Einheitsstaat und individuelle Freiheit – Zum Demokratiebegriff bei Rousseau und Steiner

01.10.1985

Quelle
Zeitschrift „Info3“
10/1985, Oktober 1985, S. 17–23
Bibliographische Notiz

Gegenwärtig hat die Frage der direkten Demokratie bzw. der Erweiterung unserer Verfassung um ein Volksabstimmungsgesetz einige öffentliche Resonanz. Eine Anzahl von Menschen, die sich dem anthroposophischen Sozialimpuls verpflichtet fühlen, treten hierfür mit besonderem Nachdruck ein und haben sich als ‹Aktion Volksentscheid› formiert. In den anthroposophisch orientierten Zeitschriften «Die Drei» und «Info3» wurde das Für und Wider der Initiative mehrfach thematisiert (Heidt, Hasen-Müller, Lindenberg, Lang in «Die Drei». Heidt, Hasen-Müller, Klipstein, Schlegel, Köhler in «Info3»), und hierbei tauchte immer wieder der Name des Philosophen und Staatsrechtlers Jean Jacques Rousseau (1712 – 1778) auf, der dem Begriff der Volkssouveränität in der Staatsphilosophie Geltung verschafft hat wie kein zweiter vor ihm.

Da es, wo immer sich aus der Anthroposophie heraus öffentliche Wirksamkeit entfaltet, darauf ankommt, den Begriffen, die man verwendet, auf den Grund zu gehen und das Originäre der anthroposophischen Anschauungsart gegenüber manchem sich verbal ähnlich Ausnehmenden deutlich zu machen, sollte Umsicht walten beim Zitieren anderer Denker im Zusammenhang mit Steiner insofern, als man Übereinstimmungen per Zitat nur dort unterstellen darf, wo man sich vergewissert hat, ob sie auch tatsächlich bestehen. Aus diesem Grunde soll hier untersucht werden, ob der von Rousseau in seinem Staatsrechtsentwurf ‹Du Contract Social› eingeführte und nunmehr des öfteren herangezogene Begriff des «Gemeinwillens» (Volonté générale) eine Vorwegnahme dessen ist, was Steiner als den «demokratischen Untergrund des Rechtsstaates» beschreibt, «der es zu tun hat mit dem, was alle Menschen in gleicher Art berührt» [1] und funktionell abgegrenzt wird gegenüber der «Wirtschaftsorganisation» und dem «Geistgebiet». Eng im Zusammenhang mit dieser Frage nötigt sich sofort die zweite auf, ob bei Rousseau eine entsprechende Gliederung auffindbar ist oder ob ihn als Kind seiner Zeit «seine Denkgewohnheit dazu bringt, den sozialen Organismus als ein einheitliches Gebilde aufzufassen», was, wie Steiner betont, den «Blick auf Dinge (lenkt), die erst in zweiter Linie... in Betracht kommen». [2] Wie hält es Rousseau namentlich mit dem Verhältnis von liberté und égalité? –

Es gilt an diesem Punkt festzuhalten, daß Steiners Hauptaugenmerk der Bekämpfung der Einheitsstaatsidee galt und sein Demokratieverständnis nur so im rechten Licht erscheint, d.h. also, daß, wenn sich Rousseau als Theoretiker des Einheitsstaates erwiese, scheinbar gleichlautende Äußerungen über das Wesen der Demokratie eben nur dem Scheine nach gleich wären. – Wir können die Grundlinien der sozialen Dreigliederung hier nicht in Einzelheiten entwickeln und setzen ihre Kenntnis voraus. Halten wir fest, daß aus einer Phänomenologie des Menschen und seiner gesellschaftlichen Begegnungsfelder methodische Konsequenzen hinsichtlich der Handhabung sozialer Prozesse gezogen werden, deren eine und für unser Thema bedeutsamste nachdrücklich verlangt, dort, wo wir in unseren Bestrebungen natürlicherweise Teilnehmer einer je allgemeinen Strebensrichtung sind (die, mit Rousseau, umso reiner hervortritt, je weniger die Individualität ihr Eigeninteresse zur Geltung bringt bzw. rivalisierende Interessengruppen hervortreten, vgl. ‹Contract Social› 1. Buch, 6. Kap./ 2. Buch, 3. Kap.), daß in diesem Bereich also fundamental andere Gestaltungsrichtlinien anzuwenden sind als dort, wo man es «zu tun hat mit all dem, was hervorsprießen muß und eingegliedert werden muß in den sozialen Organismus aus der einzelnen menschlichen Individualität heraus». [3] In diesem Bereich des Geisteslebens sind Einrichtungen so zu treffen, daß in ihnen gerade nicht ein Gemeinwille wirksam wird, sondern vielmehr «jedes Individuum seine besonderen Zwecke» verfolgen kann, [4] während das Prinzip der ‹rivalisierenden Interessengruppen› als gesundes Wettbewerbswesen innerhalb einer selbstverwalteten (assoziativen) Wirtschaft seinen angemessenen Platz fände. Hier wie dort setzt das durch Mehrheit gefundene Recht Rahmenrichtlinien im Sinne menschenwürdiger Verkehrsformen. – Mit dieser, hier nur grob umrissenen und, wie wir wissen, im Detail sehr problembeladen, differenzierenden Anschauungsart steht und fällt die soziale Dreigliederung, und ähnlich ist ihr nur, was in die Richtung einer solchen Differenzierung weist. Durchaus unähnlich sind ihr alle Bestrebungen, einen Teil des dreigegliederten Gesamtorganismus zur höchsten Instanz aufzublähen.

Die Schwierigkeit bei Rousseau besteht darin, daß die verschiedensten politischen Glaubensbekenntnisse etwas für sie oder gegen den jeweiligen Gegner Verwertbares in seinen Schriften, namentlich im ‹Gesellschaftsvertrag›, finden konnten. Es gibt Äußerungen, die zur ideologischen Rechtfertigung ‹volksdemokratischer› Parteidiktaturen bestens geeignet sind (tatsächlich hat sich etwa Friedrich Engels mit außerordentlicher Hochachtung und recht häufig über Rousseau geäußert), dann wiederum Aussagen, die jene relativieren oder gar außer Kraft zu setzen scheinen und in das Zitatenarsenal eines modernen Radikaldemokraten passen würden. Heute taucht dann eben bezeichnenderweise der Name Rousseau im Zusammenhang mit den basisdemokratischen Zielen einer dem Spektrum der Friedensbewe-

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gung zuzurechnenden Gruppierung wie der Achberger ‹Aktion Volksentscheid› auf, während andererseits Frankreichs ‹Neue Philosophen› für ihren abgrundtiefen Kulturpessimismus, ihre Abschreckungslogik und Obrigkeitsloyalität die «Miasmen der Erleuchtung» (Levy) eines gewissen erst jetzt, von ihnen, wirklich verstandenen Genfer Philosophen reklamieren. Wer behauptet, die Nebel gelichtet und den wahren Rousseau endlich entdeckt zu haben, hat eben zumeist ein Interesse daran, ihn im Dienste irgendeiner Sache zu funktionalisieren, und mein persönlicher Eindruck ist seit langem der, daß der Dunst nicht unbedingt von den Interpreten erzeugt wird, sondern eben tatsächlich das Werk umgibt. Es sind Phänomene, die für sich sprechen, daß ein Geist wie Schiller zumindest zeitweise stark an Rousseau orientiert war und zugleich ein Robespierre ihn als seinen direkten politischen Ziehvater ansah. Wie auch immer: Wenn während der deutschen Revolution 1848 das geflügelte Wort für gewisse Kräfte, die man heute stalinistisch nennen würde, «Rousseau-Robespierresche Fraktion» lautete, so ist dies eine nicht ohne weiteres wegdiskutierbare Erscheinung, die beim Entwurf eines einigermaßen kompletten Rousseau-Bildes zumindest berücksichtigt werden sollte, ohne daß man es gleich mit Bertrand Russell halten muß, der ihn auf die Robespierrsche Auslegung reduzierte, d.h. gemäß der mit Abstand verbreitetsten Schule der Rousseau-Forschung als Theoretiker des Totalitarismus einstufte.

Unsere Aufgabe kann nicht darin bestehen, im Rousseau-Streit eine der bekannten Positionen einzunehmen. Wir haben durch die soziale Dreigliederung methodische Richtlinien, um zu prüfen, ob in den zweifellos mit edelster Absicht formulierten Gedanken des ‹Contract Social› etwas enthalten ist, was die Vereinnahmung durch den Totalitarismus begünstigte, wobei der anthropologisch-philosophische Hintergrund im Auge behalten und verglichen werden muß mit demjenigen des anthroposophischen Sozialimpulses. Die Betrachtungen laufen auf eine, natürlich auch hier wieder nur provisorische, Beantwortung der Frage hinaus, ob sich die Gedanken Rousseaus und Steiners in Hinsicht auf den Demokratiebegriff decken.

Was hierbei zunächst in Betracht kommt, ist der Umstand, daß schon die Abfassung des ‹Contract Social› als solche eine merkwürdige Inkonsequenz in Rousseaus Schaffen darstellt – eine Inkonsequenz, in deren versuchter Bewältigung vielleicht gerade ein Hauptgrund für das tragische Schicksal dieser Schrift liegt. Die Kulisse für den Gesellschaftsvertrag bilden jene zwei ‹Diskurse› von 1750/55 (bekannt als «Schriften zur Kulturkritik»), wo Rousseau als Credo formuliert, daß «der Mensch von Natur gut und nur durch die Gesetze schlecht geworden ist», aber auch durch Wissenschaft, Literatur und Kunst, welche dazu geeignet sind, das größte aller Übel hervorzurufen: Private Bedürfnisse und somit Sonderinteressen. Alle kulturellen Errungenschaften bzw. Fähigkeiten sind getarnte egoistische Antriebe. Als Leitbild für eine hinreichende Staatsverfassung (um eine gute zu schaffen, ist die Verderbnis zu weit fortgeschritten) gilt der Mensch im ursprünglichen Naturzustand der reinen Güte und kulturellen Bedürfnislosigkeit, «den es nicht mehr gibt, ... von dem man sich aber trotzdem die richtige Vorstellung machen muß, wenn man unseren gegenwärtigen Zustand recht beurteilen will».

Abschaffung privater Bedürfnisse

Als Rousseau 1762 den ‹Contract Social› veröffentlicht, muß er als Staatsrechts-Theoretiker das schwierige Erbe seiner eigenen radikalen Staatsfeindlichkeit antreten, wobei er unter ‹Staat› nirgends einen eingeschränkten Bereich versteht, sondern immer das Ganze des sozialen Gefüges, [5] das mit zunehmender Einheitlichkeit gesünder, mit zunehmender Differenzierung kränker werde. Im Versuch der Integration seiner anthropologischen Grundsätze in den Staatsrechtsentwurf muß Rousseau die Frage aufwerfen, wie durch größtmögliche Einfachheit der Strukturen bei gleichzeitiger Ausschaltung der Despotie (durch welche der Staat zwar einfach zu sein scheint, aber in Wirklichkeit «den Zusammenhalt verliert», weil die «Entfernung zwischen Fürst und Untertanen» mangels «vermittelnder Ordnungen» zu groß wird; 3. Buch, 6. Kap.) eine Als-ob-Form des eigentlich erstrebenswerten, aber unerreichbaren Zustands der natürlichen Einmütigkeit hergestellt werden könne. «In diesem Zustand sind alle Triebkräfte des Staates gesund und einfach, seine Grundsätze sind klar und einleuchtend, es gibt keine verwickelten, widersprüchlichen Interessen, das Gemeinwohl ist immer offenbar, und man braucht nur gesunden Menschenverstand, um es wahrzunehmen» (4.Büch, 1. Kap.), wobei, «wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingt, frei zu sein» (1.Buch, 7. Kap.). Und wenn es der Körperschaft [6] beliebt, zu entscheiden, der Unbotmäßige könne nur durch seinen Tod zur Freiheit gezwungen werden, so «muß er sterben; denn ... sein Leben ist nicht mehr nur eine Gabe der Natur, sondern ein bedingtes Geschenk des Staates» (2. Buch, 5. Kap).

Natürlich erhebt sich hier sogleich die Frage, ob es nun in dem nach Rousseaus Grundsätzen verfaßten Staat «verwickelte, widersprüchliche Interessen» gibt oder nicht. Gäbe es sie nicht, wie oben behauptet, würde die notfalls mit dem Tode zu bestrafende Widersetzlichkeit kaum in nennenswertem Ausmaß auftreten. Und man müßte sich wundern, mit welcher Vehemenz, ja Unbarmherzigkeit Rousseau den hartnäckigen Verfechtern irgendwelcher gegen den Mehrheitswillen gerichteter Bestrebungen geradezu das Existenzrecht abspricht. In diesem Punkt weist der ‹Contract Social› offenkundige Argumentationsbrüche auf. Einmal wird das Blühen der Sonderinteressen als Kennzeichen einer schlechten Staatsform beschrieben, welcher Rousseau die seinige entgegensetzt (4 .Buch, 2. Kap.) und als eine Art Gesetz formuliert: «Je besser der Staat verfaßt ist, desto mehr überwiegen im Herzen der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten die privaten» (3 . Buch, 15. Kap.). Bemerkenswert ist diese Ansicht übrigens im Hinblick auf R. Steiners Ausführungen vom Dezember 1918 über «Soziale und antisoziale Triebe im Menschen», namentlich über die Realitätsferne solcher Theorien, die auf dem Wege der Sozialisierung die antisozialen Triebe, «durch die der Mensch sich auf die Spitze seiner eigenen Persönlichkeit stellt», bekämpfen wollen. Ich komme noch darauf zurück.

Das andere Mal stellt Rousseau für den gemäß seiner Utopie bestmöglich verfaßten Staat, in welchem «der Souverän ... , allein weil er ist, immer alles (ist), was er sein soll» und somit «niemanden ... schaden kann», überraschenderweise fest, daß «trotz des gemeinsamen Interesses» nichts die Loyalität des Untertan gegenüber dem Souverän verbürge (also auch nicht das Überwiegen des öffentlichen Interesses im Herzen), «wenn er nicht Mittel fände, sich ihrer Treue zu versichern». (1. Buch, 7. Kap.) Gemeint sind Mittel der Gewalt bzw. der zwangsweisen Ausgrenzung gegen solche, die sich einem Mehrheitsbeschluß trotz anderer Meinung nicht gehorsam beugen. (Andere Meinung immerhin ist gestattet; die Bildung einer Interessengemeinschaft, um derselben Gehör zu verschaffen, bereits nicht mehr, denn solche Vereinigungen «zeigen ... den Niedergang des Staates an», 4. Buch, 2. Kap.) Man beachte, daß es sich nicht nur um die Forderung handelt, Minderheiten müßten die von der Mehrheit bestimmten Gesetze (bei Angelegenheiten, die Eile erfordern, genügt die Mehrheit einer Stimme) befolgen, sondern es wird darüber hinaus die Eliminierung widersetzlicher Strömungen im Geistesleben angestrebt, denn «lange Debatten ... , Meinungsverschiedenheiten, Unruhe zeigen das Emporkommen der Sonderinteressen ... an» und sind daher von Übel. Nach Rousseaus Terminologie wird damit aber keineswegs Freiheit eingeschränkt, denn «die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes» (1. Buch, 6. Kap.) ist Freiheit im bürgerlichen Stand: «Der beständige Wille

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aller Glieder des Staates ist der Gemeinwille; durch ihn sind sie Bürger und frei» ( 4. Buch, 2. Kap.). Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dies sei irgendwie in einem eingeschränkten Sinne gemeint. Es handelt sich vielmehr darum, «sozusagen die menschliche Natur zu ändern». Lenin dürfte mit Vergnügen gelesen haben, daß es darauf ankommt, «jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln», kurzum ihm «die ihm eigenen Kräfte (zu rauben), um ihm fremde zu geben, von denen er nur mit Hilfe anderer Gebrauch machen kann». (2. Buch, 7. Kap.). Dies ist, nach Rousseau, die erzieherische Aufgabe eines Staatsgründers, der Ruhe im Haus haben will und nicht «lange Debatten». Unter anderem ist diese Erziehungsaufgabe natürlich auch eine Aufklärungsaufgabe, denn «wie soll eine verblendete Menge, die oft nicht weiß, was sie will, weil sie nur selten weiß, was ihr zum Guten gereicht, durch sich selbst ein derart großes, derart schwieriges Unternehmen ausführen, wie ein System der Gesetzgebung ist?» (2. Buch, 6. Kap).

Schöpferische Unruhe als Klärungsprozeß im Vorfeld des demokratischen Aktes kommt, wie wir gesehen haben, nicht in Frage. Die bis heute verfemte und immer wieder schon im Aufkommen erstickte Idee, daß gerade freies Geistesleben mit allen äußeren Turbulenzen, die es zunächst entfacht, eine Menschengemeinschaft nach oben hin für Einschläge der sittlichen Vernunft öffnet, ist Rousseau unbekannt. [7] Charakteristisch für sein System ist jene Verabsolutierung des Gleichheitsidesals, die den vollkommensten Zustand erreicht sieht, wenn es im Staat keine Öffentlichkeit für Sonderbestrebungen und Meinungsgegensätze mehr gibt, keine «Teilgesellschaften» (2. Buch, 3. Kap.), die sich etwa aus dem Zweifel an der Gleichung Mehrheit = Wahrheit bilden, keinen gelebten Individualismus (Rousseau kann das Individuum, das «vollendete und für sich bestehende Ganze», nur als das seinen ursprünglichen Trieben und Leidenschaften unterworfen denken), so daß «kein Bürger mehr etwas ist oder vermag außer durch alle anderen» (2. Buch, 7. Kap.). Wie also soll aus der «verblendeten Menge» die gesetzgebende Körperschaft werden? [8]

Erziehungsdiktatur

Wir haben schon gesehen, daß der ‹Contract Social› auf einer Umerziehungsidee basiert. Der «instituer (das ist, der «sich daran wagt, ein Volk zu errichten», 2. Buch, 7. Kap.) muß sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern». Rousseau kommt auf den philosophischen circulus vitiosus zu sprechen, der allen Sozialutopien als logisch unlösbare Schwierigkeit anhaftet, [9] wonach ein Volk schon vor der Errichtung der gewünschten Staatsform sein müßte, was es durch sie werden soll. Sein Versuch, diese Schwierigkeit zu bewältigen, besteht in einer komplizierten intellektuellen Konstruktion. Es wird eine zur sittlichen Erziehung des Volkes ermächtigte Instanz angenommen, ein «Mann im Staat», der den Namen «Gesetzgeber» trägt und durch die «erhabene Vernunft, die sich über das Fassungsvermögen der gewöhnlichen Menschen erhebt», inspiriert ist. Interessant und für Rousseaus Kernanliegen (nämlich die Idee der von Gott eingesetzten Autorität zu untergraben) typisch ist die Wendung, daß nicht die Götter durch «die große Seele des Gesetzgebers» sprechen, sondern umgekehrt er seine Eingebungen «den Unsterblichen in den Mund legt, um durch göttlichen Machtspruch diejenigen mitzureißen, die menschliche Klugheit nicht zu bewegen vermöchte». So nimmt er, um das Volk davon zu überzeugen, daß kraft höheren Ratschlußes schon sei, was in Freiheit errungen werden soll, «Zuflucht zu einer Autorität anderer Ordnung» und steht damit außerhalb der Verfassung, denn innerhalb der Verfassung ist der Gesetzgeber der Souverän, d.h. alle. (So erklärt sich die zunächst verwirrende Doppelbedeutung des Terminus ‹Gesetzgeber›). Kompliziert wird die Sache dadurch, daß der «Instituer», um den Gesellschaftsvertrag ins Werk zu setzen, eine Macht benötigt, die gemäß den Grundsätzen des Vertrags «nichts ist» (2. Buch, 7. Kap., ebenso alle oben nicht bezeichneten Zitate), aber durchaus doch wirksam werden muß. Denn woraus «entsteht die Notwendigkeit eines Gesetzgebers», der realiter dem Souverän als sein Bildner übergeordnet, idealiter ihm gegenüber ein Niemand ist? Aus der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur. «Die Einzelnen sehen das Gute und weisen es zurück. Die Öffentlichkeit will das Gute und sieht es nicht. Beide bedürfen gleicherweise der Führung. Die einen müssen gezwungen werden, ihren Willen der Vernunft anzupassen, die andere muß erkennen lernen, was sie will. Dann führt die öffentliche Aufklärung die Einheit von Urteilskraft und Wille im Gemeinschaftskörper herbei, was das reibungslose Zusammenspiel der Kräfte und schließlich die höchste Kraft des Ganzen ergibt. Daraus entsteht die Notwendigkeit eines Gesetzgebers» (2. Buch, 6. Kap. ). Denkt man diesen Begriff von öffentlicher Aufklärung zusammen mit der strengen Verurteilung der öffenlichen Auseinandersetzung und dem Erziehungsziel des sozialisierten Menschen, so darf man sich, auch wenn man Rousseau ganz anders verstehen will und dafür gutes Zitatenmaterial gefunden hat, nicht darüber wundern, daß ein Robespierre den ‹Contract Social› im ideologischen Rüstzeug trug. Verfechter einer sozialistischen Erziehungsdiktatur, die davon ausgehen, man müsse ein Volk erst dazu reif machen, sich selbst zu regieren und zu diesem Zweck namentlich das Unwesen politischer Minderheiten ausmerzen, haben keine Schwieigkeit, insbesondere in Kap. 7/8, 2. Buch die ihnen willkommenen Grundsätze aufzuspüren – bis hin zum Gulag, der allerdings bei Rousseau noch Galeere hieß und vorgesehen ist für Menschen, die sich Gesetzen, denen sie nicht zugestimmt haben, auch nicht zu unterwerfen gedenken. Nicht explizit auf gewöhnliche Verbrecher (und schon hier wäre die Sache nach heutigen Maßstäben unannehmbar), sondern auf Minderheiten, die in einer Abstimmungsniederlage nicht den Beweis für die Unrichtigkeit ihrer Positionen erblicken können (für Rousseau ist dies der Beweis, weil nach seinem nicht gerade durch Differenziertheit bestechenden Strickmuster der Gemeinwille erstens a priori in Kraft und zweitens mit dem freien Einzelwillen identisch ist, weshalb er stets von der Mehrheit er-, von der Minderheit hingegen verkannt wird), bezieht sich die herzlich unphilosophische Fußnote: «In Genua liest man über den Gefängnistoren und auf den Ketten der Galeerensträflinge dies Wort «libertas». Diese Anwendung des Leitwortes ist schön und gerecht. In der Tat sind es nur die Bösewichter jeder Art, die den Bürger daran hindern, frei zu sein. In einem Land, wo dieses ganze Gelichter auf den Galeeren wäre, würde man sich der vollkommensten Freiheit erfreuen.» (4. Buch, 2. Kap.)

Eine dem heutigen Bewußtsein angemessene und zugleich die eigentliche (Rousseau unbekannte) Schwierigkeit der Demokratiefrage im Lichte der individuellen Freiheit eröffnende These lautet : «In Fragen des Gewissens zählen Mehrheiten nicht.» (Gandhi) Das Dilemma, welches sich ergibt aus der Gültigkeit dieses Satzes einerseits, der Unvermeidlichkeit eines auf dem Mehrheiten-Prinzip beruhenden Rechtslebens andererseits, kann nur durch die soziale Dreigliederung gelöst werden. Soziale Dreigliederung bereitet sich überall dort vor, wo eine deutliche Sprache gesprochen wird in bezug auf die Grenzen des Staates, d.h. aber in heutiger Zeitlage, wo die Grenzen der Zuständigkeit von Mehrheiten aufgezeigt werden, die gegenüber der Individualität als freier Person (Fähigkeitenträgerin) und Ereignisort für zukunftsweisende Rechtsideen (moralische Intuition) bestehen. Hierüber verliert Rousseau kein Wort. Auch ihm geht es nur sekundär um die spezielle Staatsform, aber sein übergeordnetes Anliegen ist nicht, wie bei Steiner, der im Namen der Freiheit reduzierte, sondern der möglichst starke Staaat, «denn nur die Stärke des Staates macht die Freiheit seiner Glieder aus.» (2. Buch, 12 Kap.)

Gleichheit statt Freiheit

Wenn Rousseau, nachdem er die volkspädagogische Aufgabe umrissen hat, die «man» im Sinne einer Umwandlung der menschlichen Natur zu leisten hat, einerseits hervorhebt, die «Vertreibung der Tyrannen» sei ein einmaliger, nicht wiederholbarer Vorgang, und fürderhin benötige das Volk «einen Herren und keinen Befreier», und andererseits erklärt, es gäbe «für Menschen wie für Nationen eine Zeit der Reife, die man abwarten muß, bevor man sie Gesetzen unterwerfen kann» (2. Buch, Kap. 7/8), so ist es nötig, genau zu lesen: ‹Ein Volk Gesetzen unterwerfen› bedeutet in Rousseaus Terminologie, es zu seinem eigenen Herrn und Gesetzgeber machen. Ehe dies nach einer Revolution oder Staatsneugründung geschehen kann, muß «man» abwarten, Zuflucht zu einer höheren Ordnung suchen, die Natur des Menschen ändern und zwecks größeren Nachdrucks den Un-

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sterblichen in den Mund legen, was «man» als den apriorischen Willen des Souveräns noch vor diesem selbst erkannt hat. Wer aber ist hier «man». [10]

Halten wir einige Kernpunkte fest, ohne uns ein abschliessendes Urteil anzumaßen:

  • Der ‹Contract Social› basiert auf einer Umerziehungsidee und hat deshalb den Charakter einer Ideologie.
  • Rousseau geht von der, zumindest für den heutigen Stand unserer Einsicht, gröbstens vereinfachenden menschenkundlichen Voraussetzung aus, eine Einzelmeinung, die von der Mehrheitsmeinung abweiche, beweise nur, daß der betreffende Mensch seinen wahren Willen nicht kenne. Minderheiten treten nur als Abstimmungsmasse in Erscheinung. Konstituieren sie sich als Interessengemeinschaften, etwa um Aufklärungsarbeit für ihre Ziele zu leisten, torpedieren sie den Gemeinwillen, der durch «Teilgesellschaften» entstellt wird.
  • Es besteht keinerlei geistesgeschichtliches Verständnis für das Phänomen der Vereinzelung, der ‹babylonischen Sprachverwirrung›, ja des Egoismus als Durchgang zur individuellen Freiheit. Der Weg führt über eine Zersplitterung in gesellschaftliche Gruppen, die ihre Kollektivegoismen gegeneinander abgrenzen und Rechts-Anwaltschaften für ihre Mitglieder bilden (in der juristischen Regelung dieser Verhältnisse nimmt, noch ehe ‹die Würde des Einzelnen› ins Zentrum rückt, das Rechtsstaats-Prinzip seinen Anfang), hin zu jenem Zustand, in welchem «jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt» im Hinblick auf das Gesamtwohl (2. Buch, 3. Kap.). Natürlich hat der ‹Contract Social› in diesem Punkt einen visionären Zug. Rousseau ahnt irgendwie die mögliche Verbindung von Individualismus und Altruismus, setzt diese jedoch ohne Umschweife als axiomatische Gleichung voraus, ohne die Begriffe unter einem Entwicklungsgesichtspunkt herauszuarbeiten. So erscheint der individuelle Mensch bei ihm als der von seinen Trieben und Leidenschaften bestimmte, nur seiner «Natur» gehorchende, während Freiheit «völlige Selbstentäußerung» bedeutet. Es ist klar, daß alle Überlegungen zu Freiheit und Individualität unter dieser Voraussetzung falsch werden müssen (vgl. insbes. Kap. 6/7, 1. Buch). Eine wirkliche geistesgeschichtliche Perspektive hingegen zeigt, wie der Weg von den ursprünglichen Gemeinschaften des mythischen Bewußtseins über den Pluralismus der Verbände bzw. gesellschaftlichen Untergruppierungen mit ihren Kollektivegoismen dann zunächst zum Einzelegoismus führt, und daß ohne den Durchgang durch dieses Nadelöhr die neue sittliche Gemeinschaft nicht entstehen wird, es sei den als erzwungene.
  • Indem das Individuum zunehmend sich selbst als «vollendetes und für sich bestehendes Ganzes» (Rousseau) entdeckt und subjektive Rechtsansprüche entwickelt, d.h. seine Persönlichkeit gegen die Belange des Gemeinwesens aufrechtzuerhalten bestrebt ist, kommen die «antisozialen Triebe» herauf, und das neuzeitliche Recht erhält sein Gepräge durch den Egoismus, insofern es als allgemeines Menschenrecht den Einzelnen und seine Privatinteressen zum Gegenstand hat. Dies ist eine große, wenn auch nicht letztgültige Errungenschaft, deren Heraufkommen Rousseau sah und verhindern wollte. Es ist nun im Hinblick auf unsere Ausgangsfrage von entscheidender Bedeutung, festzuhalten, daß Rousseau für wünschenswert, ja erforderlich hielt, was Steiner «einen ganz gewöhnlichen Unsinn» nannte: Die Aussschaltung der antisozialen Triebe, welche «nach der ganz gewöhnlichen Entwicklungstendenz der Menschheit gerade das Innere des Menschen in unserer Zeit ergreifen.» (Steiner, [11])
  • Wir finden die strukturellen Konsequenzen, die sich aus dieser menschenkundlichen Einsicht ergeben, im Entwurf der sozialen Dreigliederung wieder. Es gibt nichts, was in den entsprechenden Schriften und Vorträgen häufiger betont wird als die Notwendigkeit eines von Staat und Wirtschaft unabhängigen Geisteslebens, [12] innerhalb dessen der Mensch diejenigen Kräfte betätigen kann, durch welche er, indem sie «innen (als) antisoziale Triebe wirken, ... die Höhe seiner Entwicklung errreicht» (Steiner), jene Kräfte also, die ihm nach Rousseau, wörtlich, «geraubt» werden sollen (2. Buch, 7. Kap.). Steiner hat ja die Dreigliederung, was häufig verkannt wird, durchaus nicht idealistisch oder utopistisch, sondern ganz praktisch aufgefaßt, d.h. sein Freiheitsbegriff im sozialen Kontext bezieht sich nicht auf irgendeinen edlen Zukunftsmenschen, sondern auf die egozentrische, nach ‹Selbstverwirklichung› drängende, moderne Persönlichkeit, die sich durch kollektive Verbindlichkeiten in ihrem Eigensein eher bedroht als geschützt fühlt. Trägt die gesellschaftliche Struktur dieser Entwicklungstatsache nicht Rechnung, indem sie dem «antisozialen Menschen» gegenüber dem, was gemeinschaftlich geregelt werden muß, keinen Lebensraum zugesteht, kann nur Knechtschaft oder Revolution die Folge sein. Für den heutigen Menschen auf der Höhe seiner Zeit ist Demokratie überhaupt nur erträglich, wenn er sich ihr in seinem Innersten enthoben fühlen kann. [13] Niemals mehr kann der sich entwickelnde Staat vernünftigerweise eine Form erhalten, als ob die Bindung des Rechts an die ‹Privatperson› nicht stattgefunden hätte. Post-bürgerliche Rechtsgestaltungen sind nur als Weiterentwicklung der bürgerlichen denkbar, niemals als Revision derselben. Rousseaus Rechtslehre aber ist aus heutiger Sicht revisionistisch, nämlich prä-bürgerlich. Sie setzt einen nirgends vorhandenen und auch nicht herstellbaren Menschen voraus – einen Zustand, in welchem die Mitglieder einer Menschengemeinschaft «nur einen einzigen Willen haben, der sich auf die gemeinsame Erhaltung und auf das allgemeine Wohlergehen bezieht» (4. Buch, 1. Kap.).
  • Eine Demokratie, die, um zu funktionieren, total sein und den Menschen bis in sein Innerstes ergreifen müßte, ist etwas vollkommen anderes als eine solche, die den freien Einzelnen als die Quelle betrachtet, aus der sie «den Zufluß aus dem Geistesleben, den sie (braucht)», erhält. [14] Man darf sich nicht täuschen lassen, wenn Rousseau den Marquis d'Argenson zitiert («In einer Republik ist jeder vollkommen frei in dem, was den anderen nicht schadet») und dies als die «unveränderliche Grenze» der gesetzgebenden Gewalt bezeichnet (4. Buch, 8. Kap.). Hier ist nicht mehr als eine verschwommene Privatheit gemeint, die übrigbleibt nach Abzug aller «Ansichten, (die) für das Gemeinwesen erheblich sind» (ebd.). Fragen des religiösen Bekenntnisses beispielsweise fallen nicht in ihren Bereich (ebd.). Sittlichkeit und Moral sind Resultate der Gesetzgebung und durch nichts mehr aufrechtzuerhalten, «wenn es die Gesetze nicht mehr vermögen» (4. Buch, 7. Kap). Die freie Persönlichkeit ist dort, wo sie ihren Willen oder ihr Dafürhalten auf öffentliche Belange richtet, schädlich, sobald sie sich anders denn als Teil einer Abstimmungsmasse äußert. Man muß dem Philosophen Bertrand Russell rechtgeben, wenn er schrieb: «Freiheit ist das angebliche Ziel, worauf Rousseau seine Gedanken richtet, in Wirklichkeit aber strebt er Gleichheit an, und sei es selbst auf Kosten der Freiheit.» Vielleicht kommt die Berechtigung einer solchen Aussage am besten zur Geltung durch folgende Worte Rousseaus über die christliche Religion: «Anstatt die Herzen der Bürger an den Staat zu heften, entfernt sie sie davon wie von allen irdischen Dingen: ich kenne nichts, was dem gesellschaftlichen Geist mehr entgegenstünde.»(4. Buch, 8. Kap.)

Gegner des ethischen Individualismus

Die Quelle des Rechts in heutiger Zeitlage ist der freie Mensch, dessen egozentrisches ‹Ich - bin, Ich - will, Ich - beanspruche› als erste und unterste Stufe des Freiwerdens durch die Gesetze nicht ausgelöscht, sondern mehr und mehr in den Rang der ‹Würde› erhoben wird. Der Respekt, vor der Einzelpersönlichkeit manifestiert sich auf dieser Stufe in der bereits sich um und zum Mitmenschen hinwendenden Empfindung: ‹Er hat, genau wie ich, das Recht, für sich zu fordern›. Auf der Grundlage dieses anklingenden ‹Liebe deinen Nächsten wie dich selbst› entwickeln sich Rechtsverhältnisse positiv, aber nicht beliebig, denn das durch Selbstwahrnehmung Gewonnene und auf den Mitmenschen Angewendete ist nicht beliebig. Hier wird die Grenze vom Empfinden des eigenen Menschenrechts zur moralischen Intuition überschritten. Der Schluß von den eigenen Bedürf-

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nissen auf die fremden eröffnet nicht nur die Wahrnehmung des Mitmenschen als Gleichberechtigten, sondern lehrt zugleich unterscheiden zwischen Belangen, auf welche dieser Schluß anwendbar, und solchen, auf die er es nicht ist. Es ist heute kein Problem, deutlich zu empfinden, daß jeder einen Anspruch auf, nämlich ein Bedürfnis nach, Bildung hat. Dieser Anspruch muß gesetzlich verankert werden. In bezug auf Art und Inhalt dieser Bildung aber ist der Schluß von meinen Bedürfnissen auf die fremden nicht gültig. Folglich hat das Gesetz hier nicht mitzusprechen. Das hängt damit zusammen, daß in bezug auf Art und Inhalt der Bildung eben durchaus, in Umkehrung der Rousseauschen Doktrin, «der Staat je besser verfaßt ist, desto mehr im Herzen der Bürger die privaten Angelegenheiten die öffentlichen überwiegen» (vgl. 3. Buch, 15. Kap.). Eine Staatsrechtslehre, die solche Unterschiede nicht macht, berücksichtigt möglicherweise die Natur, aber nicht die Kultur des Menschen. Im Fortschreiten dieser Kultur gilt mehr und mehr, daß der Mensch aus dem träumenden Zustand ursprünglicher Sozialität, [15] der sich in gewisser Hinsicht aus den Zeiten des mythischen Bewußtseins bzw. der Empfindungsseelenkultur herüberretten konnte in Form der halbwach empfundenen ‹Rechtschaffenheit› der Verstandes- und Gemütsseele, heraus wächst in die volle Bewußtheit auch in Belangen des Rechts; so daß für das Demokratieproblem evident ist nicht «der beständige Wille aller Glieder des Staates» (Rousseau) als eine durch Deduktion gewonnene Größe (nach Abzug aller Sonderfälle bleibt der Allgemeinfall), sondern was Steiner umgekehrt in seiner «Philosophie der Freiheit» schrieb: ‹Die Ideenwelt lebt sich nicht in einer Gemeinschaft von Menschen, sondern in menschlichen Individuen aus. Was als gemeinsames Ziel einer menschlichen Gemeinschaft sich ergibt, das ist nur die Folge der einzelnen Willens-Taten der Individuen.»

Daß es Angelegenheiten gibt, denen gegenüber alle Menschen gleich sind, die also alle Menschen gleichermaßen angehen, heißt nicht, daß alle Menschen in diesen Angelegenheiten gleich sind bzw. im einzelnen gleichartige Interessen verfolgen. Die Verbindlichkeit wird als Gesamtwille hergestellt, nicht vorgefunden, denn sie ist nur dadurch eine von freien Menschen in Übereinkunft hergestellte, daß sie nicht vorher feststeht als Gemeinwille a priori. Sie wird hergestellt, indem das Gesetz einen möglichst weiten Rahmen spannt, innerhalb dessen von jedem Einzelwillen so viel bleibt, daß er sich als solcher gewürdigt, ‹unangetastet›, d.h. bestehen bleibend fühlen kann. Hierzu ist freilich im eminentesten Sinne nötig, was Rousseau gerade bekämpft: Der offensive Austausch der «Sonderwillen», der widerstrebenden Interessen und Meinungen. Die gegenseitige Wahrnehmung in einem freien Geistesleben ist die Grundlage der modernen Demokratie. [16]

Unternehmen wir den Versuch, die Kernaussagen des ‹Contract Social› zu einem fiktiven ‹soziologischen Grundgesetz› Rousseaus zusammenzufassen und dies dem gleichgenannten von Rudolf Steiner gegenüberzustellen.

Rousseau: «Im Anfang der Kulturzustände ist alles klar und einfach, jeder gehorcht seinem eigenen, in ihm wohnenden Gesetz und Trieb, und dieser Trieb richtet sich natürlicherweise auf das allgemeine Wohl. Die weitere Entwicklung führt zu divergierenden Interessen und Meinungsgegensätzen, welche durch einen die ursprüngliche, natürliche Übereinkunft ersetzenden Staat überwunden werden, dem jeder Bürger sich durch Veräußerung seiner ganzen Kraft und Person an das Gemeinwesen bedingungslos unterwirft. Da er nun wiederum, indem er sich selbst gehorcht, auch dem Staat gehorcht, ist er frei.» Steiner: «Die Menschheit strebt im Anfang der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände, dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert, die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zu freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.» (‹Soziologisches Grundgesetz›, GA 31, 1966)

Die Anfälligkeit der Rousseauschen Ideen für Vereinnahmung durch Totalitarismen ergibt sich jedoch nicht allein aus der Ignorierung der Freiheitsfrage bzw. ihrer heillosen Vermengung mit dem Gleichheitsideal [17] nebst den wenig abgesicherten Bemerkungen über die Staatsgründung und Erziehung des Volkes (vgl. auch 2. Buch, 8. Kap), sondern nicht zuletzt auch aus der ganz abstrakt bleibenden Behandlung der Rolle der Obrigkeit. Klar wird nur gesagt, daß ihr die Exekutive, nicht jedoch die Legislative obliege, wobei sich selbst das lediglich auf das belehrte Volk bezieht, während das zu belehrende die Gesetze, die seinem untergründigen Wollen entsprechen, empfängt. Daß das Gesetze beschließende Volk sich nur zu regierungsamtlich vorgeschriebenen Zeiten versammelt und außerordentliche Versammlungen, wenn sie nicht von den hierfür eingesetzten Beamten einberufen werden, als null und nichtig zu gelten haben, (3. Buch, Kap. 13/18), ist ein Spezialproblem, das hier nicht dikutiert werden soll, aber man kann sich allerlei Fragen dazu bilden. Die Obrigkeit hat ansonsten «ein gesondertes Ich», ist ausgestattet mit «einem eigenen Willen, der sie zu erhalten strebt», verfügt über besondere «Rechte, Titel, ausschließlich (ihr) zustehende Privilegien» (3. Buch, 2. Kap.) und ist, solange noch gesellschaftliche Widersprüche bestehen, selbst dann unvermeidlich, wenn sie Gesetze mißbraucht. Es ist nämlich «der Mißbrauch von Gesetzen durch die Regierung ... ein geringeres Übel als die Verderbtheit des Gesetzgebers, unfehlbare Folge von Sondermeinungen» (3. Buch, 4. Kap.). All diese Auskünfte können, ebenso wie die Darstellungen zu den einzelnen Regierungsformen (3. Buch, Kap. 4/7) recht weit ausgelegt und für diese oder jene Ansicht herangezogen werden. Sicher ist, daß Verfechter eines völkischen Einheitsmythos mit dem selbsternannten primus inter pares an der Spitze, wenn sie es darauf abgesehen haben, reichlich fündig werden in Rousseaus ‹Contract Social›, nicht weniger die Strategen einer sogenannten Diktatur des Proletariats. Ich glaube, in Hinsicht auf unsere Ausgangsfragen die hinreichend begründete Schlußfolgerung ziehen zu können, daß der Rousseausche Begriff der Demokratie als absolut dominierendes Einheitsstaats-Prinzip geistesgeschichtliche Grundlagen für die sozialistischen Diktaturen der Neuzeit geliefert hat und deshalb im Zusammenhang mit der anthroposophischen Sozialwissenschaft nicht zitiert werden sollte. Steiners Ausssagen zur Demokratiefrage werden nur vor dem Hintergrund des ethischen Individualismus verständlich. Rousseau ist als ein früher Gegner der Tendenzen zu betrachten, die vor zwei Jahrhunderten das Heraufkommen des ethischen Individualismus anzeigten.

Henning Köhler

Anmerkungen

[1] Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23

[2] ebd.

[3] ebd.

[4] Die Philosophie der Freiheit, GA 4

[5] Der Gesellschaftsvertrag «schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft» (1. Buch, 7. Kap.). Diese steht als «Polis» dem «sozialen Organismus» in der Diktion Steiners gegenüber.

[6] Die Körperschaft ist zugleich die Mehrheit und die höchste sittliche Autorität. Wer sich ihr widersetzt, «ist keine sittliche Person, er ist nur irgend ein Mensch» (2. Buch, 5. Kap.).

[7] Daß heute die sitttliche Vernunft vielfach gerade im «bürgerlichen Ungehorsam» ihren Ausdruck findet, ist nicht nur eine Folge schlechter Regierungen, sondern kennzeichnend für die Spannungen, die sich aus dem Verhältnis zwischen der ‹sittlichen Einzelperson› und der ‹sittlichen Gesamtkörperschaft› ergeben. Rousseaus Lösung, die Gewissensentscheidung, die sich in der Minderheit wiederfindet, sei folglich falsch gewesen, würde in der Anwendung auf heutige Verhältnisse unabsehbare Katastrophen heraufbeschwören.

[8] Im 2. Buch, 4. Kap. finden sich einige allgemeine Aussagen über die «Grenzen der souveränen Gewalt», die sich allerdings beziehen auf die Grenzen dessen, was das versammelte Volk per Gesetzgebung entscheiden kann gegenüber dem was Aufgabe der Administrationen bleiben muß. Die Grenzen des Staates werden nirgends thematisiert, an keiner Stelle sein Selbstzweck in Frage gestellt im Sinne der Worte Rudolf Steiners: «Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig ob auf absolutistische, konstitutionelle oder republikanische Weise.» (GA 31)

[9] Rudolf Steiner bemerkte hierzu einmal, wer glaube, die Dreigliederung könne erst verwirklicht werden, wenn die Menschen reif dazu seien, bewege sich «in einem bedenklichen Ideenkreise».

[10] Da Rousseau überhaupt nur solchen Staaten eine Chance im Sinne seines Entwurfs einräumt, die jung, also neu gegründet sind (2. Buch, 8. Kap.), ist «man» unschwer als der «instituer» zu identifizieren.

[11] Soziale und antisoziale Triebe im Menschen, GA 186

[12] Wenn eingangs das Prinzip der konkurrierenden Verbände dem Wirschaftsleben zugeordnet wurde, so ist dies derart zu verstehen, daß sich innerhalb des Geisteslebens sinnvollerweise dann Interesssengruppen bilden, wenn der Gegenstand des Interesses ein wirtschaftlicher ist.

[13] Rudolf Steiner verwendet den Begriff «ausgegliedert», siehe 11.

[14] Siehe 1

[15] Rousseaus ‹Naturzustand›, der nicht wieder installiert, aber durch einen unumschränkten Staat gewissermaßen ‹nachgeahmt› werden kann. ( Vgl. auch 1. Buch, 6. Kap.).

[16] Dieter Brüll schreib einmal, dieses ganz irdisch gemeinte ‹freie Geistesleben› sei eigentlich, von einer höheren Warte aus betrachtet, ein ‹freies Seelenleben›.

[17] Obwohl es Rousseau immerhin einer kurzen Erwähnung wert fand, die Beifallskundgebungen einer unfreien Masse von wirklicher Einmütigkeit zu unterscheiden (4. Buch, 2. Kap.), bleibt ungeklärt, wie das eine vom anderen unterschieden werden soll, wenn «kein Bürger mehr etwas ist oder vermag außer durch alle anderen» (2. Buch, 7. Kap.).

[Info3, 10/1985, Seite 23]