Technik und Erziehung - Die Wasserkraftanlagen

17.10.1937

Quelle
Zeitschrift „Das Goetheanum“
16. Jg., Nr. 42/1937, 17.10.1937, S. 334–336
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung

Wer im Sinne Rudolf Steiners unterrichten will, dessen Streben wird immer sein, sich nicht bloss an den Verstand zu wenden, sondern an das lebendige Empfinden. Dies gilt auch da, wo der Unterricht das Technische zum Gegenstand hat, und gerade ein solcher Unterricht bekommt dadurch ein besonderes Gepräge, weil es ja auf den ersten Blick so scheinen muss, als ob das Technische nur mit Willen und Verstand zu tun hätte, aber gar nicht mit dem Fühlen, dem Empfinden. Dieser Eindruck ist sogar von einer bestimmten Seite ganz richtig, denn es gehört zum Wesen der Technik, dass schon bei ihrer Entstehung sich nichts Seelisches hereinmischen darf; ihr Wesen ist denkendes Wollen. Und doch waren es fühlende Menschen, welche die Technik geschaffen, und wer meint, dass die grossen Techniker nur Willens- und Verstandesmenschen waren, der irrt sich. Soll also in der Welt, in der Umgebung, die sich die Menschen geschaffen haben, so etwas wie ein seelischer Gleichgewichtszustand herrschen – und nur ein solcher macht erst das Leben erträglich – dann muss der Mensch gerade dieser Welt der Technik gegenüber aus dem bewusst-tätigen Leben seiner Seele heraus die rechten Empfindungen in sich erwecken können.

Sich für eine Sache interessieren, heisst sich mit ihr in lebendig-empfindender Weise verbinden wollen. Zu den ersten Aufgaben des Unterrichtenden wird es also gehören, so über das Technische zu sprechen, dass es den Schüler interessiert. Dabei muss er sich aber selbst der strengsten Sachlichkeit befleissigen und doch ganz im Gegenstande leben. Man nimmt nämlich der Technik ihr grausam Verhärtendes, ihr Ahrimanisches, indem man sie mit Begeisterung vorträgt – diesen Rat hat Rudolf Steiner gegeben. Diese sich rein am Sachlichen entzündende Begeisterung liefert dann den Nährboden, auf dem beim Schüler von innen heraus – nicht durch den Unterricht aufgepfropft – das richtige menschliche Empfinden erwachsen kann, und wenn dies gelingt, dann nimmt der Schüler etwas aus der Schule ins Leben mit, das wertvoller ist als Gedächtnisstoff und Prüfungserfolge.

Gegen das Ende der Schulzeit, also im 11. und 12. Schuljahr (18.–19. Lebensjahr) tritt in den zur Gestaltung eines Lehrplanes gegebenen Ratschlägen der Zug hervor, einerseits Zusammenfassendes zu geben und grosse Überblicke, andererseits den Blick für die Verhältnisse des Lebens zu schärfen.

Was die Schüler in Mathematik, Mechanik, in Elektrizitätslehre, in Geographie, in Meteorologie sich angeeignet haben, sollte jetzt in einer Zusammenfassung behandelt werden, die von den praktischen Verhältnissen, von den Bedürfnissen der Menschen ihren Ausgang nimmt.

„Was geschieht, wenn ich in meinem Zimmer das elektrische Licht ,anknipse‘?“ Von dieser Frage sollte man, einem von Rudolf Steiner gegebenen Rate folgend, ausgehen.

Geht man dann wirklich dem nach, was da geschieht, dann ist man überrascht, was alles notwendig ist, was alles zuverlässig vor sich gehen muss, damit die Lampe wirklich unter der Wirkung des elektrischen Stromes erglühe und Licht spende.

Zuerst setzt sich einmal der Zähler in Bewegung und mahnt, dass der elektrische Strom nicht einfach irgendwoher kommt, sondern unter grossem Aufwand erzeugt und verteilt werden muss. Dann macht sich die Stromabnahme bei einer der Verteilungsstellen bemerkbar, deren eine grosse Stadt eine ganze Anzahl besitzt. Sie setzen die von der Hauptverteilungsstelle herrührende, noch zu hohe Spannung soweit herab, dass der Strom in die Hausleitungen geführt

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werden kann. Die Hauptverteilungsstelle hat schon eine erhebliche Spannungsverminderung mit dem Strom vorgenommen, der ihr von der sogenannten „Sammelschiene“ von der grossen Überlandleitung zugeführt wird. Damit aber die Stromversorgung für Licht, Kraft und Wärme in einer einzelnen Stadt nicht nur von deren eigenen Werken abhänge und im Falle eines Schadens an diesen plötzlich in Finsternis gehüllt dastehe, sind alle Werke eines grösseren Gebietes an die grossen Ausgleichsleitungen angeschlossen, deren Riesenmaste beinahe schon zum gewohnten Bild der modernen Landschaft gehören. Eine solche Riesenleitung verbindet z. B. die von Wasserkraft betriebenen Elektrizitätswerke der Nord-Alpen mit den durch Kohle betriebenen des Ruhrgebietes. Dazu gehören dann die grossen Umspannwerke, wie z. B. das bei München; von ihnen erfolgt die Verteilung und Überwachung des Stromes. Versagt in irgend einem Ort ein Werk, so wird dies durch die Fernzeiginstrumente bzw. auch telephonisch zur Kenntnis des Umspannwerkes gebracht und in kürzester Zeit, oft in weniger als einer Minute ist der Strom von einem anderen Werk, das gerade Überschuss hat, in die Ausgleichsleitung gelegt, so dass von ihr der an einer anderen Stelle fehlende Strom entnommen werden kann, ohne dass die Verteilung im ganzen Netz darunter leidet.

Schon diese wenigen Sätze weisen auf eines der grössten und umfassendsten technisch-wirtschaftlichen Gebilde hin, aber sie sind doch nur eine erste Andeutung.

Nun gilt es sich klar zu machen, wieviel Pferdestärken hierzu erforderlich sind. Man kann zu diesem Zwecke einmal an der Hand von statistischen Angaben, welche durch eine überschlägige Rechnung belebt werden, sich im einzelnen den Strom- und damit den Kraftverbrauch klar machen. Diese letztere Umrechnung ist den Schülern vom Physikunterricht her geläufig; auch hat jeder an einer kleinen Maschine mit der Hand gedreht und weiss aus eigener Erfahrung, welche Kraft notwendig ist, um nur für wenige Augenblicke ein kleines, winziges Lämpchen zum Aufleuchten zu bringen.

Auf diese Weise kann man sich eine wirkhchkeitsgemässe Vorstellung vom Kraftbedarf erarbeiten und steht nun vor der Frage, wie er zu decken ist.

Da gibt es nun zwei grosse Gruppen von Maschinen: einmal die verschiedenen Motoren, also Dampfmaschine, Dampfturbine, Dieselmotor und dann die verschiedenen Wasserkraftmaschinen.

Dampfmaschine und Dieselmotor sind aus dem Physikunterricht bekannt, die Dampfturbine muss hier behandelt werden. Sie gibt Anlass, das Wesen einer Dampf-verbrauchenden Maschine überhaupt den Schülern noch einmal klar zu machen, nämlich, dass es sich nicht nur um Druck und Rauminhalt, sondern besonders um den Wärmeverlust bei der Arbeit des Dampfes handelt. Die Entwicklung der Dampfturbine aus ihren ersten Anfängen wird der Betrachtung zugrunde gelegt.

Der Strombedarf ist aber vielen Schwankungen unterworfen und zwar einmal nach den Jahreszeiten, ein andermal nach den Tageszeiten. Macht man sich ein Schaubild davon, indem man auf einer Wagerechten die Zeiten und senkrecht dazu den jeweils auftretenden Bedarf an Strom für Licht, Kraft, Wärme etc. übereinander aufträgt und diese höchsten Punkte durch eine Kurve verbindet, so erhält man eine auf- und absteigende Wellenlinie. Die von dieser Linie und der waagerechten Grundlinie begrenzte Fläche gibt die Menge des nötigen Stromes innerhalb einer durch zwei Senkrechte begrenzten Zeit an. Alle die eben erwähnten Maschinen lassen aber nur geringe Schwankungen in ihrer Leistung zu und ganz besonders gilt dies für die von ihnen angetriebenen Elektrizitätserzeuger, die sogenannten Dynamos. In einem solchen Schaubild erscheint die Leistung also als eine waagerechte Linie. Liegt diese bei den Stellen grössten Bedarfes, bei den Wellenbergen, den „Spitzen“, dann hätte man eine viel zu grosse Anlage, denn sie wäre nur immer während kurzer Zeiten ausgenützt und die grossen überschüssigen Strommengen schwer anderweitig unterzubringen, denn diese „Spitzen“ treten ja überall fast zur gleichen Zeit auf. Wird die Zentrale dagegen zu klein gebaut – die Gerade liegt dann etwa bei den Wellentälern – dann ist die Deckung des „Spitzen“-Bedarfes mit hohen Kosten verbunden, dann müssen grosse Maschinen da sein, die immer nur kurze Zeit laufen.

Das wäre die eine Unregelmässigkeit, die dem Techniker Sorgen macht, besonders bei Wasserkraftanlagen. Hier aber kommt eine zweite Schwierigkeit von der anderen Seite her dazu, nämlich die schwankende Wasserführung der Bäche und Flüsse. Die Natur selbst bietet manchmal selbst die Möglichkeit eines Ausgleiches z. B., wenn man Werke des Hochgebirges mit solchen des Flachlandes verbinden kann. Die Wässer des Hochgebirges sind im Winter am wasserärmsten, denn die Niederschläge bleiben in Form von Schnee und Eis liegen; zur selben Zeit ist die Wasserführung im Flachlande, wo doch immer Tauwetterzeiten auftreten, eine ausreichende, weil hier der Winter im allgemeinen reich an Niederschlägen ist. Im Hochsommer dagegen sind die Wässer des Flachlandes oft wasserarm, aber je heisser der Sommer, desto höher ins Gebirge hinauf schmelzen die Schnee- und Eismassen, und wenn gar im Frühherbst nach Neuschnee Föhn auftritt, dann gibt es im Hochgebirge die grössten Hochwässer des Jahres. Solche Betrachtungen, für den technologischen Unterricht unerlässlich, geben Gelegenheit zu sehr lebendiger Erfassung von meteorologischen und anderen Verhältnissen über weite Strecken der Erde hin und wecken in sachlichster Weise das Interesse der Schüler für Naturvorgänge. Sie begleiten dann viel wacher mit ihrem Bewusstsein, was da im Lande vorgeht.

Zwischen die Unregelmässigkeiten des Verbrauches und der Wasserführung muss nun der Techniker ein System von Kraftwerken stellen, die der Bevölkerung zu jeder Stunde ihren Strombedarf gewährleistet und es ist für die Schüler dieses Lebensalters geradezu spannend zu verfolgen, wie das bewerkstelligt werden kann. Hier werden dann die Speicheranlagen besprochen, die diesen Ausgleich ermöglichen, den Tagesausgleich, den Jahresausgleich und die Regelung des von den Wasserkraftanlagen abströmenden Wassers, denn der stromabwärts gelegene Anrainer darf nicht von den Schwankungen des Wassers abhängig werden. Rechtsverhältnisse und Wirtschaftsfragen müssen hier berührt werden, und es ergeben sich Einblicke in gar manche Gebiete des praktischen Lebens.

Nun erst kommt die Besprechung der Wasserkraftmaschinen als solche. Da kann man von den ältesten Wasserrädern, den Schöpfrädern ausgehen, welche in derselben Form wie vor vielen Jahrhunderten noch heute in Ägypten und Mesopotamien in einfachster Weise von den Bewohnern selbst gebaut werden. Bei der Holzarmut besonders des letzteren Landes werden sie aus dem krummen Treibholz, das Euphrat und Tigris führen, durch Zusammenbinden hergestellt und stellen mit ihrem weithin hörbaren Gequietsche und den infolge der krummen Hölzer oft abenteuerlichen Formen ein eigenartiges Gebilde dar. Sie schöpfen mittels daran angebrachter Holzkannen, die sich bei der höchsten Stellung des Rades in hölzerne Rinnen entleeren, das Wasser aus dem Fluss auf die höher gelegenen Felder. – Im Mittelalter gab es in Mitteleuropa schon ganz gut gebaute Räder. Sie dienten zum Antrieb von Mühlen und zum Wasserschöpfen aus den Bergwerken. Mechanisch-mathematische Berechnungen stellte man damals selbstverständlich noch nicht an, gibt es doch heute noch in Gebirgsgegenden bäuerliche Radbauer, die aus Gefühl und Erfahrung heraus recht gute Räder zu bauen verstehen. Erst im 19. Jahrhundert begann man Wasserräder zu berechnen.

Eine solche Betrachtung der Wasserräder gibt den Schülern in lebendiger Weise Gelegenheit, sich in das Wirken

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des Wassers im Wasserrad hineinzuleben und dann später die Turbinen besser zu verstehen, bei denen die Wirkungsweise eine viel weniger unmittelbar übersehbare ist. Um sich klar zu machen, dass es sich stets um fallendes Wasser handelt, kann man z. B. ausrechnen lassen, wieviel Wasser den Gotthard herunterlaufen muss, damit ein Eisenbahnzug hinauffahren kann.

Wenn die Zeit es erlaubte, konnten auch von den Schülern Modelle von Wasserrädern und Turbinen aus Pappe hergestellt werden, wobei sich jeder klar machte, für welche Wasserverhältnisse und Geschwindigkeiten die von ihm zu bauende Maschine dienen sollte. Dann wurde ohne Berechnung, nur durch richtige Überlegung eine Vorstellung des Charakteristischen einer solchen Maschine gewonnen und danach ein Modell gemacht, das dann durch Sand oder Luft, die man hineinbliess (z. B. bei Reaktionsturbinen) in Betrieb gesetzt werden konnte.

Die Besprechung der Turbinen, welche erst im 19. Jahrhundert aufgekommen sind, ergibt Gelegenheit, den Schülern die Anwendung des in der Physik Gelernten im praktischen Leben zu zeigen. Dabei nimmt die Turbine unter den Maschinen eine besondere Stellung ein. Man kann nicht, wie bei anderen Motoren, auf Vorrat bauen, denn die Wasserverhältnisse und die Anforderungen des Betriebes sind immer wieder verschieden, so dass fast jede Turbine ein Problem für sich ist. Das führt immer wieder zu interessanten Darstellungen, so z. B. die grosse Mannigfaltigkeit der Formen, die eine Francis-Turbine je nach den gestellten Betriebsbedingungen annehmen kann. Eine Überraschung ist es wiederum, wenn entgegen allen bisher für bindend gehaltenen Bedingungen in der Kaplan-Turbine eine neue Maschinentype auftritt, und alle bisherigen übertrifft. Oder wenn im modernen Pelton-Rad, der Freistrahlturbine, die uralten, im Balkan noch heute ganz primitiv aus Holz mit der Hand geschnitzten Löffelräder auftauchen. Aber während dort gemütlich aus dem Bächlein durch ein Holzrohr Wasser auf die schräg gestellten Löffel geleitet wird, tritt bei den Turbinen das Wasser nach einem Gefälle von oft mehreren Hunderten (bis 900 m) von Metern mit einer solchen Geschwindigkeit aus der engen Stahldüse, dass dieser Wasserstrahl etwa glashart ist.

Ein wichtiger Teil dieses Unterrichtes besteht auch in dem Besuch von Wasserkraftanlagen.

Zuerst geht man in die stillen Täler, wo noch die alten Mühlräder gehen. Klappern hört man kaum noch eine Mühle, denn die schönen alten Mahlwerke mit den würdig umlaufenden, das Korn bedächtig aufschliessenden grossen Mühlsteinen sind fast überall durch die stählernen Walzwerke verdrängt worden, die so eilig surren und die Körner gar gewalttätig behandeln. Man beobachtet die Vorkehrungen am Mühlteich oberhalb der Mühle und versucht durch Messung und Schätzung von Wassermenge und Geschwindigkeit sich eine möglichst richtige Vorstellung von der Grösse der hier gewonnenen Wasserkraft zu bilden. Geht man dann in die Mühle und erhält von dem Müller eine annähernde Bestätigung seiner Schätzung, dann ist man sehr erfreut.

Später besucht man dann die grossen Kraftwerke, welche nicht nur in technischer Hinsicht einen gewaltigen Eindruck machen.

Wer im Sinne Rudolf Steiners zu unterrichten bestrebt ist, für den besteht die selbstverständliche Forderung, die Tatsachen selbst sprechen zu lassen, nichts von sich aus hineinzulegen. Rudolf Steiner hat mahnend darauf hingewiesen, dass der keinen guten Geistern dient, der das vorwegnimmt, was in der Seele des Schülers selbst entstehen sollte.

Was durch einen solchen Unterricht in die Seele gelegt ist, das tritt im späteren Leben als innere Haltung zutage, doch manchmal kommt es vor, dass ein Schüler ganz aus sich heraus zu erkennen gibt, dass dieser Unterricht wirklich sich nicht nur an den Verstand gewendet hat, sondern bis zum Herzen gedrungen ist.

Die letzte Besichtigung in einer solchen Unterrichtsepoche hatte in ein grosses Elektrizitätswerk geführt und die Schüler schlossen ihre Hefte mit einem persönlich-sachlichen Bericht; es war ihnen nahegelegt worden, auch zu erwähnen, was ihnen besonderen Eindruck gemacht habe. Da schrieb nun einer (er wurde später Mathematiker): „Den grössten Eindruck haben mir die Tafeln gemacht, die in grosser Zahl dort zu sehen waren; auf ihnen stand: „Achtung! Lebensgefahr!“ Ich hatte mir vorher nie klar gemacht, dass Menschen in ständiger Lebensgefahr ihre Arbeit verrichten müssen, damit ich selbst zuhause sicher und bequem meine Lampen ,anknipsen‘ kann.“ Diesem Schüler konnte man gerne bestätigen, dass er mit gutem Erfolg am Unterrichte teilgenommen hatte – und der Lehrer fühlte sich reich beschenkt.

[Das Goetheanum, 17.10.1937, Seite 336]