Rudolf Steiner als Denker des Wirtschaftslebens?

05.01.2007

Hundert Jahre anthroposophischer Sozialimpuls – Ein Plädoyer für viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit neuen Ideen

Das Jahr 2006 ist als 100.Geburtstag des anthroposophischen Sozialimpulses gefeiert worden. In vielen Teilen der Welt fanden Veranstaltungen statt, die uns an den Beitrag erinnern sollten, den Rudolf Steiner zu unserem Verständnis des modernen Lebens geleistet hat. Die Zeitschrift Associative Economics Monthly richtet ihren Blick auf Rudolf Steiners zentrale Beiträge zum ökonomischen Denken. Arthur Edwards befasst sich in einem speziellen Artikel für NNA mit dem Ökonomen Rudolf Steiner.

LONDON (NNA). Rudolf Steiner als Ökonom ist nicht sehr bekannt, sogar bei denen, die sein Werk in anderen Gebieten schätzen. Wenn man seine Verdienste hier darstellen will, muss man seinen Beitrag zur Sozialwissenschaft im allgemeinen und zur Ökonomie im besonderen begründen.

Die Ökonomie spielt eine grundlegende (allerdings oft obskure und problematische) Rolle bei der Art, wie wir unsere Gedanken gestalten und damit auch unser Leben. Der wirkliche Verdienst von Steiners Werk wird deutlich, wenn man die Geschichte des ökonomischen Denkens im Überblick betrachtet und bemerkt, wie er in seiner historischen Analyse, seiner Methodologie und Theorie des Werts die Grundlagen für eine Ökonomie legt, die auch die unsichtbaren Phänomene einschließt, mit denen sich die Dißiplin weitgehend befasst. Wenn man sein soziales Hauptgesetz würdigt, ist es lehrreich, es in Zusammenhang zu bringen mit zwei anderen Gesetzen oder Theoremen, die zusammen eine Trinität bilden:

Das grundlegende soziologische Gesetz – 1898: In den frühen Stadien der kulturellen Evolution neigt die Menschheit zur Bildung sozialer Einheiten, ursprünglich wird das Interesse des Individuums den Interessen dieser Gruppierungen geopfert. Die weitere Entwicklung führt zur Emanzipation des Individuums von den Interessen der Gruppe und schließlich zur unbeschränkten Entwicklung der Notwendigkeiten und Fähigkeiten des Einzelnen.

Das grundlegende soziale Gesetz – 1906: Das Wohlergehen einer ganzen Gemeinschaft von Menschen, die zusammenarbeiten, ist umso größer, je weniger das Individuum die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selbst beansprucht, d.h. je er mehr von seinen Produkten an seine Kollegen weitergibt und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht durch seine eigenen Anstrengungen, sondern durch die der anderen befriedigt werden.

Das Theorem vom „gerechten Preis“ – 1922: ein „gerechter Preis“ entsteht, wenn eine Person als Gegenleistung für das erzeugte Produkt soviel erhält, wie sie braucht, um alle ihre Bedürfnisse und die ihrer Angehörigen solange zu befriedigen, bis das Produkt erneut hergestellt ist.

Diese drei „Gesetze“ sind prägnante Formulierungen von Ideen, die unsere volle Aufmerksamkeit verdienen. Wenn man sie nur wie Mantren herunterbetet, besteht die Gefahr, dass sie zu Slogans werden, die einer seriösen ökonomischen Wirtschaftswissenschaft nichts hinzufügen können. Ein Weg, um dieser Gefahr zu entgehen, besteht darin, sich zu fragen, inwieweit Steiners Einsichten auch von anderen Autoren beschrieben werden, wenn auch von andersartigen Positionen aus. Diese Übung zeigt uns auch, an welcher Stelle sein Beitrag besonders und einzigartig ist wie z.B. beim Theorem des gerechten Preises – ein Konzept, das es im höchsten Maße verdient, von uns heute zur Kenntnis genommen zu werden.

Die Idee der gerechten Preisbildung (und mit ihr die Idee des assoziativen Wirtschaftens) ist der Grundstein von Steiners ökonomischen Denken, durch das alle falschen Konzepte der modernen Wirtschaft Schritt für Schritt ersetzt werden. Wettbewerb, die Kräfte des Marktes und die unsichtbare Hand (ein Bild von Adam Smith, um zu illustrieren, wie diejenigen, die in einer von Wettbewerb geprägten freien Marktwirtschaft ihr eigenes Interesse verfolgen, gleichzeitig dem allgemeinen Wohl und dem Nutzen der Gesellschaft dienen) müssen unvermeidlich Platz machen für die Einsicht, dass das globalisierte Wirtschaftleben ein die gesamte Menschheit umfassendes Unternehmen ist, das bewusst und in einem assoziativen Geist angegangen werden muss.

Aber schauen wir uns zunächst das soziale Hauptgesetz an. Es basiert auf Steiners soziologischer Analyse, die die Menschheit auf einem langen Weg sieht. Er beginnt mit Lebensformen, in denen das Individuum nicht wichtig war, und geht durch die Erfahrung von Individualisierung und Spezialisierung hindurch hin zu einer Situation, in der eine neue Gemeinschaft herausgebildet werden muss, die aus der schöpferischen Initiative der individuellen Arbeit in Zusammenwirken mit den Mitmenschen geboren wird. Dieser lange Weg der Individuation ist begleitet von einer immer weiter fortschreitenden Arbeitsteilung, die ihren Ausdruck im sozialen Hauptgesetz findet. Denn das, was eine Person produziert, wird von den anderen konsumiert und was sie selbst verbraucht, wird von den anderen hergestellt.

Gesunde Wirtschaftsformen verlassen sich darauf, dieses Gesetz in der Praxis anzuerkennen – indem zum Beispiel jemand nicht versucht, etwas zu tun, was andere effektiver tun können. Indem er dies tut, erkennt er die Arbeit der anderen an und würdigt sie. Er selbst stellt mit seiner Arbeit Produkte und Dienstleistungen her, die für die anderen von Nutzen sind. Dies schlägt der modernen Do-it-yourself-Kultur direkt ins Gesicht, in der Praxis heißt es aber, dass jeder Mensch auswählen kann, welchen individuellen Beitrag er leistet.

In zwei Essays, die 1905 und 1906 veröffentlicht worden sind, („Geisteswissenschaft und die Soziale Frage“ und „Brüderlichkeit und der Kampf um die Existenz“) zeigt Steiner die Notwendigkeit auf, widersprüchliche Impulse im sozialen Leben anzuerkennen, einer davon ist selbstbezogen, der andere altruistisch. Für Steiner ist es notwendig, dass das Wirtschaftsleben frei ist von „moralischer Schärfe“ und dass ökonomische Fragen nicht mit moralischen vermischt werden – Moral kann nicht von außen gegeben werden, sondern sie liegt im Ermessen des freien Individuums.

Das heißt, dass die Verwendung der Begriffe selbstbezogen und altruistisch eine erklärende Bezeichnung darstellen und keine moralische Ermahnung. Man sollte sich fragen, wo ist Selbstbezogenheit angemessen im wirtschaftlichen Leben und wo sollte die Sorge um das Wohl der anderen das leitende Prinzip sein? Während man nur für sich selbst essen kann, ist Arbeit, die im Zeichen der Arbeitsteilung stattfindet, immer Arbeit für andere.

Ein unaufmerksamer Leser könnte nun in die Falle stolpern und denken, man sollte entweder Altruismus oder Egoismus den Vorzug geben, aber Steiners Analyse weist auf die Notwendigkeit von beidem im ökonomischen Leben hin; ohne Konsumtion besteht keine Notwendigkeit, zu produzieren. Ebenso sollten das Ethos des Dienstleistungssektors mit seiner Leistungsbereitschaft und Kundenorientierung nicht als großes moralisches Prinzip aufgefasst werden, sondern lediglich als Beispiele für ein Denken, das dem modernen Wirtschaftsleben angemessen ist.

Wenn in der Ökonomie moralisiert wird, zeigt dies einfach nur, dass man das Thema nicht wirklich trifft, sondern es nur benutzt, um anderen seinen Standpunkt aufzudrängen. Dies schafft eine Gegensätzlichkeit, die zum einen unproduktiv ist, zum andern auch Steiners Denken und seine Reputation beeinträchtigt, mit der in der englischsprachigen Welt mit viel Fingerspitzengefühl umgegangen werden sollte. Steiner ist wenig bekannt und man muss seine oft sehr direkte Kritik an konventionellen Haltungen und Praktiken eher tiefer hängen genau wie seine vielen eindeutigen Kommentare gegenüber dem anglo-amerikanischen Denken und Handeln.

Damit Steiner als Ökonom bekannter wird, kann man ihn nicht den Menschen um die Ohren schlagen. Auch sollte man den Zeitgenossen nicht den Teppich unter den Füßen wegziehen, indem man das volle Ausmaß seiner Kritik an der modernen Wirtschaft ausbreitet, die wenig hilfreich ist. Es ist sicher besser, differenziert wahrzunehmen, was die Leute heute denken, als zu versuchen, ihr Denken und ihre Lebensweise wegzudrängen und durch etwas anderes zu ersetzen.

Das ist jetzt nicht pragmatisch zu sein oder bedeutet, Steiner zu verleugnen. Es heißt nur, sich bewusst zu sein, wieviel sich seit seiner Zeit verändert hat und welche Fragen die Menschen heute auf dem Gebiet der Ökonomie bewegen, auch wenn sie sich dieser Fragen vielleicht gar nicht bewusst sind. Außerdem besteht oft eine Esoterik eher „zwischen den Zeilen“ im angelsächsischen Denken hinsichtlich des ökonomischen Lebens. Natürlich gibt es auch viele, die sich gut auskennen mit der Natur des esoterischen Lebens.

Die Herausforderung für alle, die Steiners Ideen auf diesem Gebiet bekannter machen wollen, besteht darin, sich bewusst zu machen, welche seiner Ideen zentral sind und wie sie in einer angemessenen Art und einem entsprechenden Stil kommuniziert werden können. Wir werden keinen Fortschritt machen, wenn wir versuchen, ökonomische Konzepte abzuwerten, die wir widersprüchlich finden (zum Beispiel solche, die aus neoliberalem Denken hervorgegangen sind) und sie einfach durch Konzepte ersetzen, die für Steiner Schüler besser zu passen scheinen wie „Dreigliederung“ oder „Geistesleben“ und die weit davon entfernt sind, die Welt klüger zu machen, sondern – was noch schlimmer ist – Ablehnung hervorrufen.

Zum Beispiel kann eine Verbrauchssteuer auch als Rückschritt betrachtet werden und Schenkungsgeld als eine finanzielle Abhängigkeit. Um Steiners Sache gut zu vertreten, muss man sich mit anderen Wirtschaftswissenschaftlern auseinandersetzen, mit Sozialwissenschaftlichern und Suchern der Wahrheit, um über die Wirklichkeit hinter den Dingen nachzudenken, auch wenn diese Aufgabe noch so undankbar und mühsam erscheinen mag.

Indem man bereit ist, sich zurück zu nehmen, lässt man den Menschen den Raum, den sie brauchen, um ihre eigenen Lösungen zu finden und sie auch mit ganzem Herzen in die Tat umzusetzen.


Steiners ökonomisches Denken wird breiter dargestellt in „Associative Economics Monthly“, einer Publikation, die von Christopher Houghton Budd und Arthur Edwards gemeinsam herausgegeben wird. Sie kann über ihre Website abonniert werden (www.cfæ.biz/æm) oder durch Fax und Telefon +44(0)1227 738207.

Schriftliche Beiträge sind auch erwünscht von allen, die sich mit der Entwicklung von Rudolf Steiners Sozialimpuls verbinden. Arthur Edwards erstellt außerdem eine elektronische monatliche Übersicht, die Nachrichten bringt zu Ereignissen oder Themen aus der Sicht einer assoziativen Wirtschaft zusammen mit Außügen aus Associative Economics Monthly. Um die monatliche Übersicht zu erhalten, senden Sie eine Email an: arthur@talkingeconimcs.com, Betreff: subscribe.

Arthur Edwards ist Mitglied in der Ökonomischen Konferenz (Economics Conference) der Sozialwissenschaftlichen Sektion an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Er arbeitet vor allem über assoziatives Rechnungswesen und dessen Verständlichmachen, vor allem für Schulen. Er koordiniert das Talking Economics Projekt, hat ein Diplom in Assoziativem Wirtschaften und plant eine Studie über Rudolf Steiners Idee zu den drei Arten von Geld im Rechnungswesen.

Weitere Literatur:

Rudolf Steiner & Christopher Houghton Budd, Rudolf Steiner, Economist, New Economy Publication 1996

Rudolf Steiner „Social and Political Science“, Sophia Books, Rudolf Steiner Press 2003

Rudolf Steiner „Economics“, New Economy Publication 1996

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