Bund der freien Waldorfschulen droht mit Sanktionen – Verbindlichkeit als Gegensatz zur Freiheit?

25.08.2022

Leserbrief zu „Was ist gemeint: das freie Geistesleben oder das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung?“ von Stefan Grosse, Vorstand im Bund der freien Waldorfschulen. Grosse veröffentlichte in der Juli-Ausgabe der „Erziehungskunst“. Auch eine stark gekürzte Fassung meiner untenstehenden Entgegnung wollte die Verbandszeitung jedoch nicht bringen – weil man „immer mehr Anzeigen und immer weniger Platz für redaktionellen Inhalt“ habe und dies auch „in Zukunft so halten“ wolle.

Sehr geehrter Herr Grosse,

Sie nehmen Bezug auf den Beschluss des Bundes freier Waldorfschulen, Mitgliedseinrichtungen zu sanktionieren, falls diese nach vorgegebener Frist kein Schutzkonzept vorlegen. Dabei machen Sie innerhalb des Schullebens eine „Rechtssphäre“ aus, die Sie der Freiheitssphäre gegenüberstellen. Den Begriff der „Verbindlichkeit“ verknüpfen Sie dabei mit jener Rechtssphäre. Henning Kullak-Ublick schreibt in seinem Beitrag in derselben Ausgabe jedoch ganz richtig: „Freiheit im Bildungswesen bedeutet, das sei hier zur Vermeidung eines nicht ganz seltenen Missverständnisses ausdrücklich hinzugefügt, keineswegs, dass Beliebigkeit und Willkür an die Stelle staatlicher Regulierung treten.“ Das heißt aber: Der Begriff der „Verbindlichkeit“ gehört sehr wohl dem freien Geistesleben an. Es muss nicht erst eine „Rechtssphäre“ hinzugedacht werden, um doch in Freiheit verbindliche Formen der Zusammenarbeit auszubilden.

Leider wird Rudolf Steiners Idee einer sozialen Dreigliederung häufig durch die Brille jener Gewohnheiten gelesen, die er mit dieser Idee gerade überwinden wollte. Wir verknüpfen nämlich die Vorstellung verbindlicher Zusammenarbeit für gewöhnlich mit derjenigen eines demokratischen Rechtsleben und der Aufstellung sanktionierbarer Normen. Demgegenüber erscheint das „freie Geistesleben“ dann, für sich genommen, als eine Summe unzusammenhängender und voneinander unabhängiger Individuen. Die Polarität von „Individuum“ und „Gemeinschaft“ fällt nach dieser Lesart zusammen mit der von „Geistesleben“ und „Rechtsleben“ – das Rechtsleben wird der Gemeinschaft, das Geistesleben dem Individuum zugeordnet.

Rudolf Steiner stellte jedoch dem Individuum drei verschiedenartige Gemeinschaftsprozesse gegenüber: demokratisches Rechtsleben, assoziatives Wirtschaftsleben und eben das freie Geistesleben. Alle drei sind also jeweils als Gegenpole zum Individuum gemeint. Innerhalb einer Schule oder eines Schulverbandes nahm Steiner deshalb auch keine besondere „Rechtssphäre“ an. Vielmehr fiel diese vermeintliche „Rechtssphäre“ für ihn zusammen mit dem demokratischen Rechtsleben in den Staats- oder Ländergrenzen als solchem. Steiner war radikaler Demokrat. In einer Waldorfschule sollte dasselbe Recht gelten wie überall. Und beim Schutzkonzept liegt der Fall ja offenkundig genau so: das Kind sollte vor Gewalt geschützt werden – an jedem Ort, und deshalb auch in der Schule.

Der Schutz vor Gewalt ist keine Erfindung der Waldorfschulen, sondern eine Anforderung des Rechtsstaates an alle Schulen. Der Bund der freien Waldorfschulen schafft, indem er von seinen Mitgliedseinrichtungen ein entsprechendes Schutzkonzept fordert, keine eigene „Rechtssphäre“ in den Schulen oder innerhalb des Verbandes, sondern gibt lediglich eine pädagogische Antwort auf eine rechtliche Anforderung des allgemeinen, sich in den Grenzen des Staates bzw. der Bundesländer konstituierenden Rechts. Dabei antwortet er allerdings stellvertretend für seine Mitgliedseinrichtungen, und setzt seine Antwort in den Schulen mittels eigener Sanktionen durch. Deshalb ergeben sich aus dem Dreigliederungsgedanken heraus und im Hinblick auf die Entscheidung der Mitgliederversammlung aber auch ganz andere Fragestellungen als jene, die Sie, Herr Grosse, referieren. Gefragt werden müsste beispielsweise:

Wenn die Behörden ohnehin ein Schutzkonzept fordern und bei einem Verstoß sanktionieren, weshalb will der Bund der freien Waldorfschulen dann noch zusätzlich sanktionieren? Weshalb greift er dem Verhältnis der jeweiligen Schule zum Gesetzgeber vor? Unterbindet er damit nicht den demokratischen Prozess auf dem Gebiet des Rechtslebens? Und falls es ihm darum geht, eine einheitliche Antwort aller Waldorfschulen geben zu können – hat er sich denn gründlich mit der Frage befasst, wie im freien Geistesleben überhaupt Einheitlichkeit und Verbindlichkeit entsteht? Gibt es hier vielleicht noch ganz andere Wege als den, das Staatsleben zu imitieren?

Dass der Schutz vor Gewalt ein zu gewährleistendes Recht ist, steht außer Frage. Ob dies durch ein „Schutzkonzept“ erreicht werden kann, ist aber durchaus streitbar. Ich selbst erlebe ein Schutzkonzept als eine Notwendigkeit – und weiß, dass in den meisten Waldorfschulen genauso gedacht wird. Folgt eine Schule beispielsweise angesichts der Diskriminierung eines Schülers nicht einem vordefinierten „Fahrplan“, sondern geht spontan mit der Situation um, kommt es häufig zu unbeabsichtigten weiteren Verletzungen. Die Gründe für ein Schutzkonzept sind jedenfalls vielfältig und aus meiner Sicht überzeugend. Gleichwohl mag es auch Schulen geben, die bislang nicht über ein Schutzkonzept verfügen oder die vielleicht sogar keines wollen, weil in ihrem Bundesland die gesetzliche Anforderung überhaupt nicht besteht. Diesen Schulen möchte ich nicht pauschal unterstellen, dass sie die Probleme ignorieren, auf welche das Schutzkonzept zielt. Vielleicht haben sie ja andere Wege gefunden, wie sie die Rechte von Schüler*innen und Mitarbeiter*innen schützen können. Und falls nicht, besteht möglicherweise auch Bedarf an einem gemeinsamen Erkenntnisprozess bezüglich der Probleme, die der Bund im Auge hat. Wie sollen wir nämlich eine gemeinsame und verbindliche Antwort auf Probleme geben, die wir überhaupt noch nicht alle in derselben Weise erleben und beurteilen?

An das freie Verständnis des Anderen zu appellieren wird zunehmend als naive Gutgläubigkeit abgetan. Dass man nicht auch in Freiheit zusammenzufinden könne, scheint mittlerweile keines Beweises mehr zu bedürfen. Kein Wunder, dass auch Sie, Herr Grosse, die „verbindliche Zusammenarbeit“ offenbar mit der Aufstellung oder Befolgung sanktionierbarer Normen verwechseln. In Wahrheit sind beides jedoch Gegensätze – Normen ersetzen Verbindlichkeiten; und Sanktionen setzen genau dort an, wo die Zusammenarbeit endet. Es wird sich noch zeigen, ob nicht vielleicht gerade dieser Ansatz naiv ist. Lebt denn ein Schutzkonzept wirklich in einer Einrichtung, wenn es dort nur aufgrund einer Sanktionsandrohung formuliert wurde? Schafft man so Realitäten – oder vielleicht Scheinwirklichkeiten?

Sehr geehrter Herr Grosse, ich persönlich glaube jedenfalls nicht, dass der BdfW sehr weit damit kommt, das Leben von seinem Ende her zu greifen. Deshalb hoffe ich sehr, dass es bei einem einmaligen Experiment bleibt. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass die Mitgliederversammlung in dieser besonderen Frage falsch entschieden hat. Aber die Fragestellungen, die sich aus dem Sozialimpuls der Waldorfschulbewegung hinsichtlich einer Sanktionierung von Mitgliedseinrichtungen ergeben, sind meines Erachtens dann doch etwas komplexer, als es Ihre Stellungnahme vermuten lässt.

So ganz verstehe ich aber auch nicht, weshalb Sie den Begriff eines „freien Geisteslebens“ überhaupt bemühen, wo Sie doch Ihren Überlegungen voranschicken, dass die Waldorfschule vielleicht überhaupt kein Kind der Dreigliederungsbewegung sei: „Mir erscheint es fraglich, ob der häufig kolportierte Gedanke, dass die Waldorfschule der überlebende Rest der Dreigliederungsidee sei, zutreffend ist. Vielmehr sehe ich die Waldorfschule als einen von der Dreigliederung unabhängigen pädagogischen Impuls.“

Nun, zunächsteinmal ist dieser „häufig kolportierte Gedanke“ ja einfach der Gedanke Rudolf Steiners, dem Begründer der Waldorfpädagogik. Einerseits sei die Waldorfschule durch die Konzentration der finanziellen „Reste“ der Dreigliederungsbewegung ermöglicht worden und somit schon rein äußerlich ihr „Kind“. Andererseits sei sie aber auch inhaltlich nur aus und innerhalb der Dreigliederungsbewegung denkbar. So erklärte Steiner beispielsweise im Februar 1921: „Denn nicht darauf kann es ankommen, innerhalb des gegenwärtigen Systems Schulen zu gründen, in denen man Surrogate des Unterrichts schafft, indem man einfach glaubt, den Kurs befolgen zu können, den ich gegeben habe, sondern darauf kommt es an, daß man das Prinzip verfolgt auf diesem Gebiet: Freiheit im Geistesleben. - Dann ist mit einer solchen Schule ein Anfang der Dreigliederung gemacht. Rufen Sie daher in den Leuten nicht falsche Vorstellungen hervor, indem Sie ihnen den Glauben beibringen, man könne brav in den alten Verhältnissen bleiben und trotzdem Waldorfschulen gründen, sondern rufen Sie die Vorstellung hervor, daß in der Schule in Stuttgart wirklich freies Geistesleben ist. Denn da gibt es kein Programm und keinen Lehrplan, sondern da gibt es den Lehrer mit seinem realen Können, nicht mit der Verordnung, wieviel er können soll. Man hat es mit dem wirklichen, realen Lehrer zu tun. Es ist noch immer besser, wenn man einen schlechteren wirklichen Lehrer ins Auge faßt, als wenn man einen ins Auge faßt, der einfach in der Verordnung drinnen steht, der nicht real ist. Und man hat es, wenn man unterrichtet, mit den Schülern zu tun und hat es zu tun mit demjenigen, womit die sechs Wände der Klasse ausgefüllt sind, nicht mit dem, was man in den Verordnungen Lehrmaterial, Lehrmethode und so weiter nennt.“[1]

Selbstverständlich kann heute keine Rede mehr davon sein, dass die Waldorfschulen Vorreiter eines „freien Geisteslebens“ oder gar Protagonisten einer „Bewegung für soziale Dreigliederung“ seien. Und natürlich ist der Bund der freien Waldorfschulen frei darin, sich vom Ursprungsimpuls der Waldorfschulbewegung zu distanzieren. Rudolf Steiner ist lange tot, niemand ist heute noch an das gebunden, was er unter „Waldorfpädagogik“ und „freier Schule“ verstand. Insofern stimme ich Ihnen zu, Herr Grosse. Mir scheint aber andererseits, dass gerade jetzt und heute der Verweis auf Rudolf Steiner und die Dreigliederung immer weniger nötig ist, um dennoch zu durchschauen, weshalb Normen und Sanktionen keine Gemeinschaft bilden oder tragen können und daher als Surrogat für eine freie, verbindliche Zusammenarbeit völlig ungeeignet sind.

Ich bin Ihnen gleichwohl dankbar für Ihren Aufsatz, denn es ist gut, wenn wir im Bund über den Sozialimpuls der Waldorfschulbewegung ins Gespräch kommen! Insofern nehmen Sie meine Kritik bitte als einen freien und freilassenden Beitrag für das von Ihnen begonnene Gespräch, ganz im Sinne eines freien Geisteslebens.

Herzliche Grüße
Johannes Mosmann, Berlin

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https://www.erziehungskunst.de/artikel/standpunkt/was-ist-gemeint-das-freie-geistesleben-oder-das-grundrecht-auf-freie-meinungsaeusserung/

[1] GA 338 [16], S. 186-187, 4/1986, 17.02.1921. Vergleiche auch: Johannes Mosmann (Herausgeber): Rudolf Steiner – Was ist eine freie Schule?