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Der Einzelne und sein Eigentum
Teil 1 Die Entdeckung der Hände – Ethischer Individualismus und Liberalismus
Anmerkungen zur Geschichte der Freiheitsidee
Quelle
Zeitschrift „Die Drei“
Die Drei, 57. Jg., 1987, Nr. 3, März 1987, S. 159–178
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung
Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Erbin des Autors
«Welche von beiden Meinungen soll ich ergreifen? Bin ich frei und selbständig oder bin ich nichts an mir selbst und lediglich Erscheinung einer fremden Kraft?»
J. G. Fichte
Die Kardinalfrage der modernen Philosophie
Als Rudolf Steiner am Ende des vorigen Jahrhunderts seine «Philosophie der Freiheit» veröffentlichte, äußerte damit nicht nur ein bedeutender Denker seine Meinung, sondern es war gelungen, die Kernfrage der neuzeitlichen Philosophie so zu stellen, daß eine Beantwortung in den Bereich des Möglichen rückte. Gemeint ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individualität und Gemeinschaft, mithin zwischen persönlicher Freiheit und sittlicher Verantwortung. Der durch Steiner gewiesene Antwortweg ist derjenige der schöpferischen Tat. – Während das Problem durch Jahrhunderte im wesentlichen als eine Frage der Grenzziehung angegangen worden war, gipfelnd in Kant und begleitet von Versuchen, dem Widerspruch durch Übersteigerung, ja Vergötzung eines seiner Pole zu entrinnen, [1] eröffnete
[die Drei, März 1987, Seite 159]
Steiner einen integralen und handlungsorientierten Lösungsweg. Nicht der Bestimmung einer mehr oder weniger großen, ausgegrenzten Nische legalisierter Willkür galt sein Fragen, also nicht dem bürgerlichen Freiheitsstatus, der seit Locke (1632-1704) im Prinzip definiert wird als das Verbleibende nach Abzug aller notwendigen sozialen Rücksichten und im Fortgang des Philosophierens zur Konsequenz der kategorischen Unterscheidung Kants zwischen «Sollen» und «Wollen» führte. Auch nicht die damit zusammenhängende Problematik des Freiseins bzw. Nicht-Freisein-Könnens von objektiven Bestimmungsfaktoren der Lebenswirklichkeit war Steiners Ansatzpunkt. Er lenkt vielmehr den Blick auf das Verhältnis, das die Seele einnimmt zu den Realitäten, mit denen sie, Zusammenhang stiftend, nach zwei Seiten hin korrespondiert in der Dynamik zwischen Einflußnehmen und Beeinflußtwerden, Prägung und Rückprägung.
»Nach zwei Seiten hin» besagt, daß in Steiners Diktion das vorfindlich Objektive (der Gegenstands-, Natur- und gesellschaftlichen Welt) ergänzt wird durch das auffindbar Objektive (der Ideenwelt). Mit letzterem setzt sich der Mensch frei ins Einvernehmen, ersteres nötigt ihn. Das Maß der Souveränität des Handelns hängt davon ab, in welchem Umfang die nötigende Realität als eine solche erlebt werden kann, die durch Entschlüsse bzw. Handlungsziele aus rein ideellen Beweggründen veränderbar ist.
Freies Handeln ist ideelle Intervention in die Sphäre des Nötigenden. Oder: der Freiheitskeim liegt darin, daß durch den Menschen die Welt, in die er eingefaßt ist (aber so, daß er sie, sein Eingefaßtsein erkennend, schon transzendiert), zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt und dadurch eine sich entwickelnde, geschichtliche wird. Der Mensch ist Gegenwart, der jeder Messung sich entziehende, dauernde Augenblick, wo Gewordenes und Werden-Wollendes eintreten in den Dialog, der Geschichte bedeutet. Sein Freiheitserlebnis bemißt sich daran, ob er sich, an seinem Platz und gemäß seinen Fähigkeiten, als ein in diesem Sinne ideen-schöpferisch Tätiger einbringen und damit zur Erfahrung seiner Teilnehmerschaft an der Sendung des Menschen kommen kann.
Die sozialen Konsequenzen aus diesem durch Steiner «vom Kopf auf die Füße gestellten» Freiheitsverständnis sind im Entwurf der «Dreigliederung des sozialen Organismus» ausgeführt. Wenn wir im philosophiegeschichtlichen Zusammenhang eine Quintessenz herausfiltern wollen, können wir sagen: Der soziale Organismus in seiner Freiheitsgestalt ist ein solcher, der zu jeder Zeit und auf allen Ebenen offengehalten wird für individuelle Gestaltungsimpulse; der also seine Entwicklungsrichtung je findet aus der Kraft überzeugender Ideen innerhalb eines freien Geisteslebens, wobei jegliches Privileg auf Autorenschaft heute der Sache nach entfällt. «Der Sache nach» deshalb, weil ein Bewußtseinsgefälle zwischen Obrigkeit und Untertanen, ein Bewußtseinsgefälle also, das sich proportional zur gesellschaftlichen oder geistlichen Hierarchie verhielte, in der Tat nicht mehr existiert. Das geistesgeschichtliche Signum der Situation, in der Steiners Freiheitsphilosophie erscheint, ist dieses, daß jeder Einzelne der Möglichkeit nach die Bewußtseinslage des Fürsten oder
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Priesters früherer Zeiten repräsentiert. Demgegenüber ist das Prinzip des Obrigkeitsstaates (auch repräsentativ-demokratischer Prägung), dem beispielsweise die «Aufsicht» über das Schul- und Ausbildungswesen, Wissenschaft und Medizin, Krieg oder Frieden obliegt, nicht nur moralisch anfechtbar, sondern nüchtern betrachtet unwahr, mithin eine Illusion. Das Einzige, was Regentschaft theoretisch rechtfertigen würde, nämlich die «ethische Intention» (D. Lauenstein) im übergreifenden Maßstab, findet außerhalb der Politik statt. Die Erkenntnis, daß geistig-moralisch legitimierte Machtansprüche nicht mehr existieren (wir unterstellen, daß dies in früheren Zeiten teilweise anders war), hätte statt zum «Sachzwang»-Mythos zur sozialen Dreigliederung führen sollen und damit zu der Einsicht, daß der politische Staat ein freies Geistesleben aus sich zu entlassen und sich diesem zu unterordnen habe.
Die Freiheitsfrage ist untrennbar mit der sozialen Frage verbunden, denn wir können erstere sinnvollerweise nur im sozialen Kontext angehen. Eine «Freiheit», die für das menschliche Zusammenleben keine Bedeutung hätte, würde weder erstrebenswert noch überhaupt begrifflich faßbar. Gerade dadurch aber wird Freiheit erst als soziale, praktisch-lebensnahe Qualität kenntlich, daß man sie an eine objektive (aber nur subjektiv aufschließbare) Ideenwelt heranführt und somit die freie Tat als eine solche charakterisieren kann, welcher der Entschluß aus rein ideellen Beweggründen vorausgeht. Oder genauer: Der Freiheitsgehalt einer Handlung bemißt sich nach den rein ideell motivierten Handlungsanteilen. Eine so zustandekommende Handlung schließt, insofern sie frei ist, «die sittlichen Gesetze nicht etwa aus, sondern ein; sie erweist sich nur als höherstehend gegenüber derjenigen, die nur von diesen Gesetzen diktiert ist» (Hervorh. H. K.), – ein Satz, der den ganzen ethischen Individualismus Steiners in sich birgt wie das Samenkorn die Blume. Richtiggestellt wird, daß Freiheit, weil dies den Begriff ad absurdum führen würde, eben nicht bedeutet, sittliche Beweggründe als Handlungsveranlassung ausschalten zu können. Denn gerade dies «kann» man am besten im Zustand des Unterworfenseins unter die gewöhnlichsten Nötigungen bzw. durch Selbstüberantwortung an gerade herrschende «Befehlsstrukturen» (Renate Riemeck). – Die Alternative lautet also nicht Opportunität gegenüber dem festgeschriebenen Sittengesetz. Vielmehr «besteht (das Ziel) in der Verwirklichung rein intuitiv erfaßter Sittlichkeitsziele» (Steiner), die in Freiheit gefunden, als richtig erkannt und aus Liebe zum Tun des als richtig Erkannten angestrebt werden.
Solche Taten dienen dem Gesamtwohl, ohne daß darin ihre originäre Veranlassung läge. «Freiheit ist», heißt es bei Hegel, [2] «ein Bestimmtes zu wollen, aber in dieser Bestimmtheit bei sich zu sein und wieder in das Allgemeine zurückzukehren.» Dieses Bestimmte, das ich aufsuche, weil ich Handeln und Richtlinien für mein Handeln finden will, kann nur in dem Maße ein moralisch Bestimmtes sein, in dem ich nicht dem Nötigenden unterliege, sondern auf es hinblicke als auf das tätig Neuzubestimmende: den Handlungsraum. Wenn Johann Gottlieb Fichte im dritten Buch seiner «Bestimmung des Menschen» erklärt: «Wir handeln nicht, weil wir
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erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind», so ist das Entscheidende auf genial einfache Art schon umrissen. Das menschliche Bedürfnis des Handelns (Tiere handeln nicht!) ist im Kern ein Bedürfnis nach Umprägung des Seienden in die menschengemäße Form und somit ein sittliches Bedürfnis. Aus ihm, so Fichte, erwächst das Bewußtsein. Die «Eingebung» (des Gewissens nach Fichte, der moralischen Intuition nach Steiner) senkt sich, bildlich gesprochen, hinein in den Schacht, den jenes Bedürfnis zur Ideenwelt hin öffnet.
Wider den kategorischen Imperativ
Steiner gründet seine Freiheitswissenschaft auf «seelische Beobachtungsresultate» und fragt also (anstatt einen eventuell logischen, aber praktisch wertlosen Begriff dialektisch zu konstruieren), welche Handlung der Mensch als eine freie empfindet. Seine Antwort: «Eine Handlung wird als eine freie empfunden, soweit deren Grund aus dem ideellen Teil meines individuellen Wesens hervorgeht; jeder andere Teil einer Handlung, gleichgültig, ob er aus dem Zwange der Natur oder aus der Nötigung einer sittlichen Norm vollzogen wird, wird als unfrei empfunden.» Dies ist nachprüfbare, praktische Psychologie. Befreiend (befreuend wäre eine etymologisch korrekte Wortneuschöpfung) wirkt auf die Seele, sich erkennend und aus Erkenntnis handelnd «zum intuitiven Ideengehalt der Welt zu erheben». Darunter ist zu verstehen das Handeln nach Maßgabe übergeordneter Ideen, zu denen mich nichts hinnötigt als allein meine Liebe zu ihnen. Wer sorgfältig mitdenkt, wird finden, daß die Beschreibung dieses Verhältnisses bereits die Bestimmung mit sich führt, um welche Art von Ideen es sich handelt. Niemand begeht eine verbrecherische Tat aus Liebe zu dieser Tat.
Die intentionale Aktivität im Bereich der Menschenbegegnung, nämlich der sozialen Verhältnisse, ist ihrem Wesen nach immer sittlich motiviert. In dem Maße allerdings, in dem vor- bzw. unter-individuelle Antriebe wie Machtstrebungen, Ängste, Haß, aber auch instinkthafte und im Instinkthaften belassene (es wäre absurd, die Instinkte als solche «kritisieren» zu wollen) Überlebensreflexe sich einmischen, verzerrt sich die Intention im Vollzug. Hierher gehören Anachronismen wie der gewaltsame Weg zum Frieden, der Zwang zur Freiheit etc. – Steiner macht nun (1892: «Eine Gesellschaft für ethische Kultur in Deutschland») gegen die damals und heute herrschenden Denkgewohnheiten geltend: «Kants Grundsatz: Lebe so, daß die Maxime deines Handelns allgemeingeltend werden kann, ist abgetan. An seine Stelle muß der treten: Lebe so, wie es deinem inneren Wesen am besten entspricht; lebe dich ganz, restlos aus. Gerade dann, wenn ein jeder der Gesamtheit das gibt, was ihr kein anderer, sondern nur er geben kann, dann leistet er das meiste für sie.«
Die Anfänge der politischen Philosophie
Wie hoch dies zu veranschlagen ist im Fortgang der Geistesgeschichte, wird anschaulich, wenn man letztere im Anbruch der Neuzeit, also beginnend bei der
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Renaissance, untersucht mit besonderem Hinblick auf die Staatsphilosophie und die allmählich sich herausringende Persönlichkeitsmoral als Vorstufe des ethischen Individualismus. Man wird vielleicht bemerken, wie sehr unser Denken und Fühlen heute noch in den Anfängen der Neuzeit steckt, und Gelegenheit haben, zu prüfen, wann wir uns auf Steiners Freiheitsphilosophie berufen und doch nur eine nominalistische Umdeutung der frühliberalen Denkungsart vornehmen. Faktisch ist der ethische Individualismus von der protestantischen «Pflicht- und Gewissens-Ethik» -der Aufklärung und Reformation (Näheres s. u.) ebenso weit entfernt wie diese vom mittelalterlichen Unterwerfungsgehorsam, und es ist die Frage, ob wir uns dieser Entfernung immer genügend bewußt sind.
Man kann im 15./16. Jahrhundert den Beginn der modernen Staatsphilosophie ausmachen. Zugleich tritt die Freiheitsfrage als Frage nach der persönlichen Unabhängigkeit im Verhältnis des Einzelnen zur Obrigkeit in der Form auf, wie sie uns bis heute bewegt. Es ist eine Zeit der Wirren und Umbrüche. Tradierte Hierarchien und Lebensformen bröckeln, geistliche und weltliche Macht überwerfen sich. Zwischen die unumschränkt rechtsetzende fürstliche Gewalt und das mit Leib und Leben abhängige Volk schiebt sich, Unruhe stiftend und selbstbewußt, das Bürgertum als eine Art zweiter, unerblicher Adelsstand, der sich Ansehen und Macht durch persönliche Klugheit und Tüchtigkeit erwirbt. Der Einfluß des Papsttums schwindet, die Nationalstaaten bilden sich. Während Kopernikus durch seine (im Detail ungenaue) Lehre Bestürzung auslöst, entläßt die Reformation den Menschen in seine persönliche Verantwortlichkeit vor Gott und verwirft die Heiligkeit des Priesteramtes. Die leibeigenen Bauern revoltieren. Überall Aufstände und Menschenrechtsproklamationen. Beim Reichstag zu Augsburg im Jahre 1500 wird festgestellt, daß die Bauern das Recht haben, gegen die Obrigkeit ordentliche Klage zu führen. Unter den Philosophen breitet sich Skepsis, ja Feindseligkeit gegenüber der geistlichen Autorität aus, nicht zuletzt wegen der korrupten Verhältnisse im Vatikan. Das kirchliche Lehrgut ist nicht länger unanfechtbar. Die auf praktische Vernunft gegründete, weltliche Macht wird zum Ideal der bedeutendsten Köpfe, das «pragmatische» und naturwissenschaftliche Denken tritt seinen Siegeszug an. Wir können sprechen von der «Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit», und zwar in vierfacher Weise «als Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen, als Zeitalter der Reformation und endlich als Zeitalter der sich bildenden Nationalstaaten und des wirtschaftlichen Aufstiegs des Bürgertums». [3] Russell hält für den eigentlichen Umbruch, mit dem alle anderen Veränderungen zusammenhängen, ganz zu Recht «die schwindende Autorität der Kirche und das zunehmende Ansehen der Wissenschaft». Politisch treten an die Stelle der Kirche «als kulturbeherrschende regierende Autoritäten immer stärker die weltlichen Staaten». [4]
Es würde den Rahmen unserer Betrachtung sprengen, diese Zeit nach ihrer unterschiedlichen Nuancierung in den einzelnen europäischen Regionen zu untersuchen.
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Überall gilt jedoch, daß die selbstverständliche, auch in Leid und Entbehrung selbstverständliche göttliche Weltordnung immer weniger als Realität erlebt wird, wofür einerseits der sittliche Verfall des Papsttums ein Indiz ist, [5] andererseits, am Gegenpol, die Leugnung der Gottgewolltheit der Macht durch die Rechtlosen, denen das Versprechen einer Wiedergutmachung im Jenseits kein Trost mehr ist. Die Bauernaufstände sind nicht einfach blinde Reaktionen der Verzweiflung. Sie haben, wie wir heute sagen würden, politisch-programmatische Züge, sind getragen von «konkreten Utopien», von der Heilserwartung eines Paradieses auf Erden. Die Reformation, zum Teil mit den Aufständischen verbündet, verweist den Einzelnen auf sein persönliches Gewissen als den Begegnungsort mit Gott. Die Macht des planenden Verstandes, des leidenschaftslosen Kalküls (wozu auch gehört: der List und Intrige), die keiner höheren Autorität auf Erden oder im Himmel unterworfen ist, sondern ganz auf sich selbst beruht, triumphiert in bisher unbekanntem Ausmaß. Indem die weltliche Obrigkeit zunehmend als eine solche betrachtet wird, deren Legitimation nach rein irdischen Gesichtspunkten, etwa nach Nutz- und Sicherheitserwägungen, geprüft werden muß und nicht mehr einfach hingenommen werden kann als von Gott eingesetzt (Aufkommen der modernen Staatsphilosophie), tritt die Freiheitsfrage in Erscheinung in einem ausgesprochen exoterischen Sinne als Frage nach dem obrigkeitlicher Einflußnahme entzogenen persönlichen Lebensspielraum, mithin nach der Bewegungsfreiheit, die zur persönlichen Bedürfnisbefriedigung, zum persönlichen Erfolgsstreben vom Gesetzgeber eingeräumt werden kann, ohne die gesetzliche Autorität zu untergraben. Ein neuer Begriff taucht in der abendländischen Philosophie auf: der «Gesellschaftsvertrag». [6] Jeder Einzelne steht dem Fürsten als Subjekt einer ideellen Vertragspartnerschaft gegenüber, auch wenn zunächst von «Demokratie» in unserem heutigen Verständnis (Athen muß aus verschiedenen Gründen hinsichtlich der modernen Demokratiefrage ausgeklammert werden) noch keine Rede ist, geschweige denn von der «unantastbaren Würde» des Einzelnen, die über das Staatsinteresse zu stellen sei.
Thomas Hobbes: Freiheit für die Staatsraison
Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) kann in bezug auf die Freiheitsfrage, insofern sie das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft betrifft, als ein Denker gelten, dessen markante Definition bis heute für die meisten Menschen verbindlich ist. Freiheit, sagt Hobbes, ist gegeben, wenn jegliche Bewegungsbehinderung fehlt. Bewegungsbehinderungen sind Gesetze. Als Bild wird das bergab fließende Wasser gewählt, das notwendig bergab fließt. Ein Ding oder Wesen ist also
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um so freier, je weniger es gehindert wird, sich gemäß seiner naturgesetzlichen Bestimmung zu verhalten. Das bedeutet für den Menschen, daß er frei wäre, wenn er uneingeschränkt seine Triebe ausleben könnte. Folglich kann Freiheit im gesellschaftlichen Zustand kein Wert an sich sein, denn die entfesselte menschliche Natur würde nach Hobbes' tiefer Überzeugung zu Mord und Totschlag führen. Der nur den ihm innewohnenden Notwendigkeiten folgende Mensch ist gemeinschaftsunfähig, das heißt: der freie Mensch ist gemeinschaftsunfähig. Hobbes folgert, daß irgendein «Recht auf Freiheit» nicht existiere. Der Einzelne besitzt gerade so viel Bewegungsspielraum, wieviel ihm vom Gesetzgeber zugestanden wird. Der Gesetzgeber ist der Monarch, der sich nicht vor den Untertanen, sondern allein vor Gott zu verantworten hat. – Hier sehen wir, wie in Hobbes' Denken noch das Mittelalter präsent ist, während andererseits schon die Neuzeit anklingt, indem es höchst unfromm heißt, diejenige Religion sei die beste, die für den Fürsten am zweckmäßigsten sei. Die Frage nach der persönlichen Freiheit gegenüber dem Staat (die bürgerliche Freiheitsfrage) wird aufgeworfen und wieder verworfen. Aber sie steht in der Zeit, – angstbesetzt, eher als bange Ahnung denn als Verheißung.
Es lohnt sich, den Freiheitsbegriff Hobbes' einmal konsequent zu Ende zu denken. Man findet dabei, wie die Entwicklung zu den nihilistischen und post-nihilistischen (existentialistischen) Haltungen des 19./20. Jahrhunderts hier schon ihren Anfang nimmt. [7] Wenn es wahr ist, daß Freiheit in der Abwesenheit jeglicher Bewegungsbehinderung besteht, und wir diesen Satz (den Spezialfall des Verhältnisses Staat–Individuum überspringend) ganz allgemein fassen, so gilt: Frei wäre ich, wenn nichts mehr mein Handeln, Fühlen und Danken mitbestimmte, was von irgendeiner Umgebung herkommt und mich beeinflußt oder beeindruckt, also meine inneren und äußeren Bewegungen eingrenzt als Bedingungswelt. Damit ich mich bewegen kann, muß aber etwas außer mir da sein: Ich kann mich nur bewegen als irgendwie geschlossenes Gebilde innerhalb eines Bezugsrahmens anderer Gebilde. Der Bezugsrahmen schränkt mich jedoch ein. Genaugenommen folgt daraus: Der Zustand des Fehlens jeglicher Bewegungsbehinderung, den Hobbes den Freiheitszustand nennt, ist nur zu erreichen, wenn ich mich überhaupt nicht mehr bewege. Der Stein ist frei! Das ist die Konsequenz des Hobbes'schen Freiheitsverständnisses.
In Anwendung auf das soziale Leben bedeutet dies: Solange es ein solches soziales Leben gibt, kann es Freiheit nicht geben. Indem ich Mensch unter Menschen bin, kann ich nicht frei sein. Indem ich irgend etwas bin im Zusammenhang mit irgend etwas, bin ich unfrei, denn Zusammenhang ist Bewegungsbehinderung. Dies ist das unausweichliche, niederschmetternde Resultat jeder materialistischen Untersuchung der Freiheitsfrage. Beckett, der Dichter des «Endspiels», der «Texte um Nichts», läßt seine stammelnden (aber unerhört Aufschlußreiches stammelnden) Figuren auftreten
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in einem Raum kurz vor dem Abreißen aller Zusammenhänge, und die Frage, die aus den Monologen des immerwährenden «vorletzten Mals» heraustönt, ist diese: Das also wäre es? Das also wäre das Ergebnis, die banale Antwort auf die Frage der Fragen? Nichts? Oder schlüpfen wir da durch ein Nadelöhr, um auf der anderen Seite festzustellen: Die Frage war falsch gestellt? [8] – Ein unerhörtes Ringen mit dem, was im Anbruch der Neuzeit geistig ausgesät wurde, findet im philosophischen Denken und dichterischen Schaffen des 20. Jahrhunderts statt. Jean Paul Sartre wäre hier noch besonders hervorzuheben, der den Nihilismus so radikal durchführte, daß er ihn am Ende übersprang und eine ungelöste Frage (was er kurz vor seinem Tode öffentlich aussprach) mit über die Schwelle nahm: Woher kommt die Moral? [9]
In bezug auf den engeren Rahmen unseres Themas ist die Feststellung entscheidend, daß nach Hobbes' Definition die Freiheitsfrage für die soziale Frage keine Relevanz hat bzw. nur die eine, daß die Freiheit um des Staates willen aufgegeben werden müsse. Der Staat habe alle Lebensverhältnisse zu regeln, da anderenfalls Chaos und Gewalt ausbrächen. Dem Fürsten obliegt die Pflicht der Meinungszensur, um Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. (Mit Blick auf heute bemerkt man, wie die Dinge durch die Jahrhunderte hindurch weiterwirken!)
Bei aller Antipathie, die wir gegenüber solchen Ansichten verspüren, muß doch auch das Neue, für die damalige Zeit durchaus Fortschrittliche gesehen werden: Die Obrigkeit hat Pflichten gegenüber dem Volk. Der Fürst ist gehalten, sich sein Gewaltmonopol durch Gegenleistungen zu «verdienen». Er ist der Garant für Frieden und Sicherheit. Hobbes stellt fest, der Selbsterhaltungstrieb stehe über der Gehorsamspflicht. Damit wird eine Art «Widerstandsrecht» begründet: Der Anspruch des Regenten auf absolute Untertanenloyalität erlischt, wenn es ihm nicht gelingt, seine Schutzgarantie einzulösen. Die Idee des «Gesellschaftsvertrags» nimmt mit Hobbes ihren Anfang. Achtet man mehr auf die Denkbewegung und weniger auf die Inhalte, werden erste neuzeitlich-demokratische Tendenzen sichtbar.
Die Angst vor der Freiheit
Man versteht die Überbetonung der Staatsraison besser, wenn man sich vergegenwärtigt, was die damaligen Denker umtreibt. Jeder fühlt, daß «etwas in der Luft liegt». Begleitet von furchtbaren äußeren Wirrnissen (es ist die Zeit des Dreißigjährigen Krieges), vollzieht sich in der abendländischen Bewußtseinsverfassung ein beunruhigender Umschwung. Man ahnt mehr oder weniger deutlich, daß der Mensch aus althergebrachten, eher träumend erlebten Sozialformen und -bindungen herausfällt. Der Himmel schließt sich, und neben den Glauben stellt sich als rivalisierende Geistesmacht die nüchtern-logische Verstandeskultur: Ouvertüre des materialistischen Zeitalters. Indem der Einzelne in sich die Fähigkeit und den Drang wachsen
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fühlt, aus den Kräften persönlicher Klugheit und Tüchtigkeit sein Schicksal zu meistern, kommen auch Selbstsucht und Hinterlist hervor, willkürliche Gewalt und Übervorteilung aus Eigennutz. Das ist der Schattenwurf des neuen Persönlichkeitsgefühls, den schon im 15. Jahrhundert mit besonderer Schärfe der Italiener Macchiavell gezeichnet hatte (wir kommen noch auf ihn zurück). Die Rechtlosen und Unterdrückten am Sockel der Pyramide erleben mit nie dagewesener Wucht ihren Ausschluß aus dem Kulturprozeß und klagen die Teilnahme ein.
Die Interessen driften auseinander. Gruppen- und Einzelegoismen (die «Sonderinteressen», die Rousseau später so geißeln sollte) machen sich geltend als Macht- und Meinungskampf auf allen Ebenen. Während Neid, Mißgunst und persönliches Bereicherungsstreben zu verbreiteten Handlungsantrieben werden, erleben andererseits Kunst und Wissenschaft eine unerhörte Blütezeit. [10] Hobbes ist in dieser Situation weit davon entfernt, denkerisch über den Dingen zu stehen. Ihn beherrscht die Überzeugung, daß ohne einen starken, diktatorischen Staat der erbarmungslose Kampf aller gegen alle eskalieren müßte, denn dies entspräche (womit in gewisser Hinsicht das sogenannte «sozial-darwinistische» Menschenbild vorweggenommen wird) der ungebändigten menschlichen Natur. Nur durch Appellation an ihr Sicherheitsbedürfnis, ihren Selbsterhaltungstrieb, so Hobbes, können die Menschen veranlaßt werden, sich (der Vernunft statt dem Trieb gehorchend) als Gesellschaftsverbund zu organisieren. Im Zustand der «Freiheit» würden sie einander zerfleischen. Was der Schriftsteller Johanno Strasser heute auf die Formel «Sicherheit als destruktives Ideal» bringt, [11] ist Hobbes'sche Philosophie im 20. Jahrhundert.
Unter dem Strich also hat Hobbes zum Problem der persönlichen Freiheit zu sagen: Sie stellt eo ipso keinen Wert dar. Ihr Umfang ergibt sich aus dem zufälligen Desinteresse der Obrigkeit an gewissen nebensächlichen Privatangelegenheiten. Immerhin hat der Fürst eine Schutzpflicht gegenüber seinen Untertanen, die seinen Anspruch auf Gehorsam begründet. Hier klingt die Idee an, eine Art Vertrag verbinde Obrigkeit und Volk. Der Fürst steht jedoch prinzipiell über dem Gesetz. Ebenfalls über dem Gesetz steht als höchstes Recht des Untertanen sein Selbsterhaltungstrieb, – eine Feststellung, die wenig praktischen Wert hat, solange der Gesetzgeber nicht an seine eigenen Gesetze gebunden ist. Man kann allenfalls eine allgemeine moralische Rechtfertigung der «Revolte aus Angst» daraus herleiten und eine Mahnung des Philosophen an den Monarchen, derartigen Situationen vorzubeugen.
John Locke: Vom Gebot zur Pflicht
John Locke (1632-1704), der zeitlich und (was die politische Philosophie betrifft) thematisch unmittelbar an Hobbes anschließt, wagt den für seine Zeit durchaus entlegenen und umwälzenden Gedanken auszusprechen, auch der Fürst sei an die Gesetze gebunden, – ja er geht so weit, ihm die gesetzgebende Gewalt streitig zu
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machen. Mit Locke wird gewöhnlich der Beginn der «Aufklärung» datiert. Er gilt als philosophischer Pate der englischen Revolution von 1688, die wesentliche Befugnisse vom König auf das Parlament übertrug. Sein Staatsideal ist die konstitutionelle Monarchie, die durch Gewaltenteilung und gesetzliche Einbindung des Königs den Einzelnen, insbesondere sein Eigentum vor Übergriffen der staatlichen Gewalt schützt. [12] Nach Hugo Grotius (1583-1645) ist er derjenige, der (erstmals konsequent) die Idee des «Gesellschaftsvertrags» ausführt vor dem Hintergrund seiner strikten Verneinung der Legitimität der Macht durch Erbanspruch. Ohne (für unser heutiges Empfinden) hinreichende praktische Konsequenzen daraus zu ziehen, stellt Locke fest, Macht könne sich nur auf die Zustimmung einer Mehrheit der Untertanen stützen. Nicht ein bis in Vorzeiten zurückreichender Blutstrom entlasse die Könige aus sich, [13] sondern «der Anfang der politischen Gesellschaft ist bedingt durch den gemeinsamen Beschluß, sich zu vereinigen und eine Gesellschaft zu bilden».
Obwohl Locke teilweise moderne demokratische Positionen vertritt, bleibt vieles vage in bezug auf die politische Durchführung. Nachdrücklicher als Hobbes streitet Locke zwar für ein Widerstandsrecht, von dem jedoch, genau besehen, letztlich nur durch eine gewaltsame Revolution Gebrauch gemacht werden kann. Die Befugnisse der unter königlichem Befehl stehenden vollziehenden Gewalt, also auch der militärischen Gewalt nach innen, sind im Ernstfall unbegrenzt. Der Anachronismus in Lockes Demokratie-Verständnis ist ein hochaktueller: «Der ungerechten und ungesetzlichen Gewalt», sagt er, «darf Gewalt entgegengesetzt werden.» Welche Gewalt im einzelnen als legitim oder illegitim anzusehen sei, entscheidet allerdings de facto die gewaltausübende Macht.
Wir spüren dennoch die Veränderungen der geistigen Grundhaltung, und in diesem Zusammenhang gebührt besonderes Augenmerk Lockes Ideen zur persönlichen Freiheit im Sinne des bürgerlichen Liberalismus. Es sei an dieser Stelle vermerkt, daß wir keine Veranlassung haben, auf den anfänglichen politischen Liberalismus vom Standpunkt des ethischen Individualismus mit Geringschätzung hinzublicken. Die Talsohle eines ganz exoterischen Freiheitsverständnisses mußte ja durchschritten werden auf dem Weg, der vom mittelalterlichen Daseinsgefühl des Bestimmtseins durch göttliche Vorsehung mit der entsprechenden Gebots- und Gehorsamsethik über die (mit der Aufklärung beginnende und in Kant gipfelnde) Pflicht- und Gewissensethik protestantischer Prägung hinüberführt zur Erkenntnis- und Tat-Ethik der «Philosophie der Freiheit», die ihre soziale Wirksamkeit in kommenden Jahrhunderten entfalten wird. Wir stehen heute an der Nahtstelle zwischen protestantischer und individualistischer Ethik, und jene ist eine notwendige Vorläuferin der letzteren. Locke stand an einer anderen Nahtstelle. Ihm und seinen Zeitgenossen
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oblag es, die patriarchalische Gebotsmoral des niedergehenden Katholizismus zu überwinden in Richtung einer radikal diesseitigen, auf Rechten und Pflichten beruhenden Persönlichkeitsmoral. Wir erkennen darin einen im Fortgang der Geistesgeschichte unausweichlichen Befreiungsakt, für den der Preis des Verlustes der «religio», der Rückverbindung zur Geistwelt, zunächst entrichtet werden mußte. Der Pflichtbegriff ist die «verweltlichte» Metamorphose des Gebotsbegriffs, der, auf das Urteilsvermögen des Einzelnen zurückgeworfen, wiedererscheint als Prinzip des moralischen Handelns aus Einsicht in das gemeinschaftsdienlich Zweckentsprechende (und rückwirkend persönlich Vorteilhafte). Damit ist die Moral in ihrer reinen Form der Frömmigkeit korrumpiert. Zunehmend bedeutet sie für sich genommen nichts mehr. Andererseits kann gerade deshalb die wache Suche nach ihren Quellen einsetzen. Der Menschheit erwächst die Chance, in freiem Wahrheitsstreben wiederzufinden, was sie als göttliche Wegzehrung aufgebraucht hat. Aus der Geistgeborgenheit entlassen, bereitet sie sich vor auf Geisterkenntnis und durchschreitet auf diesem Weg ein Stadium der Orientierungslosigkeit. Als Reaktion erfolgt die Zuflucht zur straff organisierten weltlichen Ordnung. Die Entwicklung geht dahin, daß das Verhältnis des Menschen zur Gottheit sich als ein persönliches gestaltet, während dasjenige zur weltlichen Obrigkeit auf einem davon getrennten Felde seine Regelung findet.
Das göttliche Gebot ist eherne, indiskutable Realität, die so wenig in Frage gestellt werden kann wie das Vorhandensein der Dinge im Raum. In Gehorsam und Frömmigkeit beugt sich ihm der Mensch: vertrauend auf die Allgüte Gottes und Lauterkeit seiner irdischen Zeugen, austilgend alle Zweifel des Herzens und der Vernunft als Anfechtungen des Bösen. Ein kindlich-vertrauensvolles Gemüt bildet die Voraussetzung für eine tragfähige Gebotsethik.
Dieser Gemütslage aber entwuchs die europäische Christenheit (wir müssen Rußland ausnehmen) im Zeitalter der Aufklärung. Im Begriff der Pflicht macht sich etwas anderes, Neuartiges geltend. Der Mensch verläßt das Stadium kindlichen Vertrauens und beginnt zu fragen. Er erhebt den Anspruch, unter Prüfung von Vor-und Nachteilen für die eigene Person und das soziale Ganze abzuwägen (im Urbild eine Tätigkeit der Hände, – und gerade diese werden von Locke «entdeckt»), ob sich Gehorsam (jetzt schon Gehorsam gegenüber der weltlichen Macht) auszahlt. Der Unterschied wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß sich vom Gehorsam der Frömmigkeit keinerlei (irdische) Ansprüche irgendeiner Art ableiten lassen, während am Gegenpol der Pflicht das Recht erscheint.
Die Entdeckung der Hände
Der Übergang vom Gebot zur Pflicht ist dadurch gekennzeichnet, daß der Einzelne jetzt, bis zu einem gewissen Grad, teilnimmt an der Bestimmung der gemeinschaftlichen Lebensregeln. Das Gebot läßt keine Wahl; der Gebieter allein weiß, was gut ist. Die Pflicht wird zwar ebenfalls «von oben» auferlegt, aber (und dies ist der Kern der Idee vom Vertrag) sie muß «für rechtens befunden» werden: Man einigt sich auf
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Rechte und Pflichten, jedenfalls der Idee nach. «Der ungerechten und ungesetzlichen Gewalt darf Gegengewalt entgegengesetzt werden.» Die Seelenhaltung der beginnenden Aufklärung ist eng verbunden mit dem Prinzip von Geben und Nehmen. Man kann, wie schon angedeutet, als eine Art Urphänomen finden: Es ist die Zeit der «Entdeckung der Hände», verstanden als bildhaft umschreibende, aber in einem gewissen Sinne doch sehr reale Charakteristik: Das Händlertum stellt sich gleichrangig neben den Adel. Das Handwerk blüht auf. Auf politischem Felde erlebt das Vertragswesen seine geistige Geburtsstunde: es wird verhandelt. Und hinsichtlich der Freiheitsfrage tritt in den Vordergrund mit einer für heutige Verhältnisse befremdlichen Ausschließlichkeit das Eigentum als das «mit eigenen Händen» Erworbene, worauf der Staat jeden Anspruch verliert. Locke geht so weit zu sagen, daß im Kriegsfall zwar die Heerführung über Leben und Tod der Soldaten verfügt, jedoch ihnen nichts von ihrem materiellen Eigentum nehmen darf. So sehr wird als befreiend, erlösend empfunden das Anrecht des Einzelnen auf die Früchte seiner Arbeit, daß selbst das nackte Leben nicht so heilig ist.
Faßt man den Zeitraum vom Mittelalter über die Neuzeit mit Renaissance und Aufklärung, gipfelnd im schroffen Materialismus des 19. Jahrhunderts (der sich gegen einen zweiten, über Klassik, Romantik und Frühgoetheanismus in die Anthroposophie mündenden Strom zunächst durchsetzen konnte) bis zur Gegenwart einmal hypothetisch als einen umgrenzten historischen Komplex ins Auge – also etwa die letzten tausend Jahre –, kann das Bild eines dreistufigen Inkarnationsprozesses vor dem inneren Auge erscheinen.
Im Mittelalter als Zeit der Gebots- und Gehorsamsethik (die sich, in größeren Zeitspannen gedacht, allerdings damals schon ihrem Ende zuneigte) hält sich der Mensch noch überwiegend im Bereich des bildhaften Vorstellens auf, – in der dem Kosmos nachgebildeten «Hauptesregion». [14] Das Selbst schlummert noch im Urvertrauen auf höhere Schicksalsführung, von Vergangenheitskräften geführt, wie «zurückgelehnt» in der ganzen Daseinshaltung.
Am Wendepunkt der Renaissance und unmittelbar daran anschließenden Aufklärung entdeckt sich der Einzelne als geschlossenes Seelenwesen im Hier und Jetzt. Der geistige Vergangenheitsrückraum verblaßt. Im Inkarnationsprozeß wird die Herz-Atem-Region als «Wesensmitte» ergriffen. Es bilden sich seelisch diejenigen Qualitäten aus, durch die sich der Mensch unmittelbar in die soziale Gegenwartsbezüge hineinstellt. Hierzu gehört, an die Stelle des bloßen Gehorsams tretend, das Gewissen als (um mit Erich Fromm [15] zu sprechen) seins-bezogene Seelenkraft. Man «hat» es nicht, bringt es nicht mit und nimmt es nicht mit: es entsteht, indem es aufgerufen wird, immer wieder neu.
Der Übergang vom bildhaft und stimmhaft noch wahr-genommenen Gott zum
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Gewissen markiert jedoch zugleich einen Übergang vom imaginierenden zum abstrahierenden Bewußtsein. Gott verliert sein Gesicht und wird aufgesplittert in menschliche Seelenfähigkeiten, sittliche Werte etc. Nicht mehr ER spricht Recht, sondern der Mensch tut es, sich selbst befragend, in SEINEM Namen. Diese Wende vollzieht sich tumultuarisch: Das Alte trägt nicht mehr, das Neue noch nicht. Die Seele ringt um Orientierung im Dickicht der Gefühle zwischen Liebe und Haß. Starke Begehrens-Kräfte schießen auf und bestimmen das Verhältnis zur umgebenden Welt im Sinne einer ganz neuen Anspruchshaltung. [16] Die Möglichkeit, in diese Wirrnisse kraft der kühl berechnenden Vernunft ordnend einzugreifen, wird als ungeheuer verheißungsvoll empfunden, als eine Art Gottgefühl, – mithin als einziger Ausweg aus dem Chaos.
Wir können das Bild vor uns hinstellen, daß sich der Mensch aus der «zurückgelehnten» Haltung in die Senkrechte begibt, aufsteht und jetzt, sich im Zentrum erlebend, den Ansturm der Welt von allen Seiten wach erleidet, – schutzlos: gezwungen, sich eine Festung zu bauen. In dieser Situation, aufgerichtet, wird er seiner Hände gewahr. Wir sprechen (meinetwegen metaphorisch, wenn dies der besseren Verständigung dient) von Bewußtseinsvorgängen – eine ganz neue und jetzt erst ihre eigentliche Bedeutung gewinnen die Hände. Man kann es sich so vorstellen, als würde einem plötzlich die volle Tragweite einer großen Fähigkeit bewußt, die man bisher wie traumverloren ganz selbstverständlich hinnahm und gebrauchte. Die Hände, vom Zentrum zur Peripherie sich erstreckend, verankert zwischen Kopf und Herz, aber dem Herzen näher, sind das Urbild der Waage (des Ab-wägens, also Urteilens). Geben und Nehmen sind «Hand-Qualitäten», die metamorphosiert wiedererscheinen als Pflichten und Rechte. Schließlich verwirklicht sich durch die Hände das biblische «Macht euch die Erde untertan». Handelnd, arbeitend prägt der Mensch der Natur etwas von sich ein. (Daß der Imperativ von «machen» im Plural gleichlautend ist mit dem Substantiv «Macht», sei am Rande vermerkt.)
Dem Tüchtigen ein Königreich
Um Locke und die Anfänge des Liberalismus zu verstehen, müssen solche, nur zum Teil expressis verbis in den Texten auffindbare Hintergründe berücksichtigt werden. Immerhin wird deutlich, daß Lockes Eigentumsbegriff durchaus unterschieden werden muß von der flachen Wohlstandsideologie unserer Tage, wenn man etwa liest: «Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch sein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat es mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas Eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht» (Unterstreichungen im Original). Der
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Gedanke, der hier durchschimmert, nämlich, daß der Mensch durch Verwandlung der Natur gewissermaßen seine Leiblichkeit erweitert, ist philosophisch alles andere als banal. In bezug auf die Freiheit macht Locke gegenüber Hobbes den entscheidenden Schritt, daß er sie nicht negativ als Zustand der Abwesenheit jeglicher Bewegungsbehinderung definiert, sondern positiv als Fähigkeit, die untermenschlichen Naturreiche zu vermenschlichen. Die Früchte der Anwendung dieser Fähigkeit sind dem Zugriff des Staats entzogen. Damit ist ein wesentliches Stück äußere Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit errungen, insofern dem Menschen aufgrund seiner persönlichen Klugheit und Tüchtigkeit Rechte erwachsen, die bislang der Obrigkeit vorbehalten waren: Jedem steht es zu, sich sein kleines Königreich zu bauen. Wenn Locke als Eigentum des Einzelnen definiert, «was immer er dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat», so wendet er diesen Gedanken durchaus konsequent auch auf den Umgang des Menschen mit sich selbst an: «Die Beherrschung unserer Leidenschaften ist das wahre Fortschreiten in der Freiheit.» Getrennt vom Diktat der «naturbelassenen» Leidenschaften ist das Streben nach wahrem Glück. Der Unterschied besteht nach Locke darin, daß das vernunftgeleitete Glücksstreben auf lange Sicht planvoll angelegt wird. Die Betonung der Klugheit, die im Verfolg längerfristiger Ziele Mäßigung, Geduld und vordergründigen Verzicht vorschreibt, ist typisch für den Liberalismus.
Als wahre christliche Verheißung wurde empfunden «das herrliche evangelische Wort, daß alle .. ein priesterlich Volk und ein königlich Geschlecht sind, jeder eine religiöse Persönlichkeit mit dem Recht und der Pflicht, seine Kräfte zum Gemeinwohl zu gebrauchen», schrieb Wilhelm Zimmermann, der unerreichte Chronist der deutschen Bauernkriege, in seinem 1891 erschienen Werk.
«Der Weg ist das Ziel»
Vollzog sich damals, menschenkundlich gesprochen, ein Prozeß der seelischen Eigenraumbildung (die Entdeckung des Blutkreislaufs gehört zu den großen wissenschaftlichen Entdeckungen dieser Zeit), veräußert als Drang nach irdischer Raum-Aneignung, vom privaten bis zum territorialen Besitzanspruch (Bildung der Nationalstaaten), – gleichsam das Vordringen des in sich erwachenden Bewußtseins zur Peripherie, grenzziehend, Distanz schaffend für objektive Umraumwahrnehmung und planvolles Handeln, nicht zu vergessen das hell auflodernde Gerechtigkeitsgefühl der Besitzlosen, die ihr Land, ihre Ernte einforderten –, so stehen wir heute, im Anbruch des Zeitalters der individualistischen Ethik, an einem anderen, ähnlich markanten Wendepunkt. Orientiert am Leitgedanken des dreistufigen Inkarnationsprozesses, können wir den mit der «Philosophie der Freiheit» im geistigen Raum vollzogenen Paradigma-Wechsel charakterisieren als einen solchen, der uns dort zum bewußtseinsklaren Erlebnis unserer selbst bringen soll, wo wir mit Füßen die Erde betreten und auf ihr fortschreiten, menschheitliche Zukunftsräume ausmessend. Die Idee des «Weges», der Evolution, die nicht den Menschen hervorbringt, sondern aus ihm entspringt, seinen Werde-Gang nachzeichnet, liegt in der Zeit. Wir
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erleben die gedankenlose Inflation der Vokabel Fortschritt als äußeres Indiz einer vage erahnten, längst noch nicht begriffenen inneren Realität. – Das Gewahrwerden der Hände hieß Gegenwart. Das Gewahrwerden der Füße heißt Zukunft und Ziel. Der suchende Teil, der Menschheit entdeckt einen Satz: «Der Weg ist das Ziel.» Wir spüren dem von innen treibenden Ziel nach, der verborgenen Schicksalsbewegkraft, und erkennen das Kernproblem der Freiheit in der Frage: «Wie erkenne ich, was ICH will»? Indem der Mensch nur dem zu folgen lernt, was er an idealischen Lebenszielen und schöpferischen Impulsen in sich findet als das Eigentliche, Ursächliche, um dessentwillen er sich auf den Weg begeben hat, löst er den Widerspruch zwischen Freiheit und Pflicht, Wollen und Sollen tätig auf. Während die protestantische Ethik im Gewissen das «Empfangsgerät» für Gottes Wort sah, der, zwar im Menschen sprechend, doch ein sich ihm vorenthaltender blieb, schreibt Rudolf Steiner im Jahre 1886 die erlösenden und für die Anthroposophie Raum schaffenden Worte: «Der Mensch läßt sich nicht von einer äußeren Macht Gesetze geben, er ist sein eigener Gesetzgeber. Wer sollte sie ihm, nach unserer Weltansicht, auch geben? Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen (dies war die philosophische Stimmung im 19. Jahrhundert, Anm. d. Verf.), um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit.» [17]
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Dem Übergang von Thomas Hobbes zu John Locke muß unser besonderes Augenmerk gelten wegen des grundsätzlichen geistigen Richtungswechsels, der an ihnen abgelesen werden kann. Man sollte nicht geringschätzen, was es bedeutete, wenn Locke entgegen seinem Vorgänger den Fürsten unter das Gesetz stellte, dem Einzelnen Souveränitätsrechte einräumte, das Mehrheitsprinzip einführte, religiöse Toleranz predigt und einen positiven Freiheitsbegriff entwickelte, – dies alles wenige Jahrzehnte nach der (bis dahin durchaus repräsentativen) grimmigen Machtphilosophie Hobbes. Und doch dachte Locke seinen älteren Antipoden eigentlich nur «ins reine». Hobbes verwarf das Gottgnadentum der weltlichen Obrigkeit ebenso wie das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma und bezeichnete den Ursprung der Gesellschaft als einen stillschweigenden Vertrag, der seine Gültigkeit verlöre, wenn der Fürst den Untertanen nicht mehr böte, wofür sie alles zu opfern bereit seien: Sicherheit. – Locke zog die Konsequenzen. Wenn die Regierung nicht von Gott eingesetzt ist, so ist sie vom Volk eingesetzt, da es keine dritte Möglichkeit gibt. Deshalb genügt es nicht, theoretisch von einem Vertrag auszugehen, sondern derselbe muß konkret geschlossen und von Zeit zu Zeit erneuert werden. Bindet kein höheres Gesetz den Fürsten, hat er sich dem irdischen zu beugen.
Damit war die moderne Demokratie in groben Umrissen gedanklich konzipiert. Mit dem Verfall der kirchlichen Autorität ging einher die Forderung nach religiöser Toleranz. Die neu errungene geistige Unabhängigkeit richtete sich (aus einsichtigen inneren Gründen, wie wir zu zeigen versuchten) zunächst auf das Verhältnis des Menschen zur Erde und ihren Gütern und auf rechtliche Belange insofern, als sie dieses Verhältnis betrafen. Im naturwissenschaftlichen Denken durchforschte der Mensch die materielle Welt im Hinblick auf ihre Manipulierbarkeit («Hand-habbarkeit»). Immer weniger erlebte er sich als Sockel der himmlischen, immer stärker als Spitze der irdischen Hierarchie und gewann Selbstbewußtsein aus der Erkenntnis, Beherrscher der Naturreiche zu sein durch das Privileg der Vernunft. «Überall tut sich der Verstand kund, der mündig geworden ist, (und) so kam es, daß in wenigen Jahren der zersetzende Verstand mehr Steine am Bau des Bestehenden löste und sprengte als fast in ebenso vielen Jahrhunderten zuvor, und die alten Formen des religiösen und politischen Lebens erschienen immer abgelebter und befleckter. – Tausende ahnten und verkündeten den Anzug einer neuen Zeit. – Die Menschheit hatte zu denken angefangen, und man mußte glauben, daß sie nicht bei einem stehenbleiben, sondern alle Verhältnisse in den Kreis ihres Denkens ziehen werde» (W. Zimmermann).
Macchiavell: Mündigkeit und Macht
Nicolo Macchiavell (1469-1527), der zweifellos Hobbes beeinflußte, war in gewisser Hinsicht eine herausragende Figur der italienischen Renaissance. Etwas gedankenlos wird der Begriff «Macchiavellismus» in der politischen Terminologie als Schimpfwort geführt. Läßt man die persönliche Antipathie einmal beiseite, die man allzu verständlich – empfinden mag gegenüber einer politischen Philosophie, auf
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die das geflügelte Wort «Der Zweck heiligt die Mittel» zurückzuführen ist, und beschränkt sich auf die Charakterisierung, erweist sich Macchiavell als derjenige Denker, der mehr als alle anderen, mit überschäumender Emphase, den «mündig gewordenen Verstand» besang. Freilich erlitt sein Ideenwerk das Schicksal aller von bedeutenden Geistern vorgetragenen krassen Einseitigkeiten: Es wirkte sich in der Geschichte verheerend aus.
Macchiavell ist förmlich geblendet von der Möglichkeit, einen höheren aller Alltagsmoral und kleinlichen Rücksichtnahme enthobenen Standpunkt einzunehmen und von dort aus «strategisch» den Gang der Ereignisse auf ein Ziel hin zu entwerfen, demgegenüber alle Einzelinteressen zur Bedeutungslosigkeit herabsinken. Als Grenzgänger zwischen Mittelalter und Neuzeit gerät er in eine Verwirrung, die aufzulösen ihm zeitlebens nicht gelingt. Wann immer er sich über seine eigenen politischen Zielvorstellungen ausspricht, klingen diese durchaus vernünftig und maßvoll. Er widmet sich intensiv dem Prinzip der Gewaltenteilung und prägt sogar den Satz «Volkes Stimme ist Gottes Stimme» (den man eher Rousseau zuschreiben würde). Politische Freiheiten sind möglich und wünschenswert, wenn ein gewisses Maß an Tugendhaftigkeit im Volk vorausgesetzt werden kann. (Für den Fürsten hingegen wäre es ruinös, allzusehr auf Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit zu achten). In den «Discorsi» finden wir die so gar nicht ins macchiavellistische Klischee passende Bemerkung, das Volk sei in der Regel vernünftiger und zuverlässiger als der Adel. Streckenweise könnten die Ideen des liberalen Macchiavell von Montesquieu abgeschrieben sein. Die Zwangsläufigkeit emanzipatorischer Entwicklungen wird weder geleugnet noch eigentlich bedauert. Allerdings (und dies ist der typische Anachronismus) lautet die Konsequenz nicht, daß die Obrigkeit Machteinbußen in Kauf zu nehmen habe. Sie ist ganz im Gegenteil gefordert, kraft ihrer Klugheit und Geschicklichkeit ihre Machtstellung unter den veränderten Bedingungen zu behaupten, wofür jedes Mittel geeignet ist, das zum gewünschten Ziel führt. Hier spricht nun der anti-liberale, von der Fähigkeit des eisigen Kalküls überwältigte Macchiavell, der eine «Wissenschaft des Erfolgs» um seiner selbst willen kreiert. In dem berühmten Fürstenspiegel lesen wir: «Freilich ist es nötig, daß man ... in der Verstellung und Falschheit ein Meister sei. Der Fürst braucht nicht alle ... Tugenden zu besitzen, muß aber im Rufe davon stehen.» – Lord Russell hatte wohl recht, als er schrieb, die heutige Empörung über solche Sätze sei gewöhnlich reinste Heuchelei.
Bei aller Widersprüchlichkeit war Macchiavells Staatsphilosophie letztlich doch eine Rechtfertigung des unumschränkten Despotismus und eine große Bankrotterklärung in bezug auf die Ethik. Ein irgendwie konturierter Freiheitsbegriff ist (obwohl das Wort häufig, aber eben stets ganz unklar verwendet wird) nicht auffindbar. Was die Bedeutung des Werkes ausmacht, ist die Gleichsetzung von politischer und intellektueller Macht, durch die der Zusammenbruch der alten Ordnungen ungewollt vorgezeichnet wird. – In einem Punkt dachte Macchiavell freilich konsequent: Wenn der Herrscher über den Gesetzen steht, gibt es keinen Grund, warum er sich nicht auch über die Moral erheben sollte. Also erhebe er sich über die Moral!
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Grotius: Recht und Eigentum
Hugo Grotius (1583-1645) zieht aus demselben Gedanken den umgekehrten Schluß: Da nichts den Fürsten, der über dem Gesetz steht, zuverlässig an die Moral bindet, muß folglich der Fürst unter das Gesetz gestellt werden. Entgegen dem radikalen Positivismus Macchiavells vertritt der Niederländer eine Naturrechtslehre: Es gibt grundlegende Rechte, die vor aller weltlichen Macht immer schon waren. Gott hat uns die Vernunft verliehen, um sie zu erkennen, und das Gewissen, um sie zu befolgen. Hier tritt uns der Unterschied zum mittelalterlichen Denken besonders plastisch entgegen. Nicht die über den Priester vermittelten göttlichen Gebote sind ehernes Recht, sondern die Prinzipien der sozialen Vernunft. Diese ist von Gott. Der Freiheitsaspekt, der sich darin ausspricht, daß Gott dem Menschen nicht die Gesetze gibt, sondern die Fähigkeit, sie zu erkennen, ist kein geringer.
Nach Grotius ist der Gesetzgeber als positiv Rechtsetzender immer an natürliches Recht gebunden und im Falle der Zuwiderhandlung haftbar. Er verpflichtet sich, die Rechte des Einzelnen stets zu achten und zu schützen. Ähnlich wie bei Locke ist das hier gemeinte Privatrecht vorwiegend Eigentumsrecht. Als solches wird selbst das Recht auf Leben und Unversehrtheit behandelt, welches Grotius als einer der ersten proklamiert, aber in einem bemerkenswert materialistischen Sinne: Da alles Eigentum im Prinzip Handelsware ist, werden mit geradezu erschreckender Nüchternheit Situationen angeführt, wo der Mensch seine Selbstbestimmung einschließlich aller Rechte veräußern muß um den Gegenwert des nackten Lebens (z. B. Kriegssklaverei). Hier gerät Grotius offensichtlich in Konflikt mit seiner eigenen Lehre. Wir sehen wiederum, wie die von der Idee des Eigentums, der An-Eignung der Welt ausgehende Faszination so übermächtig ist, daß alles ihr begrifflich unterworfen und auf sie bezogen wird. Sogar der eigene Leib ist «privater Grundbesitz» (was sowohl Locke als auch Grotius gleichnishaft aussprechen).
Es sei hier nur angedeutet, daß uns diese übermäßige Betonung des Habens, bis hin zum eigenen Leib, auf eine merkwürdige Zwiespältigkeit der Seelenverfassung hinweist. Einerseits sind die Erkenntnistheorien geprägt von einem geradezu grobschlächtigen Materialismus bzw. Dualismus. Wie sich Kirche und Staat trennen, trennen sich Erkenntnis und Glaube. Für Locke etwa ist alles Innere nur Abspiegelung eines Äußeren. [18] Descartes' «Ich denke, also bin ich» findet staatsphilosophisch sein Pendant in dem «Ich habe, also bin ich» des Liberalismus. Alles Denken und Trachten wendet sich in extremer Form der Außenwelt zu. Aber noch etwas anderes kommt in Betracht: Die Daseinsempfindung, man «trage an sich» den Leib als eine Art Anhängsel, man verfüge über die Hände wie über Instrumente, man erweitere gewissermaßen seine Leiblichkeit durch arbeitende, umgestaltende Weltaneignung, verrät, wie stark der damalige Mensch sich erlebt als erwachend im eigenen, inneren Seelenraum, – von hier aus hinausblickend, hinausgreifend in die Naturreiche.
[die Drei, März 1987, Seite 176]
Gerade in dem Faszinosum «Eigentum» und darin, daß das Selbstbewußtsein sich ganz auf das Anhaftende stützt, zeigt sich ein starkes, wenn auch nur halbbewußtes Erlebnis der Hüllennatur. Das Ich erfährt sich in der Durchdringung seiner Umkleidungen, die es in Zusammenhang bringen mit der umgebenden Welt, aber es erfährt sich noch nicht in sich selbst.
Die Menschen der damaligen Zeit haben ein deutliches Gefühl für die Realität des Seelischen. Aus diesem Gefühlsgrund heraus erheben sich aber nun Gedankenformen, die gerade vom Seelischen fortstreben zum äußerlich-materiellen Sein hin, zur Natur hin. «Wir sehen, (wie der Mensch) durch den Geist die Natur erobern will, ... von der Seele aus die Natur erobern will», heißt es bei Rudolf Steiner über diesen Zeitraum des Überganges von der vierten zur fünften nachatlantischen Kulturepoche, und er fährt fort: «Wir sehen gewissermaßen, wie im Verlaufe der Zeit die Erkenntnis der menschlichen Gestalt, des menschlichen Ausdruckes von den Menschen erobert wird, wie vom Himmel aus die Erde in dieser Zeit erobert wird. Wir sehen dann, wie immer mehr und mehr, ich möchte sagen: in den Hintergrund tritt jene Vertiefung, die durch das christliche Prinzip eingetreten ist, und wie der Mensch nun in einer tieferen Weise als solcher verstanden werden sollte, indem man das Himmlische als einen Weg betrachtete, um fortzuschreiten, um das menschliche Innere, wie es sich ausdrückt, wie es sich durchprägt im menschlichen Äußeren und in dem, was sich an das menschliche Äußere im Zusammenleben anschließt, um das zum Ausdruck zu bringen.« [19]
Das Irdische «als einen Weg» zu betrachten, «um fortzuschreiten», von der Erde aus nun wiederum den Himmel zu erobern, ist die Aufgabe, die sich uns heute stellt im Anbruch des Zeitalters der individualistischen Ethik. Alles drängt danach, Sozialformen zu entwickeln, durch die «der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt». Ihr «Ideal wird die Herrschaftslosigkeit sein», so Steiner weiter, denn «der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig, ob auf absolutistische, konstitutionelle oder republikanische Weise». [20] Nur als ein Freier kann sich der Mensch, der vollständig und rückhaltlos auf der Erde «Fuß gefaßt» hat, wieder hinwenden zur geistigen Welt, nur als Individualität, die ihre sittlichen Maximen und Lebensziele in sich selbst findet, – in freiem Prüfen und Entscheiden gegenübertretend alledem, was an Regeln, Pflichten, Ge- und Verboten zur Grundlage des «contract social» wurde in jener Zeit, als die Rückverbindung (religio) abriß. Jetzt erfährt sich das Ich in sich selbst. In seinen individuellen Lebenszielen sieht der Mensch vor sich aufleuchten, was hinter ihm verblaßte. Es gibt keine Gebote, keine Pflichten mehr. Die Sittlichkeit existiert nur noch in ihrer reifsten Form des Handelns aus (Selbst-)Erkenntnis, und solches Handeln kann niemals «böses» Handeln sein. Was uns zum Bösen drängt, ist ja gerade das unerkannt in uns Wirkende.
[die Drei, März 1987, Seite 177]
Unter anderen wären Jean Bodin (1530-1596) und Samuel Pufendorf (1632-1694) im Sinne unserer speziellen Fragestellung und für den hier hauptsächlich ins Auge gefaßten Zeitraum noch von Interesse gewesen. Ihre Grundideen weichen jedoch von denjenigen der schon behandelten Philosophien im Kern kaum ab, so daß auf eine gesonderte Betrachtung verzichtet werden kann. Über Rousseau (1712-1778) habe ich mich an anderer Stelle ausführlich geäußert. [21] Im Rahmen einer ergänzenden Betrachtung [22] wird zu untersuchen sein, wie sich der von Rudolf Steiner im abschließend zitierten «soziologischen Grundgesetz» zusammengefaßte große emanzipatorische Prozeß fortsetzte im philosophischen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts, insofern es das Verhältnis Individualität–Gemeinschaft zum Gegenstand hat. Unser besonderes Augenmerk wird dann den anarchistischen Theoretikern des 19. und 20. Jahrhunderts gelten in ihrem Verhältnis zum dialektischen Materialismus auf der einen, der Philosophie des ethischen Individualismus (mit der Konsequenz der sozialen Dreigliederung) auf der anderen Seite.
»Die Menschheit strebt im Anfang der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.»
(Rudolf Steiner, «Soziologisches Grundgesetz»)
Literatur
Die wichtigsten Werke der hier behandelten Philosphen liegen als preiswerte Taschenbuchausgaben in Reclams Universal-Bibliothek vor, u. a.: Thomas Hobbes, «Leviathan»; John Locke, «Über die Regierung»; Jean Bodin, «Über den Staat»; Niccolo Macchiavell, «Gedanken über Politik und Staatsführung», «Der Fürst». Als ergänzende Lektüre sind zu empfehlen: Diether Lauenstein, «Das Ich und die Gesellschaft, Philosophische Soziologie», Verlag Freies Geistesleben; Wilhelm Zimmermann, «Der große deutsche Bauernkrieg», Verlag Das Europäische Buch; zu den kirchengeschichtlichen Hintergründen: Renate Riemeck, «Moskau und der Vatikan», Verlag Die Pforte.
Anmerkungen
[1] Hier wären zu nennen nach der einen Seite hin der marxistisch-leninistische Staatssozialismus, nach der anderen Seite hin z. B. der prophetisch übersteigerte Individual-Anarchismus eines Max Stirner («Der Einzige und sein Eigentum», 1845).
[2] «Die Philosophie des Rechtes», 1820, zitiert nach Lauenstein (siehe Literatur).
[3] Ernst von Aster, «Geschichte der Philosophie», Stuttgart 1963.
[4] Bertrand Russell, «Die Philosophie des Abendlandes», Zürich 1950.
[5] Rudolf Steiner: «Denken Sie doch nur einmal, daß das Christentum (damals) selbst unter den Päpsten solche gesehen hat, von denen man wahrhaftig nicht sagen kann, daß sie auch nur den allerprimitivsten Ansprüchen an das, was man ... Moral nennt, genügten» (GA 292). Ein Beispiel war der von Macchiavell gefeierte Alexander VI.
[6] Wir begegnen der Idee des «Vertrages» schon bei Thomas von Aquin. Regelrecht ausgearbeitet hat sie zuerst nicht Rousseau, wie vielfach angenommen wird, sondern Grotius.
[7] Der Existentialismus z. B. Sartres kann insofern als «post-nihilistisch» bezeichnet werden, als der Materialismus bzw. Atheismus mit solcher Radikalität zu Ende geführt wird, daß, wenn überhaupt weitergedacht wird, der nächste Gedanke nur ein grenzüberschreitender sein kann. Sartre kurz vor seinem Tod: «Mein Modell erklärt eines nicht: Woher kommt die Hoffnung?» Vgl. H. Köhler, «Auf der metaphysischen Ebene gescheitert» (Zitat Sartre über sich selbst); in: «Neue Politik» 5/1981.
[8] Vgl. Henning Köhler, «Und da war noch ein Geräusch, das meines Lebens ...»; in: «Info 3» 5/1986.
[9] Vgl. Fußnote 7.
[10] Vgl. hierzu Rudolf Steiner, «Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse» (GA 292).
[11] Johanno Strasser in «Psychologie heute» 5/1986.
[12] Das Prinzip der Gewaltenteilung ist keineswegs eine Erfindung Montesquieus, sondern beschäftigte schon Macchiavell und fast alle Staatsphilosophen der Aufklärung.
[13] Diese Auffassung, auch als «Adam-Theorie» bekannt, vertrat vor allem Sir Robert Filmer, der in seinem 1680 erschienenen «The natural power of the kings» den König als direkten Erbe Adams bezeichnete.
[14] Wenn hier von «Hauptesregion» die Rede ist, darf dies nicht mit der Fähigkeit zum abstrakt-logischen Denken verwechselt werden. Wir wissen aus der Menschenkunde, daß das Vorstellungsleben zunächst reinen Bild-Charakter hat und sich erst dadurch zur Abstraktionsfähigkeit fortentwickelt, daß die Kräfte des Gliedmaßenmenschen zum Haupt hinaufströmen.
[15] Vgl. Henning Köhler, «Die Liebe zum Toten»; in «Info 3, 7-8/1986.
[16] Vgl. Rudolf Steiner, «Psychologie», 3. Vortrag, 3. 11. 1910 (GA 115).
[17] Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» (GA 2).
[18] «Indem Locke nicht ... in dem Ich selbst den Stützpunkt für eine Weltanschauung sehen kann, kommt er zu Vorstellungen, welche nicht geeignet erscheinen, eine solche zu begründen» (R. Steiner, «Die Räsel der Philosophie», 1. Band; GA 18).
[19] Vgl. Fußnote 10.
[20] In: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte (GA 31).
[21] Henning Köhler, «Zum Demokratiebegriff bei Rousseau und Steiner»; in «Info 3», 10/1985.
[22] Der vorliegende Aufsatz wird in einer späteren Nummer dieser Zeitschrift unter dem Aspekt «Ethischer Individualismus und Anarchismus» fortgesetzt.
[die Drei, März 1987, Seite 178]
Für den Druck überarbeitete und verschiedentlich ergänzte Fassung eines Vortrags, den der Autor an der Freien Bildungsstätte der Novalis-Bühne, Stuttgart, am 10.06.1986 unter dem Titel: «Demokratie und Freiheit, der soziale Urkonflikt» gehalten hat.