Menschenbegegnung als soziales Urphänomen

19.09.1976

Quelle
Zeitschrift „Das Goetheanum“
55. Jahrgang, Nr. 38/1976, 19.09.1976, S. 299-300
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz

Lassen wir für einen in sich mannigfachen, vielschichtigen Tatbestand einen einfachen Ausdruck vorläufig gelten, so kann schon vor der anfänglichen Besinnung des Menschen auf sich selbst gesagt werden, dass sie ihm nicht ein einheitliches Bild seines eigenen Wesens, sondern merkwürdigerweise zwei verschieden geartete zeigt. Am Beispiel: Sicher hat jeder bei sich die Beobachtung gemacht, dass er gelegentlich etwas, das mit jemandem zu besprechen er sich vorgemerkt hat, vollständig vergisst, sobald er mit dem anderen zusammentrifft und ins Gespräch kommt. Besonders von mehreren vorgenommenen Angelegenheiten bleibt so mitunter die eine oder andere unbehandelt und kommt uns mit voller Deutlichkeit erst wieder zu Bewusstsein, wenn wir wiederum mit uns alleine sind, ohne dass wir so recht begreifen können, wie uns das passieren kann. – Aber auch beispielsweise das Folgende ist möglich. In einem Gespräch mit anderen Menschen, auf das wir zunächst mit einer gewissen Skepsis eingegangen sind. erleben wir, neben manchem anderen, unter Umständen so vieles an innerlich durchwärmter Toleranz und aufrichtigem Verstehenwollen, dass wir diese Erfahrung auf keinen Fall in unserem Leben missen möchten. Und doch kann es sein, dass – wenn wir nach geraumer Zeit uns oder anderen von dieser Begegnung Rechenschaft geben wollen – das damals Erlebte auf merkwürdig einseitige Art geschwunden ist und wir in unserem Gedächtnis davon nur noch dasjenige vorfinden, was an diesem Gespräch geeignet war, unseren damals bereits mitgebrachten Vorurteilen neue Nahrung zu geben.

Die Reihe solcher Beobachtungen liesse sich fortsetzen. Jede dieser Beobachtungen würde zwei Bilder geben: zwei solche jedoch, die gar nicht zueinander zu passen scheinen. Warum ist das so? Sind wir anders, wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, und anders, wenn wir wieder alleine sind? Ein erster Vergleich der beiden so unterschiedlichen Wahrnehmungen lässt uns die Frage noch genauer fassen: Sind wir dort, wo wir mit anderen Menschen beisammen sind, mehr „bei ihnen“ als „bei uns“? Sind wir nur dann ganz „bei uns“, wenn wir mit uns alleine sind? – Diesen Fragen soll in dem folgenden Versuch, sich dem Rätsel der menschlichen Begegnung mit den Mitteln einiger Grundbegriffe der anthroposophischen Menschenkunde zu nähern, nachgegangen werden. [1]

In einigen seiner Vorträge macht Rudolf Steiner darauf aufmerksam, dass das Geheimnis der Menschenbegegnung mit dem des Schlafes verwandt ist. Wenden wir uns daher zunächst diesem letzteren zu. – Wer sich bewusst einem aufwachenden Menschen gegenüberstellt, wird sich von dem Geheimnis des Schlafes zunächst in der folgenden Art berührt fühlen: Er beobachtet beispielsweise das Einsetzen von Bewegungs- und Bewusstseinsphänomenen, die während des Schlafzustandes nicht vorhanden waren. Sogar wenn sich der Beobachter, über den von der naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie gebildeten Begriff des physischen Leibes hinaus, schon einen Begriff des Ätherleibes zu eigen gemacht hat, wie ihn die geisteswissenschaftlich orientierte Anthroposophie bildet, bleibt noch unerkannt, was diese Phänomene bewirkt. Denn dieser Begriff erschliesst zwar 'ein echtes Verständnis des lebendigen physischen Leibes, wie er im schlafenden Menschenleib vor dem Beobachter liegt; aber das den physischen und ätherischen Bereich umspannende Denken kommt an eine Grenze seiner Einsicht, wenn der betreffende Mensch in den Wachzustand übergeht. Erst wenn der Beobachter auch den Begriff des Astralleibes zum Werkzeug seiner Urteilskraft ausbildet, schlies-

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sen sich ihm auch die Phänomene des Bewusstseins und der Bewegung, d.h. die des seelischen Lebens, auf.

Der Astralleib des Menschen ist es, der die entsprechenden Organe des menschlichen Leibes einerseits mit dem Lichte des Bewusstseins durchleuchtet, andererseits seine Bewegungsabläufe impulsiert. Im Einschlafen aber löst der menschliche Astralleib das so charakterisierte Verhältnis zu den Organen des lebendigen physischen Leibes, um es erst beim Erwachen wiederum aufzuhauen. Was aber geschieht in der Zwischenzeit? In dem Kapitel „Schlaf und Tod“ seiner Geheimwissenschaft im Umriss macht Rudolf Steiner verständlich. dass der Astralleib des Menschen während dieser Stunden in die übersinnliche Welt der Sterne, d.h. in die eigentlich zu ihm gehörende Welt, eintaucht, aus welcher er dem ätherischen Leibe des Menschen während des Schlafes bzw. beim Erwachen diejenigen Kräfte zuführt, die diesen zur Regeneration des physischen Leibes fähig machen. Denn die Welt der Sterne ist gleichzeitig die der Urbilder des physischen Menschenleibes.

Der Mensch ist – so gesehen – auch seelisch ein Atemwesen. Im Einschlafen atmen wir unsere Seele aus, die lebt einige Zeit im Sphärenkreise der geistigen Welt, um dann einatmend sich wieder im Leibe erwachend zu fühlen. Aber auch – und damit setzen wir zu einem weiteren Schritt auf dem hier zu findenden Wege an – unser Ich ist nicht allein dazu veranlagt, Mittelpunktswesen zu sein. Ähnlich wie der Astralleib lebt es jede Nacht ausserhalb des physischen und Ätherleibes in der geistigen Welt. Hier soll jedoch noch von einem Atemrhythmus des Ich die Rede sein, der schneller verläuft als der eben geschilderte. Er bezieht sich auf die menschliche Begegnung.

Wie der Astralleib nicht fortwährend in dem ätherischen Leibe lebt, sondern ihm von Zeit zu Zeit von aussen zustrahlt, was er in der geistigen Welt erlebt, so lebt auch das Ich nicht immer innerhalb des eigenen Seelenlebens. Dieses geschieht längere Zeit hindurch in der Regel nur dann, wenn der Mensch mit sich allein ist und sich dem eigenen Wesen zuwendet. In Gemeinschaft mit einem anderen Menschen nimmt das Ich dagegen noch ein anderes Verhältnis zu seinem Astralleib ein, indem es selbstvergessen diesen verlässt, um sich mit der Wesenheit des anderen Menschen voll zu verbinden. Ähnlich wie nun im Schlafe der Ätherleib vom Astralleib empfängt, was dieser während seines leibfreien Zustandes in der geistigen Welt erfährt, so erhält auch der astralische Leib durch das Ich einen Eindruck von demjenigen Menschen, mit dessen Wesen er sich auf diese Weise verbunden hat. Je nach seiner Beschaffenheit erträgt der Astralleib jedoch nur für eine verhältnismässig kurze Zeit diesen Eindruck. Denn er bekommt das ihm unangenehme Gefühl, sich aufgeben zu müssen, wenn er sich diesem Eindruck weiter ausliefern würde. Daher beginnt er nach einer Weile, sich gegen diesen Eindruck zur Wehr zu setzen. Und indem er dabei seine Kräfte mit Hilfe des Ich zu verstärken sucht, kehrt dieses wiederum in ihn zurück. Wie durch den Astralleib alleine das gewöhnliche Bewusstsein entsteht, entzündet sich jetzt das gewöhnliche Selbstbewusstsein. Die – intuitive – Wahrnehmung des anderen Menschen wird dadurch allerdings unterbrochen und muss von neuem aufgesucht werden.

Die eigentliche Menschenbegegnung ist daher ebenfalls durch jene doppelte Atembewegung gekennzeichnet, die wir zunächst bezüglich des Astralleibes betrachtet haben. Während jedoch bei der Ausatmungsphase des Astralleibes der Mensch totaliter einschläft, bezieht sich bei der des Ich das „Einschlafen“ des Menschen nur auf sich selbst und die eigenen Angelegenheiten. So entspricht es durchaus einem in den geistigen Vorgängen des Menschenwesens begründeten Tatbestand, zu sagen, dass in der Begegnung mit dem anderen Menschen der Mensch „von sich selbst loskomme“. Nur führt die entgegengesetzte Atembewegung ihn bald wieder zu sich zurück, sein Selbstbewusstsein erwacht und bewahrt ihn davor, von dem anderen überwältigt zu werden. Dieser unterbewusste Wechsel zwischen dem Eintauchen in die Wahrnehmung des anderen Menschen und dem Bestreben, sich gegen den anderen auf-

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recht zu erhalten, ist die Ursache davon, dass sich unserer Selbstbesinnung ein anderes Bild darstellt, wenn wir auf das Beisammensein mit anderen Menschen zurückschauen, als dann, wenn wir auf eine Zeit hinblicken, in der wir mit uns alleine waren. Aber er ist gleichzeitig die Ursache davon, dass unsere Seele durch das Zusammensein mit anderen Menschen reicher wird. Was ihr das Ich auf die geschilderte Weise zuführt, kann ebenso ein Zuwachs an seelischen Aufbaukräften bedeuten, wie die Erlebnisse des Astralleibes im Schlafzustand in der Regel einen Zuwachs an leiblichen Aufbaukräften darstellen.

Nehmen wir an dieser Stelle noch hinzu, dass das Geheimnis des Schlafes wiederum mit dem Geheimnis des Todes verwandt ist, so erhalten wir einen Überblick über den ganzen viergliedrigen Menschen in der hier verfolgten Dynamik. Denn auch der dritte der drei in dieser Art „existentiellen“ Rhythmen des Menschen, die wiederholten Erdenleben, kann als ein grosser Atemrhythmus verstanden werden. Am Ende eines Erdenlebens gestalten die drei übersinnlichen Wesensglieder des Menschen, das Ich, der Astralleib und der ätherische Leib, sich zur Einheit zusammenschliessend, ihr Verhältnis zu dem sinnlich wahrnehmbaren Wesensglied des physisch-materiellen Leibes um: Sie entkörpern sich im Tode, leben auf differenzierte Weise eine Zeitlang in dem die Erde sphärisch umgebenden geistigen Kosmos und verkörpern sich wieder durch Empfängnis und Geburt, indem sie aus diesem Kosmos die Kräfte zu einem neuen Erdenleibe mit sich führen. – Was dagegen am Abend und Morgen geschieht, bezieht sich auf den viergliedrigen Erdenmenschen so, dass auf der einen Seite Astralleib und Ich, auf der anderen ätherischer und physischer Leib je eine Einheit bilden. Einschlafen bedeutet nun zwar kein Entkörpern, aber doch ein „Ent-Leiblichen“, Aufwachen entsprechend ein „Ver-Leiblichen“ des Seelen-und Ichwesens in dem weiter oben beschriebenen Sinne. – In der Menschenbegegnung aber sehen wir den physischen, den ätherischen und den astralischen Leib des Menschen zur Einheit zusammenwirken, aus deren Hüllen das Ich, sie „vergessend“, heraustritt, um für eine kurze Zeit sich intuitiv mit den in seiner physischen Umgebung lebenden geistigen Wesen, den Menschen, zu verbinden, um dann dadurch wiederum von ihnen Distanz zu gewinnen, dass es sein eigenes Hüllenwesen als Werkzeug der Gegenüberstellung ergreift. Wie bei den vorigen beiden Rhythmen es sich um ein wiederholtes Ausserhalb und Innerhalb der jeweils höheren Wesensglieder in bezug auf die körperliche (physische) bzw. leibliche (ätherische) Organisation handelt, haben wir es hier vor allem mit dem wiederholten „Verlassen“ und „Ergreifen“ der eigenen seelischen (astralischen) Organisation durch das Ich zu tun.

In diesem dritten und im Vergleich mit den beiden anderen am raschesten fortschreitenden Rhythmus der viergliedrigen Menschennatur muss im Sinne der anthroposophisch orientierten Gesellschaftswissenschaft das Urphänomen der sozialen Welt gesehen werden. Von den beiden entgegengesetzten, miteinander abwechselnden Atembewegungen des Ich spricht Rudolf Steiner als von zwei in der übersinnlichen Natur des Menschen verwurzelten Trieben, dem sozialen und dem antisozialen Triebe des Menschen. Ohne den antisozialen Trieb befände sich der Mensch fortwährend in der Gefahr, sich selbst zu verlieren. Die besondere Aufgabe des gegenwärtigen Kulturzeitraumes, die selbständige Persönlichkeit auszubilden, wäre daher ohne diese Antisozialität nicht denkbar. Aber ohne Sozialität entstände eine andere Gefahr für den Menschen: die Gefahr, sich in die Einsamkeit und Einseitigkeit des eigenen Wesens zu verkrampfen. Und darin liegt das Problem der gegenwärtigen Entwickelung, sowohl des einzelnen Menschen als auch der Menschheit. Mit dem Schwinden des instinktiven Wissens um jene übersinnliche Sphärenwelt, in welcher der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt bzw. zwischen Einschlafen und Aufwachen lebt, hat sich auch die ursprüngliche instinkthafte Sozialität erschöpft, aus welcher die soziale Konfiguration der Menschheitsentwickelung bisher gespeist wurde. Was heute davon als sozialer Trieb übrig ist, kann das ungeheure Anwach-

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sen der zur Selbständigkeit hindrängenden antisozialen Triebe in der Gegenwart nicht ausgleichen. Daraus ergibt sich die Frage nach der Entwickelung einer neuen Sozialität als freie Tat des selbständig gewordenen Menschen.

Wie der anthroposophische Schulungs- und Erkenntnisweg dem modernen Menschen die Möglichkeit bietet, sich wiederum aus eigener Erfahrung ein Wissen von den geistigen Welten zu erwerben, die er mit dem Einschlafen oder dann durch das Todesgeschehen betritt, so zeigt die Anthroposophie auch die Mittel auf, die das Ichwesen des Menschen zu einem gesteigerten Erleben des anderen Menschen fähig machen. Den hier in Betracht kommenden Übungen gemeinsam ist, dass sie nicht an der Situation ansetzen, in welcher sich der Mensch bereits mit anderen zusammenfindet, sondern in derjenigen, in der er mit sich alleine ist. Demgemäss handelt es sich auch nicht um auf andere anzuwendende Erziehungsmethoden, sondern um solche zur Selbsterziehung. Immer aber zielen sie darauf ab, entweder sich für die Begegnung mit dem anderen Menschen vorzubereiten oder nach einer solchen Begegnung das in ihr Erlebte und Erfahrene zu verarbeiten und dadurch für das künftige Leben und Arbeiten mit anderen wiederum fruchtbar zu machen. So skizziert Rudolf Steiner in dem am 12. Dezember 1918 in Bern gehaltenen Vortrage Soziale und antisoziale Triebe im Menschen zwei Biographie-Übungen, deren eine sich auf sich selber, deren andere sich auf die Menschen richtet, mit denen die Lebensbegegnung bereits eine Zeitlang zurückliegt. Die eine hat die Objektivierung des eigenen Wesens in seinen verschiedenen Werdestufen und damit die Bändigung der eigenen antisozialen Kräfte zum Ziel. Die Aufgabe der anderen besteht in einer solchen Identifizierung mit den diesen Werdegang begleitenden Menschen, welche dazu führt, ein von persönlicher Liebe und persönlichem Hass freies Bild dieser Menschen im Innern entstehen zu lassen, und daher gleichzeitig dazu führt, die intuitiven Fähigkeiten auch für künftige Menschenbegegnungen zu steigern und das eigene Seelenleben geeignet zu machen, den Reichtum der auf diese Weise gewonnenen Intuitionen lebendig zu verarbeiten. Was sich durch solche Übungen im Menschen entwickelt, hat mit der alten instinktiven Sozialität gemeinsam, dass es sich intuitiv mit dem anderen Menschen verbindet; nicht aber geschieht dies in dumpfer und unselbständiger Hingabe, sondern mit derjenigen Wachheit und Eigenständigkeit, die der Mensch im Wirken der antisozialen Kräfte erringen konnte. Indem er diese Kräfte durch Schulung verwandelt, nähert sich der Mensch erkennend der Geistselbstqualität seines Schicksalsgewebes, welche sonst unerkannt in den auf ihn zukommenden Menschenbegegnungen lebt.

Anmerkung

[1] Vergleiche zu dem Ausgangspunkt der nachfolgenden Betrachtung die Vorträge Rudolf Steiners vom 6. und 12. Dezember 1918, abgedruckt in GA 186. - Weiterhin möchte ich ausdrücklich auf den Beitrag von Stefan Leber „Das Verhältnis des Sozialerlebens zum (Schlaf-)Bewusstsein des Menschen“ im 54. Jahrgang, Nr. 30-32. dieser Wochenschrift hinweisen. Die hier vorgelegte Arbeit behandelt das dort im Mittelpunkt stehende Problem unter dem Gesichtspunkt der Wesensglieder des viergliedrigen Erdenmenschen.

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