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Die Technisierung der Arbeit und ihre Wirkung auf die menschliche Persönlichkeit
Quelle
Zeitschrift „Das Goetheanum“
12. Jg., Nr. 16/1933, 16.04.1933, S. 124-127
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung
Schon in den Anfängen der anthroposophischen Bewegung sprach Rudolf Steiner von „jener Weisheit, die nicht nur in den Kopf gehen muss, auch nicht bloss ins Herz, sondern in die Hand, in unsere intimsten Fähigkeiten, in das, was der Mensch täglich tut.“
Damit ist hingewiesen auf die Tatsache, dass wir uns in den Tiefen unseres Wesens mit der Welt in Verbindung setzen durch die Tätigkeit unserer Hände, öfters wies er auch auf die Hände hin, die als Organe der menschlichen Freiheit anzusehen seien. Sie müssen nicht tragen wie die Beine oder die Gliedmassen der Tiere, sie werden auch nicht bloss getragen wie der Kopf, der dadurch gleichsam den Abstand von der Welt gewinnt, den er braucht, damit wir uns denkend mit ihr auseinandersetzen können. Unsere Hände sind in stärkerer Verbindung mit dem Herzen, sie verbinden durch ihr Tun unser Innerstes mit der Welt. Sie befähigen uns zur künstlerischen Arbeit und geben dadurch dem Menschen seine eigenartige Stellung in der Welt.
„Im Fleiss kann dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,
Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern,
Die Kunst, o Mensch, hast du allein.“
Schiller, Die Künstler.
Schliesslich hat Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass die Hände sich in der Zukunft zu Erkenntnisorganen wandeln würden.
Durch seiner Hände Arbeit formt der Mensch aber den Erdenstoff nicht nur zum Kunstwerk, sondern auch zum Gegenstand alltäglichen Gebrauches, und in der Erlernung eines Hand-Werkes war früher mit inbegriffen die Erziehung zu einem rechten Menschen.
Von aussen nach innen gesehen ist die Hand mehr als blosses Tastorgan, von innen nach aussen mehr als ein blosses Werkzeug. Wir können sie ansprechen als das Bindeglied zwischen der zur Freiheit sich emporringenden Persönlichkeit und der Welt, die ein Verlorenes wieder empfangen soll durch den Wiederaufstieg des Menschen zum bewussten Erkennen geistiger Welten.
Ein Merkwürdiges ist eingetreten. Wir verfolgen den Aufstieg des menschlichen Intellektes von der Erkenntnissehnsucht vergangener Zeiten, in der noch frommes Fühlen lebte, zum immer energischer vom Willen durchpulsten Erkenntnisstreben, das schliesslich meint, alles Fühlen von sich weisen zu müssen, um die Möglichkeit des Truges zu bannen.
Im 19. Jahrhundert schlägt die Grundeinstellung der Menschen um in ein vom Denken bedientes Wollen, entreisst Stoffe in steigendem Masse ihren Naturzusammenhängen, schafft die Technik, und das Maschinenwesen krallt sich hinein in das zarte Verhältnis der schaffenden Hände zur Welt.
Die Auswirkung dieses Vorganges auf die Herstellung der Gegenstände des Gebrauches kann man als „Technisierung“ bezeichnen. In ihr und in der Rationalisierung vollzieht sich die Begegnung des arbeitenden Menschen mit der Technik.
Es sei im folgenden der Versuch unternommen, etwas von dem zu schildern, was die menschliche Persönlichkeit bei dieser Begegnung erlebt.
In früheren Zeiten war der ganze Mensch innig mit seiner Arbeit verbunden. Als das Handwerk noch blühte, da wurde vom Meister nicht nur verlangt, dass er sein Handwerk verstehe, er musste auch einen „gottgefälligen“ Lebenswandel führen, wie man es dazumal nannte, d. h. eine moralische Persönlichkeit sein. Wenn ein heranwachsender Mensch als Lehrling zu einem Meister gebracht wurde, dann war es mit
[Das Goetheanum, 16.04.1933, Seite 124]
der Aneignung der Geschicklichkeiten allein nicht getan, es handelte sich darum, dass der Lehrling nicht nur geschickt gemacht wurde, es handelte sich um Erziehung zur Arbeit und zum Leben. Wer das blosse Handwerk beherrschte, konnte Geselle werden, er konnte eben gesellig mit anderen unter einem Meister so arbeiten, dass ihm von diesem Arbeitsstücke zur selbständigen Herstellung übergeben werden konnten. Dann musste er als Geselle wandern, sich Welt- und Lebenserfahrung aneignen, natürlich vervollkommnete er sich dabei auch in handwerklicher Richtung. Dann erst, wenn beides da war, Lebenserfahrung und handwerkliches Können und wenn der Betreffende sich durch seinen Lebenswandel als moralischer Charakter erwiesen hatte, dann erst wurde er Meister und durfte die Verantwortung dafür übernehmen, dass ihm Lehrlinge zur Erziehung übergeben wurden. Denn der Lehrling wurde ja ganz in die Familie aufgenommen. So war damals das Hineinwachsen in die Arbeit verbunden mit einer Erziehung des ganzen Menschen.
Ein anderes wichtiges Moment sei an einem der wenigen Handwerke erläutert, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben, an der Maßschneiderei. Wer sich einen Anzug machen lassen will, der geht nicht zu irgendeinem Maßschneider, so wie er in irgendeinen Laden geht, um z. B. Briefumschläge im „Din“-Format zu kaufen. Er geht zu dem Schneider, der es am besten versteht, die persönlichen Eigenschaften des Bestellers in der Art, wie ein Anzug gemacht ist, so zu berücksichtigen, dass dieser sich in dem Anzug wohl fühlt und wie man sagt „gute Figur“ macht, d. h. einen solchen Eindruck erweckt, dass die anderen Menschen von seiner Persönlichkeit eine gute Meinung bekommen. Wird auch das Wirtschaftliche in gerechter Weise behandelt, ist nämlich der Anzug preiswert und hat der Schneider seinen Lohn erhalten, dann sind beide Teile befriedigt, aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch menschlich; ja man kann fast sagen, sie sind sich – natürlich innerhalb gewisser Grenzen – menschlich näher gekommen. – Das Handwerk befriedigt also die Bedürfnisse so, dass es eine menschliche Beziehung zwischen Erzeuger und Verbraucher herstellt.
Betrachten wir nun die Tätigkeit des Schneiders selbst. Der erste Anzug, den er für einen neuen Kunden macht, wird vielleicht noch nicht so gelingen, dass beide Teile zufrieden sind. Haben sie sich aber bei dieser Gelegenheit näher kennen gelernt, so wird es immer besser gehen. Der Schneider wird beim Zuschneiden die Schere anders führen, und wird dies oder jenes anders machen, je nachdem, welcher Mensch ihm dabei vorschwebt. In jenen Zeiten, als die Männerkleidung noch nicht so schablonisiert war, kam dieses Element noch viel mehr zur Geltung. Im Erzeugnis konnte man in etwas den Ausdruck des Persönlichen des Erzeugers wiedererkennen. Dies ist, natürlich in viel höherem Masse, beim Kunstwerk der Fall, und deshalb darf man dieses Element das künstlerische Element im Handwerk nennen. – Das Handwerk gibt also dem Handwerker selbst jene innere Befriedigung, die sich mit der des Künstlers gewiss nicht auf dieselbe Stufe stellen, aber wohl vergleichen lässt.
Nun stelle man daneben das technisierte Schneiderhandwerk, die „Konfektion“. Von der Stellung der Maschine an sich soll später die Rede sein. Die Konfektionsarbeiter, auch der Fabriksleiter wissen nicht, für wen die Anzüge bestimmt sind, die sie herstellen. Irgendwo hat irgendwer einen Posten solcher Anzüge bestellt. Es handelt sich nicht um einen oder mehrere durch ihre ganze Persönlichkeit andere Menschen, sondern um blosse Leiber von bestimmten Massen. Eine Gruppe von Massen, die sich in dieser Zusammenstellung erfahrungsgemäss oft wiederholen, bilden eine Nummer. In der Fabrik weiss man nur: ein Posten Nr. 48 ist anzufertigen. Dem Schneidermeister war es natürlich auch desto lieber, je mehr Anzüge eine Kundschaft bestellte, aber er fand auch sein Auskommen, wenn jeder seinen Anzug solange trug, bis er einen neuen brauchte. Die Mode spielte damals noch keine so grosse Rolle und wechselte auch nicht so oft. Der Betrieb eines Handwerkers vertrug grössere Schwankungen im Beschäftigungsgrad, ohne dass sein Bestand ernstlich gefährdet erschien. Er konnte sich in weitem Masse dem Bedürfnis der Abnehmer anpassen.
Ein technisierter Betrieb kommt leicht in Bedrängnis, wenn die Maschinen nicht beständig laufen. Die einmal angeschaffte Maschine verlangt, dass sie ununterbrochen in Betrieb sei, sonst wird sie ein fressendes „Gut“; ihr Eigentümer muss also zusehen, dass er Arbeit für sie schaffe. Damit ist die Stellung zum Abnehmer grundlegend verschoben. – Der Schneidermeister fragt: „Wie kann ich jedem meiner Kunden einen guten und schönen Anzug machen?“ Der Fabrikant ist natürlich auch bestrebt, seine Abnehmer gut zu bedienen, aber die Technisierung zwingt ihn, zu fragen: „Wie bekomme ich möglichst viele Kunden?“ Er kann auch gar nicht direkt an den Einzelkäufer abgeben, und damit schiebt sich – natürlich vollständig berechtigt, der Zwischenhandel an eine Stelle ein, an welcher er bisher nicht erforderlich war.
Zu den ersten Folgen der Technisierung gehört also die Teilung der Arbeit und die damit verbundene Entstehung neuer Berufe, bezw. Vermehrung von Möglichkeiten in schon bestehenden Berufen. Zwischen dem, der ohne Beziehung zum zukünftigen Träger einen Anzug nach dem andern in möglichst rascher Folge herstellt, und dem, der den Anzug trägt, ist eine ganze Kette von Menschen eingeschaltet. Der letzte und einzige, der in eine, wenn auch sehr lose Beziehung zum Träger des Anzuges kommt, ist der „Verkäufer“. Da haben wir einen Beruf, der erst mit der Technisierung entstanden ist.
Der Kaufmann, der Händler, ist zu unterscheiden vom blossen Verkäufer. Er ist selbständiger Wirtschafter, er ist mit der Ware verbunden, denn er muss sie auf eigene Verantwortung kaufen, er muss sie richtig bewerten können. Der Verkäufer ist ein Angestellter. Er braucht auch eine gewisse Warenkenntnis, seine Aufgabe besteht aber bloss dann, Waren, deren Preis er nicht bestimmt hat und für den er nicht verantwortlich ist, zu verkaufen. Bei ihm kommt es viel auf Menschenkenntnis an, er muss die Verbindung zwischen der Ware und dem Käufer herstellen.
So sehen wir, wie die Technisierung, abgesehen von den durch sie notwendig werdenden Zwischengliedern auch starke Gegensätze schafft. Einmal den Arbeiter, der an einer Maschine, die er nicht durchschaut, aus Rohstoffen, deren Herkunft er nicht kennt, Waren herstellt; er weiss nicht, wer sie braucht, ob überhaupt jemand ihrer bedarf. Das andere Mal den Verbraucher; er kennt den Hersteller nicht, er hat nicht wie früher das Gefühl, dass der Gegenstand für ihn hergestellt ist; kauft er einen Gegenstand nicht, so kauft ihn vielleicht ein anderer oder auch niemand.
Der Handwerker arbeitete nur für Leute, die er kannte oder durch seine Arbeit kennen lernte, er hatte das Gefühl, ein notwendiges Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein, das verlieh ihm ein berechtigtes Selbstbewusstsein. Der heutige Fabrikarbeiter kann in eine ziemlich trostlose Stimmung geraten, sich als überflüssig im Leben empfinden, wenn er daran denkt, dass er Dinge erzeugen hilft, die unter Umständen gar keinen Abnehmer finden. Denn heute ist mit der Erzeugung einer Ware nicht mehr die Gewähr verbunden, dass sie auch einen Abnehmer findet.
Die Technisierung hebt also das persönliche Verhältnis zum Erzeuger auf. Die Arbeit, die eigentlich in der Art, wie sie ausgeführt wird, zum Persönlichsten gehört, wird dadurch in ungesunder Weise objektiviert, und dies führt zu einer Art Verödung des Seelenlebens. Das Persönlichkeitsgefühl, das einmal zu einem gesunden Seelenleben gehört, wird an einer Stelle erstickt, wo es fruchtbar und daher berechtigt wäre.
Man pflegt zu sagen: Die Technisierung nimmt dem Menschen einen grösseren Teil der Arbeit ab. Das geschieht in zweifacher Beziehung: Einmal nimmt sie ihm jenen Teil der Arbeit ab, welcher durch Anwendung rein körperlicher
[Das Goetheanum, 16.04.1933, Seite 125]
Kräfte geleistet werden muss. Sie nimmt ihm aber auch den Einfluss auf die Formgebung des Werkstückes immer mehr ab. Diese Form rührt nicht von ihm her, sie ist vom Erfinder erdacht und wird dem Stoffe durch die Maschine aufgezwungen,
Dass dem Menschen die schwere körperliche Arbeit immer mehr abgenommen wird, das steht durchaus im Einklang mit seiner Entwicklung durch die grossen Zeiträume der Geschichte. Es ist ganz deutlich zu merken, wie im Allgemeinen die Körperkräfte immer mehr abnehmen. Wenn die alten Ägypter auch zur Bewegung ihrer ungeheuren Quadern fast unbegrenzt viele Menschen zur Verfügung hatten, so führt doch eine Betrachtung ihrer Arbeitsweise zur Einsicht, dass auch die Körperkräfte des Einzelnen bedeutend grössere gewesen sein müssen. Rudolf Steiner machte einmal darauf aufmerksam, dass man bei der Betrachtung der Bauweise der alten Ägypter bedenken müsse, dass sie nicht nur diese fast unbeschränkte Arbeiterzahl zur Verfügung hatten, sondern dass auch die damaligen Menschen etwa die 2½fache physische Kraft der heutigen gehabt hätten.
Der Mensch kann es wohl als eine Erleichterung empfinden, dass ihm die Maschine die schwere Arbeit abnimmt, aber sie nimmt ihm zugleich das weg, was ihm eine gewisse Freude und Befriedigung verleiht. Die Formgebung des Werkstückes z. B. geschieht nicht mehr aus der Initiative desjenigen, der an der Maschine steht.
Wieder tritt eine Teilung der Arbeit ein. Bei den heutigen Verhältnissen ist es undenkbar, dass derjenige, welcher die Maschine ersonnen hat, sie auch wirklich selbst baut, noch weniger, dass er sich an diese Maschine stellt und mit ihrer Hilfe, oder besser gesagt an ihr einen Gegenstand herstellt.
Doch der Erfinder der Maschine ist eigentlich ein Mensch, der in Freiheit waltet. Er kennt die Gesetze der Physik, der Chemie, der Festigkeitslehre, der Kinematik, der Mechanik usw., er überblickt und beherrscht das ganze Gebiet, in welchem er zu schaffen berufen ist. So ist er ein in Freiheit Schaffender auf seinem Gebiete. Was er denkend erfasst, das prägt sein Wille in die Gestaltung des Werkstoffes aus, er fühlt die innere Befriedigung, die aus jeder Arbeit entspringt, in welcher ein schöpferisches Element waltet.
Nun wird diese Maschine gebaut und in einen Arbeitssaal gestellt. Dort dient sie dazu, um immer wieder einen bestimmten Bestandteil eines Gegenstandes herzustellen. Was bleibt an eigner Tätigkeit für den Menschen übrig, der tagaus, tagein an dieser Maschine steht? Zu denken gibt es eigentlich nichts mehr. Die Gedanken hat der Erfinder in die Art wie die Maschine gebaut ist und wie sie arbeitet, ein für allemal hineingesteckt. Sie vollzieht, angetrieben durch Kräfte, welche wieder ein Erfinder der Natur entnommen hat, ihre Arbeit. Wir stehen eigentlich einem Weltenvorgang gegenüber, der, vom Menschen losgelöst, im Maschinenwesen wirkt. Denken ist vorweggenommen. Wollen ist ersetzt durch die Maschinenkraft. Bleibt für das Fühlen überhaupt noch etwas übrig? Man könnte sagen: bei manchen Maschinen, Drehbänken, Fräsmaschinen, etc. gehört eine gewisse Geschicklichkeit dazu, das Werkstück richtig einzuspannen, und die Ausübung einer Geschicklichkeit gibt eine gewisse Befriedigung, denn Geschicklichkeit ist immerhin eine Eigenart der Persönlichkeit. Diese fühlt sich also nicht ganz ausgeschaltet. Während aber beim Handwerk die Formgebung des Werkstückes das Ergebnis der Geschicklichkeit ist, dient diese hier lediglich dazu, das richtige Arbeiten der Maschine zu gewährleisten. Durch die fortschreitende Technisierung kommt es also dazu, dass nicht mehr die Maschine dem Menschen dient, der an ihr steht, sondern der Mensch der Maschine. Sie dient zwar demjenigen, der sie anschafft und der ihre Erzeugnisse braucht, aber wer unmittelbar mit ihr in seiner Arbeit verbunden ist, der muss ihr dienen.
Hiezu tritt noch anderes, das erwähnt werden muss. Bei der immer weiter getriebenen Spezialisierung lässt man womöglich durch eine Maschine, so lange es irgend geht, nur ein und denselben Gegenstand herstellen. Dadurch werden die Handgriffe, obzwar sie etwas Geschicklichkeit erfordern, durch die fortwährende Wiederholung zu etwas Mechanischem; es geht gar nichts mehr vom Persönlichen in die Arbeit hinein, der Arbeiter fühlt sich unmittelbar hineingenommen in die Maschine. Hiefür ein Beispiel: In den Baumwollwebereien sind an den Webstühlen Vorrichtungen angebracht, welche, ohne dass der Webstuhl zum Stillstand gebracht werden muss, selbsttätig eine neue Spule in das Schiffchen einschalten, wenn die alte Spule zu Ende ist, oder wenn der Faden etwa reissen sollte. In Beziehung auf den „Schuss“ ist der mechanische Webstuhl also bereits vom Menschen unabhängig. Bei der „Kette“ ist man noch nicht so weit. Zwar hat jeder Kettenfaden einen sogenannten Wächter, das ist eine Vorrichtung, welche den Webstuhl von selbst zum Stillstand bringt, sobald ein solcher Faden reisst. Dann muss alllerdings vorläufig noch ein Mensch eingreifen, indem er den Faden knüpft und den Webstuhl wieder in Gang setzt. Auf je 20 Webstühle kommt ein Arbeiter. Er hat nichts zu tun, als jeweils den Kettenfaden anzuknüpfen und die Webstühle wieder in Gang zu setzen, welche durch Abreissen eines Kettenfadens zum Stillstand gekommen sind. Er wird das Erlebnis haben, dass er nur deshalb an seinem Platz stehe, weil eine solche selbstätige mechanische Vorrichtung, wie sie für den Schussfaden vorhanden ist, für den Kettenfaden noch nicht da ist. Er fühlt sich also gleichsam als Ersatz für einen noch nicht erfundenen Bestandteil einer Maschine. Wieviel eine solche Verwendung des Menschen dazu beiträgt, ihm ein erhebendes Gefühl vom Wert, von der Unersetzlichkeit seiner Persönlichkeit zu geben, das braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden.
Bei Beginn der Technisierung waren die Maschinen noch so gebaut, dass ihre Arbeitsweise leichter zu durchschauen war. Das ist auch heute z. B. noch der Fall beim mechanischen Webstuhl, weil hier tatsächlich die früher vom Menschen ausgeübten Arbeiten als solche von der Maschine ausgeübt werden, so dass man sehen kann, was sie tut und in jedem Augenblick sich vorstellen kann, wie ein Mensch das ausführen würde. Natürlich tut dies der ,,Bediener“ nicht, er hat auch gar keine Musse dazu – und doch ist es für ihn nicht gleichgültig, ob diese Möglichkeit besteht oder nicht.
Die Richtung, in welcher die Technisierung fortschreitet, geht dahin, den Bearbeitungsvorgang immer mehr der Beobachtung, dem Bewusstsein des „Bedieners“ zu entziehen.
Sieht man irgendeinen Handwerker bei seiner Arbeit, so bemerkt man, wie er eine Fülle verschiedener Verrichtungen bewusst aneinanderreiht, hierzu eine grosse Menge verschiedener Bewegungen ausführen muss. Aber der eine Mensch erzeugt einen ganzen Gegenstand, dann vielleicht einen anderen, dessen Herstellung zwar zu seinem Handwerk gehört, der aber wieder anderes Material, damit etwas veränderte Bearbeitungsweise erfordert, und Anregung und Abwechslung bietet. Man nehme als Beispiel einen Schuhmacher. Wie anders muss der Absatz am Schuh bei den verschiedenen Menschen sitzen, weil jeder eine andere Art aufzutreten, einen andern Gang hat. Bedenkt man, wieviel vom Temperament, vom Charakter eines Menschen sich im Gang ausdrückt, dann kann man einsehen, wie der Schuster durch sein Handwerk besonders günstige Gelegenheit hat, ein guter Menschenkenner zu werden.
Eine Maschine dagegen kann immer nur einen bestimmten Arbeitsgang ausführen. Statt dass also ein Mensch einen Gegenstand erzeugt, geht der Stoff oder die Stoffe, aus welchen ein Gegenstand erzeugt wird, durch eine ganze Reihe von Maschinen, und aus der letzten, durch welche vielleicht nur eine Kleinigkeit ausgeführt wurde, kommt der fertige Gegenstand heraus. An jeder, oder jeweils an einer Anzahl gleichartiger Maschinen steht ein Mensch. Es ist also eine Umkehrung.
[Das Goetheanum, 16.04.1933, Seite 126]
Dieser an der einzelnen Maschine stehende Mensch weiss aber bei der Kompliziertheit der heutigen technischen Einrichtungen oft gar nicht, welche Rolle der Einzelteil, dessen Herstellung er vor sich hat, beim fertigen Gegenstand spielt. Er fühlt sich also durch die Technisierung nicht nur mit seinem Willen ausgeschaltet, sondern auch mit seinem Verständnis.
Als die Gegenstände noch vom Handwerker hergestellt wurden, schuf fast jeder Gegenstand eine persönliche Beziehung zwischen Erzeuger und Verbraucher. Die Verteilung der Waren durch den Handel spielte bei vielen Gebrauchsgegenständen noch keine Rolle. (Dabei soll aber die Bedeutung des Handels für viele andere Wirtschaftszweige durchaus nicht übersehen werden).
Die Maschine arbeitet umso wirtschaftlicher, je öfter sie ein und denselben, eben ihren Arbeitsgang hintereinander ausführen kann. Dies führt dazu, die Erzeugung immer mehr in einigen wenigen, technisch erstklassig eingerichteten Erzeugungsstätten zu vereinigen und durch grosszügige Handelsorganisationen auf grosse Gebiete hin zu verteilen. Wenn jemand heute eine Ware bestellt, weiss er oft von vornherein gar nicht, woher er sie wirklich erhalten wird. Dies geht bei manchen Dingen so weit, dass Landesgrenzen trotz der Zollschranken kaum eine grosse Rolle spielen. (Die Technik führt eigentlich durch ihre Existenzbedingungen zur Weltwirtschaft.)
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Lassen wir jetzt alles das, worauf hier aufmerksam gemacht wurde, auf uns wirken, so sehen wir, dass die Technisierung etwas ist, das nicht nur rein im Fertigungs- und Wirtschaftsprozess sich auslebt; sie hat auch tiefgehende Wirkungen auf das Seelenleben des Menschen. Gar manches, das in zarter Weise im Menschen durch Arbeit gelebt hatte, ist nicht mehr da. Es konnte nur bestehen, solange die Handarbeit den einzelnen mit dem Ergebnis seiner Arbeit und mit seinen Mitmenschen verbunden hat; ihre Erzeugnisse hatten im tiefsten Sinne Persönlichkeitswert, nicht nur Handelswert. Durch den heutigen Zustand fühlt sich die Einzelpersönlichkeit, die in ihrer Arbeit ihr eigenstes Wirkungsfeld sieht, geschwächt, gekränkt durch das fremde Element, das sich zwischen sie und die äusseren und inneren Ergebnisse ihrer Arbeit schiebt und ihr die Befriedigung an der Arbeit raubt. Hier liegt einer der Ausgangspunkte, für die an sich sehr merkwürdige Tatsache, dass in einem Zeitalter des sich steigernden Persönlichkeitsbewusstseins weite Kreise einer Seelenhaltung verfallen, welche längst vergangenen, vorchristlichen Zeiten angehört. Sie glauben sich als blosses Glied einer Masse erleben zu sollen und nicht als selbständige Persönlichkeiten, die zwischen den beiden Polen des Strebens nach Freiheit und des Bewusstseins ihrer Verantwortung ihren Weg durchs Leben suchen.
Was ihr an tragenden Empfindungen durch die Technisierung genommen ist, wird eine solche Persönlichkeit ersetzen können durch die Erkenntnisse über das wahre Wesen des Menschen und seine Stellung zur Welt der Sinne und des Geistes. Das Vertrauen zur tragenden Kraft dieser Erkenntnisse wird in dem Masse wachsen, als die Menschen durch Beschreiten des Weges, den Rudolf Steiner vorangegangen ist, diese Kraft in sich wachsend erleben werden.
So werden sie den hemmenden, verhärtenden Kräften der Technik, die sie heute nicht mehr entbehren können und auch nicht fortwünschen sollen, die Stärke des sich selbst erkennenden Menschen entgegensetzen und solche werden auch wieder eine Einstellung zu ihren Mitmenschen finden, die zur Gesundung unserer sozialen Zustände führen kann.
[Das Goetheanum, 16.04.1933, Seite 127]
