Menschennatur und soziale Dreigliederung

01.12.1977

Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
18. Jahrgang, Heft 31, Dezember 1977, S. 24-33
Bibliographische Notiz

Meine Schrift war gewissermaßen als ein Appell nicht an das Denken über allerlei Einrichtungen, sondern als ein Appell an die unmittelbare Menschennatur gemeint.

Rudolf Steiner

In bewußter Anknüpfung an den Beginn seines öffentlichen Eintretens für die Dreigliederung des sozialen Organismus gibt Rudolf Steiner seinem am 11. Juni 1922 gehaltenen letzten öffentlichen Dreigliederungsvortrag den Titel „Die Kernpunkte der sozialen Frage“. Die gleichnamige Schrift war im April 1919 erschienen.

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 24]

Was er bei ihrem Erscheinen unmittelbar erlebt hatte, faßt Rudolf Steiner im ersten Satz dieses Vortrages zusammen: im Grunde mißverstanden auf allen Seiten. Nicht als ein Appell an das Denken über diese oder jene Einrichtung auf sozialem Felde – das aber heißt: nicht so, wie sie auch heute noch zumeist aufgefaßt wird – wollte Rudolf Steiner diese Schrift verstanden wissen, sondern als ein Appell an die „unmittelbare Menschennatur„. Und einen Satz später fügt er hinzu: „So hat man namentlich dasjenige, was ich eigentlich nur zur Illustration der Hauptsache gegeben habe, für die Hauptsache selbst genommen.“

Der mit diesen rückblickenden Äußerungen Rudolf Steiners zugleich gestellten Aufgabe möchte sich der folgende Aufsatz zuwenden. Er sieht die gemeinte „Hauptsache“ in der Natur des Menschen, insofern aus dieser die Kräfte hervorgehen, durch die sich menschliche Gesellschaft konstituiert. Und er sieht die „Illustration der Hauptsache“ in dem Hinweis auf soziale Einrichtungen, die der Mensch, diese Kräfte immer bewußter ergreifend, gestaltet hat oder künftig gestalten wird. Wie läßt sich der Mensch so anschauen, daß wir durch diese Anschauung mehr und mehr fähig werden, die Kräfte aufzusuchen, die zur Dreigliederung des sozialen Organismus führen? Dieser Frage möchte der folgende Gedankengang nachgehen. [1]

Orientierung am Menschen

Rudolf Steiner hat sich oft gegen das Mißverständnis seiner Darstellungen wehren müssen, daß mit dem Gliedern sozialer Vorgänge ein Einteilen von Menschen oder Menschengruppen, etwa nach Berufsständen, gemeint sei. Dennoch schließen die von ihm gebrauchten Bezeichnungen für die drei Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, er spricht von Wirtschaftsleben, Rechtsleben und Geistesleben, durch sich selber ein solches Mißverständnis noch nicht aus. Jedenfalls im gewohnten Wortsinne genommen, scheinen diese Bezeichnungen durchaus auf Institutionen abzuheben: eine Fabrik etwa scheint ebenso selbstverständlich dem Wirtschaftsleben anzugehören, wie beispielsweise eine Universität dem Geistesleben. Solange man aber die Sache so auffaßt, liegt es zweifellos nahe, auch den in der Fabrik arbeitenden Maschinenschlosser als im Wirtschaftsleben, den an der Universität arbeitenden Hochschullehrer als im Geistesleben tätig zu betrachten und schließlich den Hochschullehrer als Angehörigen des Geisteslebens, den Maschinenschlosser als Angehörigen des Wirtschaftslebens zu kennzeichnen. Das wäre jedoch selbstverständlich kaum etwas anderes als etwa die alte Einteilung von „Lehr-“, „Wehr-“ und „Nährstand“ in neuem Gewande.

Anders steht die Sache, wenn wir die Orientierung in dieser Frage nicht an Institutionen, sondern am Menschen selber suchen. Denn der Mensch nimmt – das ist einfach in der menschlichen Natur selbst begründet – drei fundamental verschiedene Verhältnisse zu seinen Mitmenschen ein:

– Als Bedarfswesen erwartet er von ihnen nicht nur, wie z.B. in bezug auf Wohnung, Kleidung, Nahrung usw. unmittelbar deutlich, die Deckung seines leiblichen Bedarfes, sondern überall dort, wo er nicht selber für sich sorgen kann, ist er auch zur Befriedigung seiner seelischen und geistigen Bedürfnisse auf sie angewiesen. Er will informiert und unterhalten, unterrichtet und ausgebildet werden, er will an kulturellen und wissenschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen, usf.

– So wie er als Bedarfswesen erwartet, daß andere für seine Bedürfnisse arbeiten, so arbeitet er selber in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft für den Bedarf anderer. Das tut er aber nicht als Bedarfs-, sondern als Fähigkeitswesen.

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 25]

Um beispielsweise in seiner Berufsarbeit seine Fähigkeiten und Fertigkeiten, ja seine körperliche Geschicklichkeit und Kraft für andere fruchtbar zu machen, ist er wiederum auf andere angewiesen. Er braucht Mitarbeiter. Die Zusammenarbeit mit ihnen muß daher als ein zweites in der Menschennatur begründetes Verhältnis zu anderen Menschen betrachtet werden.

– Ein drittes derartiges Verhältnis kommt durch die unser soziales Leben überall durchziehende Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten zustande, in die der Mensch als mündiges Wesen eintritt. Dies geschieht entweder dadurch, daß er sich mit anderen darüber verabredet oder mit ihnen Verträge abschließt, oder dadurch, daß er – etwa als Autofahrer in bezug auf die Straßenverkehrsordnung – einer gemeinsamen Regelung beitritt, welche die gegenseitigen Rechte und Pflichten durch Gesetz so verteilt, daß wechselseitig das Recht des einen Partners die Pflicht des anderen darstellt, wie das auch bei einem Vertrag oder einer einfachen Verabredung der Fall ist.

So gesehen veranlaßt uns die Betrachtung der Menschennatur selbst dazu, drei fundamental verschiedene Arten von Menschenbeziehungen ins Auge zu fassen. Wir können sie auf allen Gebieten des sozialen Lebens, in der Industrie ebenso wie im Bildungswesen, im handwerklichen ebenso wie im kulturellen Bereich, in der Rechtspflege ebenso wie im Handel beobachten. So bedarf etwa der oben als Beispiel herangezogene Maschinenschlosser ebenso der Mitarbeit anderer, um seine speziellen Fähigkeiten im sozialen Leben fruchtbar werden zu lassen, wie der Hochschullehrer ihrer bedarf. Daß es bei dem einen dabei auf die Fähigkeiten zur Darstellung von Forschungsergebnissen usw., beim anderen z.B. auf handwerkliches Können ankommt, hat mit der Frage nach dem Wie einer menschengemäßen Zusammenarbeit erst in zweiter Linie zu tun. Und wie beide als Fähigkeitswesen auf die Mitarbeit anderer angewiesen sind, so sind sie als Bedarfswesen beide gleichermaßen darauf angewiesen, aus dem übrigen sozialen Organismus heraus Waren und Dienstleistungen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erhalten, als Kranke gepflegt zu werden usw. Und ebenso machen beide als mündige Wesen, z.B. mit ihren Mitarbeitern oder mit denen, von denen sie Waren beziehen – etwa in Gestalt von Arbeitsverträgen, Lieferverträgen usf. – ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten aus, soweit diese nicht schon durch Gesetze geregelt sind. Das Gesagte gilt aber selbstverständlich nicht nur für Hochschullehrer und Maschinenschlosser, sondern gleichermaßen für Industriearbeiter, Erzieher, Handwerker, Schauspieler, Richter, Kaufleute – oder kurz gesagt: in allen Berufen. Daher ist unschwer einzusehen, daß eine Gliederung des sozialen Lebens auf Grund dieser drei Beziehungsarten nicht zu einer Einteilung von Menschen oder Menschengruppen nach Berufsständen oder ähnlichem führen würde.

Vielmehr führt eine solche Gliederung dazu, daß jede dieser drei Arten von Menschenbeziehungen sich – unbeeinträchtigt von den je anderen – der ihr innewohnenden Eigentümlichkeit nach entfalten kann. Um eine jede ihrer Eigenart nach kennenzulernen, sollten wir sie abgesondert voneinander studieren. Damit würde zugleich deutlich werden, was Rudolf Steiner in sozialem Zusammenhang „Geistesleben“, „Rechtsleben“ und „Wirtschaftsleben“ nennt. Denn jeder der so bezeichneten drei Lebensbereiche des sozialen Organismus wird von einer anderen dieser drei Arten von Menschenbeziehungen konstituiert: das Geistesleben dadurch, daß Menschen gemeinsam ihre Kräfte und Fähigkeiten einsetzen, um beispielsweise in ihrem Beruf die ihnen gestellten Aufgaben zu vollbringen; das Rechtsleben dadurch, daß Menschen ihre gegenseitigen Pflichten und Rechte

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 26]

regeln; und das Wirtschaftsleben dadurch, daß Menschen für die Bedarfsdeckung anderer Menschen Sorge tragen. Jeder Mensch gehört in diesem Sinne also als Fähigkeitswesen dem Geistesleben, als mündiges Wesen dem Rechtsleben und als Bedarfswesen dem Wirtschaftsleben an. Andere Probleme werden daher sichtbar, wenn der Mensch dem Menschen als Bedarfswesen gegenübertritt, und andere, wenn er sich ihm beispielsweise als Fähigkeitswesen gegenüberstellt. Aus diesem Grunde bedarf es auch einer je anderen Form von Selbstverwaltung für die verschiedenen Arten der Menschenbeziehung bzw. für die von ihnen konstituierten sozialen Lebensbereiche. Nur durch Selbstverwaltung ist jeder von ihnen in der Lage, seine Eigengesetzlichkeit voll zur Entfaltung zu bringen.

Der Mensch als Bedarfswesen

Sollen auf einer bestimmten Strecke im Verkehrsnetz einer Stadt fünf oder fünfzehn Fahrzeuge zusätzlich eingesetzt werden? Diese Frage kann sinnvoll nur durch die Beobachtung des zu verschiedenen Tageszeiten, an verschiedenen Wochentagen usw. verschieden großen Bedarfs beantwortet werden. Dasselbe gilt beispielsweise für die Auflagenhöhe eines Buches, die Größe zu errichtender Wohnungen oder auch nur für die Anzahl von Brötchen, die der Bäcker um die Ecke jeden Morgen bäckt. Gewiß, das sind anspruchslose Beispiele. Aber nicht nur hier, sondern überall hängt Gesundheit oder Krankheit wirtschaftlicher Vorgänge von der zutreffenden Beurteilung des bestehenden Bedarfes ab. Eine sinnvolle Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens ist nach dieser Seite hin mit der sorgfältigen Feststellung der Bedarfslage und der Beachtung aller sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Produktion verknüpft. Aber nicht damit allein.

Nicht nur derjenige, der Waren verbraucht oder Dienstleistungen in Anspruch nimmt, steht seinen Mitmenschen als Bedarfswesen gegenüber, sondern auch derjenige, der diese Waren herstellt oder diese Dienstleistungen verrichtet. Denn er kann selbstverständlich innerhalb unserer arbeitsteiligen Produktion diese Waren nur herstellen und diese Dienstleistungen nur verrichten, wenn diejenigen, für die er das tut, ihm gleichzeitig ersparen, für seinen eigenen Bedarf zu sorgen. In den ersten Anfängen wirtschaftlicher Entwicklung geschah dies einfach durch Tausch gegen andere Waren und Dienstleistungen, an deren Stelle heute das Geld insofern getreten ist, als es eine „Anweisung“ auf Waren und Dienstleistungen anderer darstellt. Die Beobachtung und Beurteilung des vorliegenden Bedarfes muß daher auf Gegenseitigkeit beruhen. Als Konsument bedarf der Mensch der Waren und Dienstleistungen, als Produzent der gültigen Anweisungen auf Waren und Dienstleistungen (Geld). Jeder von beiden steht dem anderen als Bedarfswesen gegenüber.

Wie kann diese Art von Menschenbeziehungen auf die Dauer tragfähig gestaltet werden? Abgekürzt ausgedrückt: durch Selbstverwaltung aller derer, die auf die beschriebene Art oder auf andere Weise, etwa als Rohstofflieferanten, Händler usw. in dem geschilderten Sinne am wirtschaftlichen Leben beteiligt sind. Die hier in Betracht kommende Form der Selbstverwaltung setzt voraus, daß sich Vertreter der Konsumentenschaft, der dienstleistenden Berufe, der Händler, der Produzenten, der Rohstofflieferanten usw. eines Produktes oder einer Gruppe von Produkten zusammensetzen, um die gegenseitige Bedarfslage, in bezug auf Waren wie auf Geld, herauszufinden und in ihr auf diese Gegenseitigkeit bezogenes Handeln aufzunehmen. Neben der Feststellung, wieviel Waren usw. in einem überschaubaren Zeitraum sinnvollerweise produziert werden sollten und der dafür benötigten Menge an Rohstoffen ist daher die Preisbildung eine der wichtigsten Aufgaben

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 27]

dieser Selbstverwaltung. Denn in dieser kommt letztlich zum Ausdruck, wie weit es den Beteiligten tatsächlich gelingt, sich mit den Bedürfnissen ihrer Partner real zu verbinden. Einerseits muß der Preis eines Produktes so niedrig sein, daß der Verbraucher seinen Bedarf an diesem Produkt auch befriedigen kann; er muß andererseits so hoch sein, daß der Hersteller usw. von dem Erlös dieses Produktes so lange leben kann, bis er ein Produkt gleicher Art hervorgebracht hat. Wo das eine oder andere nicht erreichbar ist, wird es aus dem Erlös, den ein anderes Produkt abwirft, subventioniert werden müssen, wie das schon heute, etwa auf dem kostenungünstigen Weg über die Steuern, teilweise geschieht.

Im Sinne der hier beabsichtigten Skizze darf noch eine weitere Aufgabe dieser Form von Selbstverwaltung berührt werden. Dadurch, daß ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen etwas von anderen Benötigtes herstellen wollen, identifizieren sie sich tätig mit dem Bedarf dieser anderen. Daraus erwachsen ihnen jedoch Bedürfnisse, die sie durch sich selbst, d.h. als Bedarfswesen in dem bisher allein berücksichtigten Sinne, nicht haben würden: sie bedürfen der dazu notwendigen Produktionsmittel bzw. des Kapitals, sich diese zu beschaffen. Nun hat aber Kapital die Tendenz, den Charakter seiner Entstehung der Produktion aufzuprägen, die mit seiner Hilfe zustandekommt. Kann sich beispielsweise der für andere Produzierende das nötige Kapital nur gegen einen hohen Zinssatz oder bloß gegen Gewinnbeteiligung verschaffen, so muß er seine Produkte um so viel verteuern als er braucht, um ihm den Zinsdienst oder die Gewinnausschüttung möglich zu machen. Daher wird eine weitere Aufgabe der hier gemeinten Selbstverwaltung des Wirtschaftslebens in der Beschaffung von Kapital bestehen, dem der gekennzeichnete verteuernde Charakter nicht oder nur möglichst wenig anhaftet.

Mit Rudolf Steiner kann die so skizzierte Form von Selbstverwaltung eine assoziative genannt werden. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß eine Reihe von Einrichtungen des gegenwärtigen Wirtschaftslebens, wie z.B. die herrschende Praxis der bloßen Gewinnmaximierung, das daraus folgende Konkurrenzprinzip, die zum größten Teil auf Eigennutz bedachte Art der heutigen Kapitalbildung usw. dieser Gestaltungsweise diametral zuwiderlaufen. Und selbstverständlich können die dadurch entstandenen Verhältnisse durch assoziative Selbstverwaltung nicht auf einen Schlag geändert werden; aber diese Form der Selbstverwaltung kann nach und nach Alternativen schaffen, die in der Richtung auf andere Verhältnisse entwicklungsfähig sind.

Der Mensch als Fähigkeitswesen

Um eine andere Form von Selbstverwaltung handelt es sich dagegen dort, wo Menschen gemeinsam ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten, ihre Geschicklichkeiten und Kräfte einsetzen, um durch Zusammenarbeit zu leisten, was durch assoziative Verwaltung als benötigt festgestellt worden ist. Was an Waren und Dienstleistungen gebraucht wird, läßt sich nicht am Können derer ablesen, die diese Waren und Dienstleistungen hervorbringen; dazu bedarf es eben der geschilderten Assoziationen. Hingegen ergibt sich ganz aus diesem Können, auf welche Weise das Hervorbringen von Waren und Dienstleistungen sozial am fruchtbarsten geschieht. Wie der einzelne Mensch auf die Dauer dann am besten für andere arbeitet, wenn er beispielsweise in der Lage ist, selber zu beurteilen, wie er die zu leistende Sache am geschicktesten anpackt, seine Fähigkeiten und Kräfte am günstigsten einsetzt usw., so arbeitet auch eine Gruppe von Menschen am fruchtbarsten dann zusammen, wenn sie das Wie ihrer Arbeit selber zu organisieren vermag, gleichgültig ob diese Zusammenarbeit in der Verkehrsplanung einer Stadt, in einem Verlag, im Wohnungsbau oder in einer Bäckerei geschieht.

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 28]

Es ist selbstverständlich richtig, daß es heute viele Menschen gibt, die nur auf Grund von Anweisungen arbeiten können, wozu nicht zuletzt der Umstand beigetragen hat, daß sie systematisch an diese Art von Arbeit gewöhnt wurden. Aber es gibt eben auch Menschen, die auf die Dauer gesehen Besseres zustandebringen würden, wenn sie über das Wie ihrer Arbeit selber zu entscheiden hätten. Den Aufgaben, an denen sie arbeiten, werden somit durch Weisungsgebundenheit alle diejenigen Fähigkeiten entzogen, welche diese Menschen bei freier Initiative einbringen würden. Und es erhebt sich die Frage, ob wir es uns künftig gestatten können, möglicherweise vorhandene Fähigkeiten dadurch abzulähmen oder ganz auszuschalten, daß sie sich durch Bindung an enggefaßte Vorschriften und vorgegebene Arbeitsanweisungen nicht entfalten können. Im Interesse der menschlichen Gesellschaft kann dies jedenfalls nicht liegen.

Dazu gehört auch noch das Folgende: Viele Aufgaben im Leben können nur dann gelöst werden, wenn die an ihnen arbeitenden Menschen ständig bereit sind, aus den Erfahrungen zu lernen, die sie nur an dieser Arbeit selbst machen können. Als Beispiel sei hier auf die vielfältigen Aufgaben auf pädagogischem Gebiete – von der Kindergartenerziehung bis zur Berufsausbildung – hingewiesen. Man hofft gegenwärtig, durch eine Flut von Gesetzeserlassen und Richtlinien hier eine Verbesserung zu erreichen. Von einer solchen kann aber doch immer nur dann die Rede sein, wenn auch jeder einzelne pädagogisch Tätige selber bessere Arbeit leistet als vorher. Das jedoch setzt, neben einer gründlichen Aus- und Weiterbildung, voraus, daß er jederzeit bereit ist, aus seiner bisherigen Arbeit zu lernen. Aus den Erfahrungen seiner bisherigen Arbeit für seine künftige zu lernen, hat aber nur für denjenigen einen Sinn, der selber für das Wie seiner Arbeit verantwortlich ist. Wer sich ohnehin an ohne ihn zustandegekommene Richtlinien und Anweisungen gebunden findet, wie das heute in unserem staatlich gelenkten Bildungswesen üblich ist, wird an einem solchen Lernprozeß kaum ein vitales Interesse haben können. Wozu sollte er auch, da seine Verantwortlichkeit eben in der Vollstreckung jener vorgegebenen Richtlinien und Anweisungen besteht?

Immer dann, wenn der eine Mensch dem anderen oder einer Gruppe anderer als Fähigkeitswesen gegenübertritt, erwächst ihm im Grunde genommen aus dieser Begegnung die Aufgabe, die gemeinsame Arbeit nach Möglichkeit so zu gestalten, daß dabei die Selbständigkeit des anderen gefördert, beziehungsweise – wo sie noch nicht vorhanden – entwickelt wird. Die dadurch entstehende Selbstverwaltung aller derer, die auf diese Art ihre Zusammenarbeit selber organisieren, kann mit Rudolf Steiner eine korporative genannt werden. Wie die assoziative Form der Selbstverwaltung aus der Eigentümlichkeit des Menschen als Bedarfswesen folgt, so ist die hier angezeigte korporative Form dem Menschen als Fähigkeitswesen und dem diesem Wesen entsprechenden gesellschaftlichen Lebensbereich angemessen. Es ist weiter oben schon gesagt worden, daß Rudolf Steiner diesen Lebensbereich mit dem Ausdruck „Geistesleben“ bezeichnet. In dem angedeuteten Sinne korporativ zu verwaltende Zusammenschlüsse von zusammenarbeitenden Menschen sind aber nicht nur Kollegien von Schulen oder Hochschulen, Redaktionen von Zeitschriften oder Rundfunkanstalten und ähnliche Einrichtungen im kulturellen Sektor, sondern beispielsweise auch die Mitarbeiter eines Handwerks- oder Fabrikbetriebes. Denn auch ein solcher gehört, insoweit seine Einrichtungen Produktionsmittel sind, durch die diese Mitarbeiter gemeinsam ihr Können zur Befriedigung eines bestehenden Bedarfes nach handwerklichen oder industriellen Leistungen einsetzen, im Sinne der hier skizzierten Gedanken zum Geistesleben. Mit „Geist“ sind bei Rudolf Steiner in diesem Zusammenhang nicht

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 29]

nur Erkenntnisfähigkeiten und dergleichen, sondern alle schaffenden und schöpferischen Kräfte des Menschen gemeint.

Der Mensch als mündiges Wesen

Eine dritte hier in Betracht kommende Form der Selbstverwaltung ist schließlich überall dort am Platze, wo Menschen miteinander ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten ausmachen. Insofern beispielsweise die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Bürger eines Gemeinwesens durch Gesetze geregelt werden, haben wir es mit dieser dritten Form von Selbstverwaltung dann zu tun, wenn durch Abstimmung jedes mündigen Bürgers oder eines von ihm gewählten Vertreters eine entsprechende Vorlage Gesetzeskraft erhält. Von hier aus betrachtet kann diese Form der Selbstverwaltung daher eine demokratische genannt werden.

Die Eigenart des gesellschaftlichen Lebensbereiches, auf den sich diese Form von Verwaltung durch die unmittelbar an ihm beteiligten Menschen bezieht, kommt allerdings besser dort zum Ausdruck, wo uns die Gegenseitigkeit von Pflichten und Rechten im täglichen Leben begegnet. Denn auch die einzelnen Menschen untereinander legen ja ihre gegenseitigen Pflichten und Rechte beispielsweise in Form von Verträgen fest. Im Zusammenhang mit der Bedarfsbefriedigung ist dies etwa in Form von Kauf- oder Mietverträgen, bezüglich ihrer beruflichen Zusammenarbeit in Form von Arbeitsverträgen der Fall. Dabei ist nun ohne weiteres einsichtig, daß ein solcher Vertrag um so dauerhafter zur Regelung dieser Pflichten und Rechte beiträgt, je sorgfältiger bei seinem Abschluß die daran beteiligten Menschen einander als ebenbürtige Partner begegnen. Oder umgekehrt: er wird um so weniger zu einer auf die Dauer sozial lebensfähigen Regelung beitragen, je mehr die Beteiligten dabei versuchen, sich gegenseitig – etwa unter Ausnutzung wirtschaftlicher oder geistiger Abhängigkeitsverhältnisse des anderen – in Zwangslagen hineinzumanövrieren. Gerade solche im engeren und daher für den einzelnen Menschen leichter überschaubaren Bereich anzustellenden Lebensbeobachtungen erwecken ein intimes Verständnis dafür, daß es sich auch bei der Entstehung eines gesellschaftlich tragfähigen Gesetzesvorschlages bzw. seinem Inkrafttreten als Gesetz nie um das bloße Ingangsetzen einer Abstimmungsmaschinerie zur Durchsetzung von Gruppeninteressen handeln kann. Vielmehr ist dazu eben jene intensive Bemühung nötig, die für die Festlegung dessen, „was Rechtens ist“, alle mündigen Menschen als einander ebenbürtige Partner miteinbezieht.

Wie das bei den beiden vorher skizzierten Formen von Selbstverwaltung auch der Fall ist, so läßt sich auch die hier noch wenigstens kurz charakterisierte demokratische Form also erst im Blick auf die Eigentümlichkeit der Menschennatur verstehen, die jeweils mit der ihr gleichen Eigentümlichkeit im anderen Menschen in Beziehung tritt. Wir haben in dieser Hinsicht hier vom Menschen als einem mündigen Wesen gesprochen, das dem mündigen Wesen im anderen Menschen begegnet. In bezug auf diese Art des gegenseitigen Verhältnisses von Menschen spricht Rudolf Steiner vom Rechtsbereich des gesellschaftlichen Lebens. Wieder aber handelt es sich nicht um etwas, was vom übrigen sozialen Organismus getrennt existieren kann. Gerade aus der Erwähnung von Kauf- und Arbeitsverträgen geht ja hervor, daß es sich bei diesem Lebensbereich des sozialen Organismus um etwas handelt, was mit dem Wirtschafts- und dem Geistesleben ähnlich unmittelbar verknüpft ist, wie diese untereinander es sind. Eine Gliederung dieser drei gesellschaftlichen Lebensbereiche kann daher auch nicht in einer äußerlichen Trennung bestehen. Durch eine solche würde selbstverständlich jeder von ihnen seinen

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 30]

Sinn verlieren. Wohl aber können die Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, diese drei Bereiche auf dreimal verschiedene Art und Weise zu verwalten, getrennt voneinander wirken, um jeden von ihnen dadurch zu voller Lebensfähigkeit zu entwickeln. Dies ist es, wonach die soziale Dreigliederung strebt.

Sozialität und Antisozialität

Indem Rudolf Steiner jene drei Formen von Selbstverwaltung vorschlägt, wie sie hier als assoziative, korporative und demokratische skizziert wurden, appelliert er noch an eine andere Seite der „unmittelbaren Menschennatur“, als das bisher zum Ausdruck kam. Es hat diese Seite der Menschennatur in den letzten Jahrhunderten immer mehr an Bedeutung zugenommen. Sie wird sichtbar, wenn wir uns vor Augen halten, daß der heutige Mensch zugleich ein soziales und ein antisoziales Wesen ist. „Dies sich trocken und energisch zu gestehen, daß der Mensch gleichzeitig ein soziales und ein antisoziales Wesen ist, das ist eine Grundforderung der sozialen Menschenerkenntnis“, sagt Rudolf Steiner (am 6.12.1918) über diese Seite der Menschennatur. „Sozial“, insofern er von sich und seinen Angelegenheiten loszukommen und sich anderen Menschen zu öffnen vermag; „antisozial“, insofern er sich ihnen und ihren Angelegenheiten gegenüber verschließen und sich nur für sich selber interessieren kann. Im ersteren wacht er für den anderen Menschen und schläft in bezug auf sich; im letzteren wacht er für sich und schläft in bezug auf andere. Geisteswissenschaftlich orientierte Gesellschaftswissenschaft zeigt, daß der Lebensrhythmus des Menschen darauf angelegt ist, sich zwischen beiden Seeleneinstellungen hin- und herzubewegen. Sie zeigt aber auch, daß ein Grundzug der neueren Geschichte notwendig eine Verstärkung der antisozialen Einstellung gebracht hat, da ohne diese eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart, die Herausbildung der selbständigen Persönlichkeit, nicht möglich wäre.

So sehr diese Wissenschaft jedoch auf der einen Seite auf die Tatsache hinweisen muß, daß die Persönlichkeitsentwicklung notwendig eine antisoziale Seelen- und Lebenseinstellung mit sich bringt, so sehr muß sie auf der anderen Seite darauf aufmerksam machen, daß überall dort, wo der Mensch auf diesem Wege die selbständige Persönlichkeit in sich gefunden hat, er nun diese Selbständigkeit auch dazu gebrauchen kann, bewußt eine soziale Lebenseinstellung gegenüber der überwiegend antisozialen zu entwickeln. Weiterhin muß sie darauf verweisen, daß – wie jeder offene Blick in die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart zeigt – diese Art von Gebrauch der eigenen Selbständigkeit ebenfalls eine unbedingte Notwendigkeit darstellt: eine solche Notwendigkeit, die sich allerdings nicht „von selbst“ vollzieht, sondern die vom einzelnen Menschen in Freiheit ergriffen werden muß. Denn nur so kann es gelingen, die verstärkt wirkende Antisozialität im heutigen sozialen Organismus durch eine Verstärkung der Sozialität in ein lebensfähiges und lebensförderndes Gleichgewicht zu bringen.

Die Aufgabe, die damit vor uns steht, haben wir auf andere Weise weiter oben schon berührt, als wir von jenen drei in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu leistenden Formen der Selbstverwaltung sprachen. Jede dieser Formen muß nämlich Pflegestätte einer anderen Art von Sozialität werden und erhält nur durch diese ihre lebendige soziale Bedeutung. So verlangt die Begegnung mit dem anderen Menschen als einem Bedarfswesen eine andere Art von Offenheit für ihn als die mit dem anderen als mündigem Wesen; und wieder eine andere Art ist gegenüber dem Menschen als Fähigkeitswesen nötig. Diese Verschiedenartigkeit läßt sich am besten in der Besinnung auf sich selbst als eines Sozialpartners erfassen. Das aber setzt voraus, daß wir wenigstens

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 31]

anfangsweise – und jeder Tag gibt dazu Anlaß – die in solchen Begegnungen zu entwickelnde Art von Offenheit für den anderen Menschen praktiziert haben müssen, ehe wir uns ihre je verschiedene Eigenart in der Selbstbesinnung vergegenwärtigen können. Betritt man diesen Weg, dann eröffnet sich zugleich ein neuer Zugang zu jenen sonst allzu leicht bloß ideologisch verstandenen Worten, die zusammen die Devise der französischen Revolution bilden. Wir werden gewahr, daß wir Freiheit als Streben nach Selbständigkeit im gemeinsamen Einsatz von Fähigkeiten, Gleichheit als Bemühen um die Ebenbürtigkeit mündiger Menschen und Brüderlichkeit als die Anstrengung verstehen können, den im anderen vorhandenen Bedarf zu befriedigen.[2] Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit erweisen sich damit als drei verschiedene Arten einer neuen, durch die selbständige Persönlichkeit zu entfaltende Sozialität. Die sonst einander widersprechenden Ideale erhalten so einen auf die soziale Wirklichkeit anwendbaren Sinn. Und sie stellen in ihrer Weiterentwicklung auf dem hier eingeschlagenen Wege die sozial-schöpferischen Kräfte dar, die sich – wenn ihnen die Gelegenheit dazu gegeben wird – selber zu den verschiedenen Formen von Selbstverwaltung organisieren werden. In dieser Hinsicht hat Rudolf Steiner immer wieder von der Freiheit des Geisteslebens, der Gleichheit des Rechtslebens und der Brüderlichkeit des Wirtschaftslebens als von dem gesprochen, was in der Gegenwart und nächsten Zukunft auf sozialem Felde sich bilden will.

Zur Grundlegung sozialer Gestaltungsprozesse

Nicht nur die öffentliche Dreigliederungsarbeit begann im Jahre 1919, sondern auch die im Zusammenhang mit ihr begründete Freie Waldorfschule in Stuttgart nahm in jenem Jahre ihre Arbeit auf. Die von ihr gepflegte Pädagogik hat inzwischen in vielen Ländern Verbreitung und Anerkennung gefunden, und zwar auch dort, wo eine solche Verbreitung und Anerkennung dem Bemühen um eine Dreigliederung des sozialen Organismus versagt blieb. Kann, so soll deshalb abschließend gefragt werden, die Bewegung für soziale Dreigliederung von der von Rudolf Steiner ausgehenden Schulbewegung lernen?

In den Wochen vor Eröffnung der Freien Waldorfschule hielt Rudolf Steiner unter anderem einen Kurs über „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“. Denn nicht einzelne Regeln und Unterrichtsprinzipien sollten die eigentliche Grundlage dieser Pädagogik bilden, sondern der Blick auf den Menschen selbst. Ließe sich, so soll hier gefragt werden, ebenfalls eine Menschenkunde denken, die in ähnlicher Weise geeignet ist, Grundlage sozialer Gestaltungsprozesse zu werden? In den vorangehenden Ausführungen wurde versucht, einzelne Elemente einer solchen Menschenkunde aufzuzeigen. Die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllen sie jedoch erst dann, wenn sie im Erkennenden und Handelnden nicht bloß Gedankenvorstellungen über die soziale Welt und die in ihr lebenden Menschen bilden, sondern zu Organen einer neuen Aufmerksamkeit für diese Welt werden; zu einer solchen Aufmerksamkeit, die nach und nach von der äußeren Anschauung dieser Welt zur Anschauung der sie gestaltenden Kräfte vordringt. Das aber heißt: Auch auf diesem Felde muß zunächst diejenige Umwandlung des gewöhnlich betätigten vorstellenden Denkens angestrebt werden, von der Rudolf Steiner in vielen seiner Schriften und Vorträge, nicht zuletzt in seinen Vorträgen zur sozialen Frage, spricht.[3]

Es ist gewiß richtig, daß eine Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft auch zur Schaffung neuer sozialer Einrichtungen führen muß. Aber es kommt alles darauf an, daß diese Einrichtungen nicht ideologisch ausgedacht, agitatorisch durchgesetzt und dann lediglich noch verwaltungstechnisch installiert werden,

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 32]

sondern daß sie aus der konkreten sozialen Situation schöpferisch entwickelt werden. Dazu aber bedarf es einer Vorbereitung: der Ausbildung jenes „erblickenden Denkens“ als einer Wahrnehmungsfähigkeit für die dreifach verschiedene Mitmenschlichkeit, von der hier die Rede war.[4]

Anmerkungen

[1] Er knüpft damit an den Aufsatz „Soziale Dreigliederung: eine Methodenlehre“ und den Beitrag „Zum Gespräch über soziale Dreigliederung“ in den im Dezember 1973 und im April 1977 erschienenen Heften der „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“ an, kann aber ebensogut als Ausgangspunkt zum besseren Verständnis jener Ausführungen aufgefaßt werden.

[2] Vgl. zum letzteren auch den Beitrag „Praktizierte Brüderlichkeit“, abgedruckt in „Aus der Arbeit der Gemeinschaftsbank“, Bochum, August 1977

[3] Vgl. dazu auch: Christof Lindenau, Der übende Mensch. Anthroposophie-Studium als Ausgangspunkt moderner Geistesschulung, Stuttgart 1976

[4] Für eine geisteswissenschaftliche Vertiefung des hier Vorgebrachten darf auf die drei folgenden in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ erschienenen bzw. noch erscheinenden Aufsätze des Verfassers hingewiesen werden: „Menschenbegegnung als soziales Urphänomen“ (55. Jg., Nr. 38), „Wie wir durch unsere Menschennatur mit anderen Menschen verbunden sind“ (56. Jg., Nr. 26) und „Meditativ erarbeitete Menschenkunde und soziale Dreigliederung“.

[Beiträge, Jahrgang 18, Heft 31, Seite 33]