Herrschaft, und es sollte ausdrücken, dass das, was früher rein von oben herab geordnet und verwaltet worden war, jetzt in die Hände der Glieder des sozialen Organismus selbst gelegt war. Aber das „Volk" war ja immer noch blutsverwandte Gruppe mit einer gemeinsamen Gruppenseele, durch die eine bestimmte göttliche Wesenheit wirkend erlebt wurde. Auf diese bezog man sich daher auch in allen gemeinsamen Angelegenheiten und fühlte sich ihr entsprechend verantwortlich. Man erinnere sich an Rudolf Steiners Darstellung des Falles des Aristides, der als ein der Zeit vorauseilender individuell „Gerechter" von seinen Mitbürgern hoch geehrt und sogar mit diesem Beinamen ausgezeichnet wurde, zugleich aber als ein aus der Gruppenseele Herausfallender verbannt wurde.

Erst in Rom verschwand dieser immer noch vertikale Aufblick, und es trat erstmalig der Begriff des „socius", des Genossen auf (woraus dann der Ausdruck „sozial" in seinen verschiedenen Anwendungen entsprungen ist) entsprechend der neuen im Vergleich zur früheren horizontalen Blickrichtung. Und so betont dann der Römer, dass die Ordnung und Handhabung der gemeinsamen Angelegenheiten „öffentliche Sache" – res publica ist. Wohl bedurfte auch da das soziale Ganze einer vertikalen Abstufung, aber diese ergab sich aus Beschlüssen der socii auf Grund der ihnen allen zugänglichen Einsicht in die gemeinsamen Belange und ihres selbstgebildeten Urteils über die Eignung ihrer mit der jeweiligen Funktion zu betrauenden Mitbürger. Dennoch bedurfte auch Rom eines bis zu einem gewissen Grade noch kosmisch verbundenen Königtums am Beginn seiner Geschichte. Und wie wenig die Menschheit in der Lage ist, auf die Dauer eine solche Sozialordnung zu meistern, zeigt das Hineinmünden der römischen Geschichte in das Kaisertum mit seiner Selbstvergottung des allmächtigen Herrschers.

Wir bedürfen für unsere Zwecke noch der Klärung eines weiteren soziologischen Begriffes. Das ist der der Aristokratie. Der neuere Sprachgebrauch kennt dieses Wort zur Bezeichnung einer Schichte der Bevölkerung, die durch einen bestimmten Blutszusammenhang von anderen Schichten unterschieden ist, wobei mit diesem heute allerdings nicht mehr gültige Rechte und Pflichten höherer Art in der menschlichen Gesellschaft verbunden waren. Damit ist dieses Wort aber weit abgekommen von seiner ursprünglichen Bedeutung. Denn erstens bezeichnet es seinem Wortsinne nach ebenso wenig wie Demokratie einen Stand, sondern eine Sozialordnung, und zweitens meint es als solches eine „Herrschaft der Besten", wobei das soziale „Besser"-Sein allerdings ursprünglich eine Gegebenheit des Blutszusammenhanges war.

Im Kampfe gegen die traditionellen Ansprüche einer vertikalen, rein auf Blutsvorrechte gegründeten „aristokratischen" Sozialordnung, kam in neuer Zeit der Begriff der Demokratie auf, nun aber ohne jene antike Bezugsmöglichkeit auf eine übersinnliche Wesensseite des „demos". Alle sind da gleicherweise Volk und bestimmen als miteinander Gleiche ihre gemeinsamen Angelegenheiten. Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, hier ins Einzelne zu gehen darüber, wie dies zum Parlamentarismus geführt hat mit seinen verschiedenen Systemen der Vertretung von GruppenInteressen durch gewählte Vertreter, und wie durch die Methode der Mehrheitsbeschlüsse der an sich zeitgerechte soziale Impuls an seiner Auswirkung gerade verhindert worden ist. (Siehe hierzu den Vortrag III in „Geschichtliche Symptomatologie", gehalten am 20. Oktober 1918 in Dornach.)

Es ist aber gerade diese Verfälschung bewirkt durch die zunächst bestehende Unfähigkeit der Menschen des neuen Zeitalters, für den neuen Sozialimpuls die entsprechenden Begriffe zu bilden -, welche heute im Westen der Welt allgemein als „Demokratie" bezeichnet wird. Und auf diesen Begriff der Demokratie bezog sich Rudolf Steiners Hinweis: „nicht demokratisch".

Versuchen wir jetzt, uns in Erinnerung an den eingangs geschilderten Fall aus dem Leben der Waldorfschule klar zu machen, was im Unterschiede zur Demokratie in dem zuletzt aufgetretenen Sinne eine republikanische Gemeinschaftsordnung ist. Es sei mir gestattet, dabei wieder an meine früheren langjährigen Berufserfahrungen als Waldorflehrer anzuknüpfen.

Die Lehrerkonferenzen unserer Schulen pflegen gegliedert zu sein in einen „pädagogischen" und einen „geschäftlichen" Teil (mit verschiedenen Namen für den letzteren). Es ist dieser letztere, welcher der zumeist schwierig zu meisternde ist, gerade weil er den Schulungsgrund für das neue soziale Verhalten bildet. Er soll uns daher auch hier allein beschäftigen. Es ist charakteristisch, dass es diesen Konferenzteil in einer direktorial verwalteten Schule nicht gibt. Denn eines solchen bedarf es nur dort, wo die „Sache" (res) der Schule eine Angelegenheit aller Lehrer (publica) ist. In einem solchen Kollegium ist also ein jedes Mitglied berechtigt und verpflichtet, über alle die Schule innerlich und äußerlich betreffenden Angelegenheiten informiert zu sein, und es hat ebenso das Recht und die Pflicht, an der gemeinsamen Ansichtsbildung über die zu fassenden Maßnahmen für die Verwaltung der Schule im Ganzen und in den Einzelheiten mitzuwirken. Zur Ausübung der einzelnen Maßnahmen wie Verkehr mit den Behörden, mit den Eltern, Verwaltung der Finanzen, Betreuung der Gebäude, Lehrmittel usw., Führung der Konferenzen bedarf es einzelner Personen, die mit diesen Funktionen betraut sind. Ihre Beauftragung geschieht durch das Kollegium nach dem Gesichtspunkt, dass sie die jeweils „Besten" für die betreffende Funktion sind. Diese 3 Beauftragung mag und – aus naheliegenden Gründen, die uns aber noch genauer beschäftigen werden - muss im allgemeinen für eine begrenzte Zeitdauer gelten, deren Länge ebenfalls durch gemeinsame Verabredung festgesetzt ist.

Indem die Gemeinschaft sich auf diese zunächst demokratische Weise eine Hierarchie von Funktionären erzeugt, begibt sie sich des weiteren eines demokratischen Verhältnisses zu diesen. Denn nun tritt jene Regel in Kraft, zu deren Kennzeichnung das eingangs mitgeteilte Beispiel aus dem Leben der Schule dienen sollte. Denn für die Zeit ihrer Amtsausübung bilden diese Funktionäre gegenüber dem Kollegium eine „Aristokratie", deren Maßnahmen sich das „Volk" zu fügen hat. An diesem Grenzübergang von der Demokratie zur wahren Republik, die, wie sich hier zeigt, keineswegs im Widerspruch zum wahren Begriff der Aristokratie steht, treten nun aber zwei wesentliche Faktoren ins Spiel, ohne deren Berücksichtigung und ständig bewusste Handhabung die Republik ständig in Gefahr ist, einerseits zur bloßen Demokratie, andererseits zu einer Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) zu werden. Es sind diese Faktoren, gegen die aus der hergebrachten Natur der Menschen immer wieder gefehlt wird, und die zu erkennen und in die rechte Lebensgewohnheit zu bekommen daher die schwierige, aber eigentliche soziale Aufgabe darstellt. Denn, wie wir sehen werden, ist das nämlich nicht ohne ein zweiseitiges Opfer möglich.

Die Funktionäre, haben sie einmal ihr Amt übernommen, sollen ja in Ausübung desselben ihr möglichst Bestes geben können. Mit seinem Besten nun ist der Mensch aber bei der Sache, wenn er sich in irgendeinem Grade schöpferisch betätigen kann. Das aber verlangt für ihn die Möglichkeit freier Initiative; denn nur dann ist er in der Lage, von seinem Ich aus zu wirken. Daran darf er also nicht durch dauerndes demokratisches Dreinreden behindert werden oder gar dadurch, dass man sein Wirkensfeld betreffende Beschlüsse auf demokratische Weise fasst und ihm deren Ausführung aufnötigt. Im praktischen Leben ist es nicht immer leicht, hierauf zu verzichten. Denn der Funktionär ist von der Gesamtheit zwar als ein relativ „Bester" gewählt worden; aber niemand ist vollkommen, und es mag vorkommen, dass in dem oder jenem Falle ein Nichtfunktionär die Sache wirklich besser gemacht hätte. Und da heißt es denn auf Seiten dieser, den Verzicht auszuüben, zu dem sie sich durch das Herausstellen des Einzelnen entschlossen haben, und jede Folge aus der Handlungsweise des Funktionärs auf sich zu nehmen und mit ihm brüderlich durchzutragen. Erweist er sich auf die Dauer als ungeeignet, so hat man ja die Möglichkeit, ihn nach Ablauf seiner Amtszeit - oder in Ausnahmefällen schon vorher -, durch eine andere Person zu ersetzen. Nur darf ein vermeintlicher oder wirklicher Fehlschlag in seinem Amte nicht dazu führen, dass man ihn an der weiteren Entfaltung freier Initiative beschränkt oder hindert. Denn dann wird sein Handeln mit Sicherheit immer fehlerhafter werden. Und während man meint, dass er den Beweis für das Misstrauen in seine Fähigkeiten selber erbracht hat, bemerkt man nicht, dass man daran selber die Schuld trägt. Als ich Anfang der zwanziger Jahre zur Gesellschaft kam, war Stuttgart, nach einem von Dr. Steiner gebrauchten Ausdruck, voll solcher „Leichen".

Ich kann mich manches Falles erinnern, in welchem in diesem Sinne das Lehrerkollegium, einmal in die Demokratie abgeglitten, Initiativkraft des Einzelnen gelähmt, ja bis an den Rand der Zerstörung gebracht hat. Und daran änderte auch nichts, wenn man in der Meinung, dadurch Demokratie zu vermeiden, von Mehrheitsbeschlüssen absah und Einmütigkeit zur Voraussetzung von Beschlüssen machte. Denn da konnte dann der betreffende Funktionär eine wohlbedachte Tatabsicht in die Konferenz bringen, und es genügte die widersprechende Stimme eines einzigen Kollegen, um die Ausführung der Tat zu verhindern. Dann fand man manche sich dabei beruhigen, dass „wenigstens nichts" geschah!

In Wirklichkeit aber ist die Lage dann eine ganz andere. Denken wir uns diese vor dem Hereinbringen der Initiative in das Kollegium im Bilde einer „Null-Ebene" mit einem positiven Feld über und einem negativen unter ihr. Durch das Hereinbringen der Initiative ist zunächst eine Situation über der Nullebene hergestellt. Wird die Initiative auf die geschilderte Weise zunichte gemacht, so sinkt die Situation nicht auf die Nullebene zurück, sondern um ebensoviel unter sie, als sie vorher über ihr war. Auf diese Weise werden im Lebensorganismus einer solchen Institution geistige Hohlstellen erzeugt, in die hinein recht andere als die guten Geister der betreffenden Menschengruppe hineinzuwirken beginnen.

Etwas anderes liegt vor, wenn durch die Beratung, die der Funktionär mit der Gesamtheit gepflogen hat, er selber zu der Überzeugung gekommen ist, dass er besser nicht oder anders handelt. Das aber bringt uns zu der anderen Seite des hier vorliegenden sozialen Problems. Bei aller „aristokratischen" Freiheit der Funktionäre will ja die „res" eine „publica" bleiben. Das nun verlangt, dass die Gesamtheit ständig durch gehörige Information ein Bewusstsein der sie angehenden Belange hat und zwar in solchem Grade und auf solche Weise, dass den Einzelnen die Voraussetzungen zu sachgemäßer Urteilsbildung gegeben sind, und dadurch auch zu sachgemäßer Beratung der Funktionäre. Hier herrscht auf Seiten der Funktionäre die Gefahr, dass das ihnen zustehende aristokratische Element zur Oligarchie ausartet, indem sie in dem Bedürfnis, ihre Handlungsfreiheit zu wahren, die Gesamtheit nicht genügend informieren und ihr nicht genügend Rede und Antwort stehen. Leicht entsteht dies gerade dadurch, dass die Gesamtheit ihr Recht auf Beratung überschreitet, indem sie, wie schon geschildert, die in ihrem Kreise geäußerten Meinungen dem Funktionär als „Direktiven" für seine Handlungen aufzunötigen versucht. Seine Pflicht ist es, ernsthaft auf jede Meinung und jeden Rat zu hören. Ob und wie er sie für seine Handlungen verwendet, steht ihm frei. Wir sehen, wie die Schwierigkeiten und das Vermeiden derselben sich gegenseitig bedingen.

„Freiheit opfern um einer höheren Freiheit willen", hat Rudolf Steiner einmal als ein Motto für geistig verpflichtendes menschliches Zusammenwirken ausgesprochen. Ohne dieses ist eine wahre Republik, oder, wie wir nun auch vielleicht wagen können sie zu nennen, eine rechte Aristo-Demokratie nicht möglich. Bemüht man sich täglich auf der einen wie auf der anderen Seite darum, das nötige Opfer zu bringen auf der Seite des „demos": die Handlungen der „aristoi" als selbstgewähltes Schicksal anzuerkennen und mitzutragen; auf der Seite der „aristoi": dem „demos" die Rolle des eigenen Bewusstseinsorgans zuzuerkennen dann entsteht zwischen beiden Polen eine rhythmische Zwischensphäre, in der das Ich der Gemeinschaft zu seinem Herzschlag kommen kann. Und die aus der wohlwollenden Beachtung der gegenseitigen Belange entstehende Atmosphäre wird eine solche, dass der Gemeinschaftskörper darin eine gesunde Atmung entwickeln kann.

Wer etwa meinte, dass der Vorgang der Gesellschaftsgründung an Weihnachten 1923 kein in dem hier dargestellten Sinne republikanischer war, und dass die der Gesellschaft gegebene Verfassung keine republikanische sei, der hat beide nicht in ihrem Wesen verstanden. Man könnte geneigt sein zu glauben, dass hier die Dinge doch anders lagen, indem Rudolf Steiner als Eingeweihter im Sinne der von ihm beabsichtigten Erneuerung der Mysterien ähnlich den einstigen Mysterienführern die Gesellschaft aus dem Geiste herab begründet und ihr ihren geistigen Grundstein gegeben hat. Gewiss bedurfte es seiner mit allen seinen Fähigkeiten, damit all dies auf eine solche Weise zustandekommen konnte. Aber das bedeutete für das republikanische Element nur eine Metamorphose, nicht den Ersatz desselben durch ein wesentlich anderes Element. Ja, wie wir noch sehen werden, hat etwas, dem man allein Gültigkeit für ein Geschehen vom Charakter der Weihnachtstagung zuzuschreiben geneigt sein möchte, grundsätzlich Geltung für jedes im republikanischen Sinne orientierte soziale Streben.

Betrachten wir einmal daraufhin, wie Dr. Steiners Stellung als Vorsitzender der Gesellschaft zustande gekommen ist. Nicht ist dies etwa so geschehen, dass er eine Gesellschaft mit sich als Vorsitzendem begründet hat, in die einzutreten wir dann von ihm aufgefordert wurden. Vielmehr hat er uns angeboten, mit uns zusammen eine Gesellschaft zu gründen, in der er bereit war, den Vorsitz zu übernehmen. Zur Bedingung stand dabei von seiner Seite, so erklärte er, dass wir diejenigen Personen als seine Mitarbeiter im Vorstand anerkannten, mit denen zusammen allein er die Arbeit durchführen könne. Da erlebte man zum ersten Male als ein soziales Prinzip unseres Zeitalters Freiheit gegen Freiheit gestellt, wie wir dies später noch wiederholt erleben konnten, und wie er dies selber ausdrücklich als für die Handhabung der esoterischen Schule gültig bezeichnet hat [1]. Denn wir waren frei gelassen, diesen Vorschlag anzunehmen, und Rudolf Steiner war frei in den mit seinem Vorschlag verbundenen Bedingungen. Real wurde seine Stellung erst durch unsere Zustimmung zu seiner Wahl seiner Mitarbeiter. Er hat dann zwar diesen Vorstand ständig und mit Nachdruck als einen esoterischen bezeichnet. Aber was hieß das anderes, als dass die Gründe dafür, dass diese Persönlichkeiten als für diese Aufgabe bestens Geeignete beurteilt werden konnten, in der den Sinnen und dem verstandesmäßigen Urteil nicht zugänglichen Welt angehörten. Damit appellierte er nicht an unser Urteil über diese Persönlichkeiten, sondern an unser Urteil über ihn selber als jemanden, der fähig war, in jener Welt objektiv forschen zu können, für welches Urteil er uns ja aber durch sein ganzes bisheriges Wirken die Erfahrungsgrundlage gegeben hatte. Dennoch machte ihm dies nicht überflüssig, der damaligen Versammlung die Mitglieder des zu gründenden Vorstandes einzeln vorzustellen mit einer kurzen Charakterisierung einiger der äußeren Beurteilung wohl zugänglicher Eigenschaften und jedes Mitglied einzeln von uns durch Akklamation bestätigen zu lassen. Nachdrücklich hat er dabei darauf hingewiesen, dass dieser Vorstand nicht im sonst üblichen Sinne durch Wahl zustande gekommen ist, also nicht auf demokratischem Wege [2]. Aber „Republik" war es im genauesten Sinne des Wortes.

Und mit welch vorbildlicher Geduld hat er dann das „Publikum" informiert und ihm erlaubt, sich durch Fragen an ihn über jeden Paragraphen der Prinzipien der Gesellschaft genauestens zu informieren, und jeden einzelnen durch die Anwesenden bestätigen lassen. Alles wurde da so vorgenommen, dass die neu entstehende „res" auch wirklich eine „publica" war. Und darin war die ganze damals bestehende Anthroposophenschaft einbezogen. Denn die Versammlung war ja ganz im Sinne desjenigen abgehalten, was im Abs. 2 der „Prinzipien" mit den Worten gesagt ist: „Den Grundstock dieser Gesellschaft bilden die in der Weihnachtszeit 1923 versammelten Persönlichkeiten, sowohl die einzelnen, wie auch die Gruppen, die sich vertreten ließen."

Anders waren denn auch die künftig von der Gesellschaft abzuhaltenden Generalversammlungen nicht gemeint [3].

Von diesem Einbeziehen der Gesamtheit in seine Handlungen hat Rudolf Steiner nicht einmal den Akt der geistigen Grundsteinlegung ausgenommen. Gewiss, in diesem kultischen Vorgang war er der gewissermaßen hohepriesterliche Vermittler zwischen den geistigen Welten und der Erde. Aber man lese die Grundsteinansprache daraufhin nach, wie konsequent er die anwesenden Erdenseelen in jeden Schritt der Handlung aktiv einbezogen hat.

Anstatt weiterer Beispiele für das hier zu Kennzeichnende, die durch ein Studium des Gründungsberichtes leicht zu finden sind, sei ein mir von Rudolf Steiner nach der Weihnachtstagung gegebener Hinweis berichtet, welcher die andere Seite der republikanischen Verfassung beleuchtet, ganz in der Art, wie wir sie uns weiter oben zu verdeutlichen versucht haben. Es war im Zusammenhang einer bestimmten Frage, das Sektionswesen betreffend, dass er mir am Beispiel der Medizinischen Sektion das Folgende sagte: Es könnten ja nicht alle Arzte in der Welt durch persönliche Anwesenheit in Verbindung mit der Sektion kommen und diese pflegen. Daher würde mit der Zeit eine Korrespondenz zwischen der Sektionsleitung und der Ärzteschaft draußen entwickelt werden, indem Briefe hinausgeschrieben würden zur Information der Sektionsmitglieder, aber auch Fragen gestellt würden, auf die dann Antworten einlaufen, welche die Sektionsleitung veranlassen würden, wiederum weiteres hinauszuschreiben. (Man erkennt hier den einen Pol der republikanischen Verfassung.) Aber es müsse hinfort alle Korrespondenz an Frau Dr. Wegman gerichtet sein. An ihn in Sachen der medizinischen Sektion gerichtete Briefe würden „ungelesen" in den Papierkorb wandern.

Im Anhören dieser Worte konnte ich nicht anders, als an den Ausspruch über die Stuttgarter „Leichen" denken. Und beglückt empfand ich: Hier wird dafür gesorgt, dass der Strom des Lebens zu dem einmal in Funktion Befindlichen hingeleitet bleibt, damit er an sich ein relativ „Bester" durch diesen befruchtet immer „besserwerden kann und nicht durch Fortleiten des Stromes vertrocknet, bis er so „schlecht" geworden ist, wie ihn die den Strom Fortleitenden mit untrüglichem Verstande schon vorweg beurteilt hatten.

Das hier Vorgebrachte möge genügen; um zu zeigen, dass die Tatsache, dass Rudolf Steiner als Eingeweihter der Gesellschaft mit sich selbst als Vorsitzendem zur Begründung verholfen hat, als solcher ihr einen esoterischen Grundstein und einen esoterischen Vorstand gegeben hat, nicht ausgeschlossen hat, ihr eine rein republikanische Lebensform zu geben. Jetzt sei noch gezeigt, dass ebenso wenig umgekehrt eine gewöhnliche Werkgemeinschaft, wenn sie nur wirklich republikanisch lebt, sich von dem grundsätzlich unterscheidet, was in seiner Art gewiss nur durch die Initiative und das persönliche Darinnenstehen des Eingeweihten entstehen kann. Wir hatten weiter oben Gelegenheit, von dem Herzschlag des Ich einer solchen Gemeinschaft zu sprechen und der gesunden Atmung ihres Organismus, welcher zustandekommen kann, wenn die von beiden Seiten nötigen Opfer gebracht und aufrecht erhalten werden. Dies sei nun noch auf folgende Weise verdeutlicht.

Rudolf Steiner hat einmal die Leistung vollbracht, mitten in der ansteigenden Inflationsflut für ein zu errichtendes Gebäude im Anblick der Zeichnungen des Architekten gegenüber dem von diesem genannten Preis einen beträchtlich höheren zu nennen, den der Bau dann wider das Erwarten des Architekten dann auch wirklich gekostet hat. Gefragt, wie er das zustande gebracht hätte, erwiderte er, dass man dazu der Imagination fähig sein müsse. Durch sie könne man des wahren Preises der Dinge gewahr werden. Auf die daraufhin gestellte weitere Frage, wie denn dann aber jemals eine Gesundung des Wirtschaftslebens erhofft werden könne, solange die darin Arbeitenden nicht die Fähigkeit der Imagination erlangt hätten (es war das in der Zeit der Dreigliederungsbewegung), antwortete er, dass er zu diesem Zwecke den assoziativen Aufbau des Wirtschaftslebens angegeben habe. Denn wenn eine Anzahl Bewusstseine sich in wohlwollendem Austausch zusammenfinden, dann können sie zusammen ersetzen, was dem einzelnen Bewusstsein erst durch Einweihung auf höherer Ebene möglich wird. Das sei ein allgemein gültiges Gesetz.

So dürfen wir uns denn sagen, dass da, wo Bedingungen herrschen, die dem Wesen der wahren Republik entsprechen, die Gemeinschaft zu einer solchen wird, in welcher das Initiationsprinzip zum Prinzip der sozialen Gestaltung wird. Auch dies gehört daher zu den Bemühungen im Sinne der Erneuerung der Mysterien, die Rudolf Steiner als Aufgabe der durch die Weihnachtstagung begründeten Gesellschaft bezeichnet hat. Wie schwer es aber ist, die dafür nötigen Opfer - sowohl der Oligarchie wie der Demokratie – zu bringen, das hat die bisherige Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft schmerzlich gezeigt.

Anmerkungen

  • [1] „Es handelt sich bei dem, was ich zunächst als 1. Klasse konstituieren möchte, darum, dass das Verhältnis der Leitung zu den einzelnen Mitgliedern gewissermaßen als ein freies Vertragsverhältnis vorgestellt werden muss, aber als ein freies Vertragsverhältnis, das man eben wirklich eingeht. So dass die Leitung eben in keinem Augenblicke sich gebunden fühlen kann, irgendwie dasjenige, was in der 1. Klasse getrieben werden soll, mit einem Mitgliede zu treiben, wenn das Mitglied eben nicht die Gegenverpflichtung übernimmt. Also es handelt sich wirklich um ein freies Vertragsverhältnis." (Aus „Die Konstitution der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft", Dornach 1944, S. 42/3.)
  • [2] „Es ist gesagt: der Gesamtvorstand wird gebildet; damit ist darauf hingewiesen, dass er weder gewählt, noch ernannt worden ist, sondern als ein selbstverständlicher, durch die Gründe, die angeführt worden sind, designierter Vorstand, von der Sache designierter Vorstand also bei dieser Gründungsversammlung begründet worden ist ... Dann bitte ich Sie, jetzt nicht im Sinne einer Abstimmung in dem Sinne, wie die früheren Abstimmungen waren, sondern mit dem Gefühl: Sie geben diesem Grundcharakter der Führung einer wirklichen Anthroposophischen Gesellschaft recht, bitte ich Sie, Ihre Zustimmung dazu zu geben, dass dieser Vorstand hier für die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft gegründet werde." (Lang anhaltender Beifall.) (Aus „Die Weihnachtstagung", Dornach 1944, S. 128/9.)
  • [3] Dies geht aus dem folgenden Passus aus den Protokollen der Weihnachtstagung hervor: Herr Donner, Helsingfors: „Es kommt wohl in Frage bei diesem Punkte (jährliche Generalversammlung in Dornach), dass die Landesgesellschaften ihre Generalversammlungen zuerst abhalten sollten, und dass dann erst die Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft stattfindet. Ob es praktisch ist, dass dies jedesmal geschieht?" Dr. Steiner: „Es dürfte ja vielleicht ganz praktisch sein, wenn sich der Usus herausbilden würde, dass die Ländergesellschaften zunächst eine Versammlung abhielten, in der sie ihre Delegierten für die hiesige Versammlung bestimmten, und sich dann in einer weiteren Versammlung referieren ließen über das, was hier geschehen ist. Das würde vielleicht als der beste Usus herauskommen." (Aus „Die Weihnachtstagung", Dornach 1944, S. 125.)

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