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Das 20. Jahrhundert in all seinen Extremen gelebt
Kongress zum 100.Geburtstag des „Partisanenprofessors“ Wolfgang Abendroth in Frankfurt – Auch die Altlinken setzten auf die Aktivitäten der Zivilgesellschaft
Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner
Frankfurt (NNA). Die „politische und rechtliche Zähmung des Kapitalismus steht dringlicher denn je auf der Agenda“. Mit diesem Satz machte der Nestor der deutschen kritischen Sozialwissenschaft, Prof. Jürgen Habermas am Wochenende auf dem Kongress zum 100.Geburtstag von Wolfgang Abendroth in Frankfurt deutlich, dass die Kritik der herrschenden Wirtschaftsordnung für die heutige Sozialwissenschaftler keinesfalls vom Tisch ist, auch wenn der Neoliberalismus derzeit weltweit den Sieg davonzutragen scheint. Redner aus dem Bereich der DBG-Gewerkschaften und der linken Sozialwissenschaft würdigten den Juristen und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth als einen der großen „intervenierenden sozialistischen Intellektuellen“ des 20.Jahrhunderts, sowohl im Widerstand gegen Hitler, gegen den Stalinismus in der DDR als auch als einer der wenigen marxistisch orientierten Hochschullehrer der Bundesrepublik, der schließlich einer der Gründerväter der Studentenbewegung wurde. Habermas verdankt Abendroth auch seine in die Literatur eingegangene Bezeichnung als „Partisanenprofessor im Land der Mitläufer“.
Der „einsame aber erfolgreiche Kampf“ Abendroths könne der Enkelgeneration als Wegweiser dienen, meinte Habermas vor rund 400 überwiegend älteren Teilnehmern des Kongresses, der weniger als nostalgische Gedenkveranstaltung, als vielmehr – ganz im Sinne Abendroths – als ein Kongress über heutige Möglichkeiten einer Veränderung der Gesellschaft in Richtung auf mehr Teilhabe und Humanität gedacht war. Zu keiner Zeit seines „widerständigen“ Lebens habe Abendroth die Konfrontation mit dem Mainstream gescheut, auch wenn er dadurch seinen Ausschluss aus SPD und Gewerkschaften bewirkt habe und zum politischen und wissenschaftlichen Outcast geworden sei.
Habermas stellte aber auch die Frage, wie ein „so verletzbares Gemüt“ eine solches Leben gegen den Strom habe ertragen können. Damit meine er noch nicht einmal Verfolgung, Haft und Folter in der NS-Zeit, sondern das alltägliche Leid in der Zeit des Kalten Krieges der 50er und 60er Jahre, wo selbst Abendroths Familie bis hin zu den Kindern auf dem Schulhof Demütigungen und Angriffen ausgesetzt gewesen seien. Anwesend bei der Veranstaltung war auch hoch betagt Abendroths Frau Lisa, die sein Anliegen, den Kampf „gegen den Rückfall der Menschheit in die Barbarei“, geteilt und ihm in all den Jahren unerschütterlich zur Seite gestanden hatte. Erst mit der Studentenbewegung, war Abendroths Isolierung aufgebrochen worden, wurde er durch seine persönliche Integrität zum Vordenker einer ganzen Studentengeneration und der sogenannten „Marburger Schule“ in der Politikwissenschaft.
Nun komme es darauf an, Abendroths Gedanken in das 21. Jahrhundert zu tragen. Dabei nannte Habermas vor allem die Frage nach einer zeitgemäßen Gestaltung des Sozialstaates sowie die Konsequenz aus dem Scheitern des Staatssozialismus. Abendroth habe bereits früh darauf hingewiesen, wie unregulierte Märkte zu einer Zusammenballung wirtschaftlicher Macht führten, die ihrerseits die Demokratie gefährde.
Der „organische Intellektuelle“
Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall, Jürgen Peters, ging auf Abendroths Bedeutung als Jurist und Rechtstheoretiker ein, der sich um die Interpretation des Grundgesetzes verdient gemacht habe, vor allem hinsichtlich der Menschenrechte und des Sozialstaatsgebots. Peters unterstrich die Bedeutung der deutschen Verfassung als Ausdruck einer grundlegenden Neuordnung und Konsequenz aus der NS-Zeit.
Auch die beiden anderen Redner der Auftaktveranstaltung, Dr. Alex Demirovic (Frankfurt) und Prof. Frank Deppe (Marburg) zeichneten in ihrer Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ein Bild des dramatischen Umbruchs, von „Turbokapitalismus“ ohne Grenzen war die Rede und von erstaunlich wenig Gegenwehr. Wie kann unter diesen Bedingungen die Kontinuität in der Tradition marxistisch orientierter Wissenschaft gewahrt werden, fragte Demirovic. Im Gegensatz zu anderen Ländern der Welt sei die linke akademische Tradition in Deutschland immer eine Randerscheinung gewesen. Durch den Generationswechsel und die Reformen an den Hochschulen entfalle nun zunehmend auch der letzte bescheidene Schutzraum für gesellschaftskritische Tendenzen.
Prof. Frank Deppe – Nachfolger auf Abendroths Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität Marburg – untersuchte die Bedingungen für die Wirksamkeit von Ideen jenseits des Mainstream in der heutigen Zeit mithilfe der Kategorie des „organischen Intellektuellen“ des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. Von Gramsci stammt auch der Begriff der „Zivilgesellschaft. Nach der Begrifflichkeit Gramscis schaffe sich jede gesellschaftliche Klasse ihre „organischen Intellektuellen“. Auch der Neoliberalismus habe erkannt, dass es darauf ankomme, diese „second hand dealers in ideology“ für sich zu gewinnen. Insofern sei das Beispiel des großen „intervenierenden sozialistischen Intellektuellen“, das Abendroth in Theorie und Praxis gegeben habe, unter den heutigen Zeitumständen nicht mehr kopierbar.
Notwendigkeit neuen Denkens wurde deutlich
Mit dem Satz „Die Arbeiterbewegung existiert nicht mehr“ formulierte Deppe deutlich die Notwendigkeit grundsätzlich neuer Ansatzpunkte für den „organischen Intellektuellen“, der sich wie ehedem Abendroth an der Seite der „Subalternen“ und ihrer Kämpfe sieht. Die neoliberale Hegemonie habe zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer dramatischen Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Kapitals in der Welt geführt, der kein Pendant im politischen Handeln gegenüberstehe. Angesichts des geringen Widerstands der Betroffenen spricht die heutige Sozialwissenschaft sogar von einer „Passivitätskrise“. Dem gab Deppe aber nur teilweise recht. Der „Turbokapitalismus“ erzeuge auch neue Formen des Widerstands sagte er und verwies auf die sich entwickelnden Sozialforen und der Organisation der Zivilgesellschaft in und außerhalb von Europa.
Die „tiefgreifende Umbruchkrise“ sei bisher nicht verarbeitet worden, mehr Wissen sei notwendig, um dies zu leisten. Deppe rief die Gewerkschaften auf, sich dieser Aufgabe mehr zu stellen, die „lebensnotwendig“ sei. Es gelte, „Thinktanks“ der Gewerkschaften auszubauen und sich mehr den kritischen und alternativen Projekten zu öffnen, forderte der Marburger Politologe. Als Beispiel dafür, wie allgemeiner gesellschaftlicher Widerstand durch neoliberale Übergriffe hervorgerufen werde, wurde in der anschließenden Diskussion die Situation in Frankreich genannt, wo vor kurzem Studentenproteste in einen Generalstreik gemündet hatten. Auf die Frage, warum dies in Deutschland nicht möglich sein, antwortete Deppe mit dem Hinweis: „Wir können soziale Bewegungen nicht machen.“
Es sei eine Vielzahl von Faktoren dafür verantwortlich, dass „Druck von unten“ entstehe. Wenn jetzt Reste der alten Linken mit jungen Leuten und anderen zusammenkämen, könne es gelingen, dem „gewaltigen Rollback“ etwas entgegenzusetzen. Für das Entstehen einer solchen Bewegung seien aber auch kulturelle Faktoren maßgebend. „Die Stones und die Beatles haben vielleicht bei der Studentenbewegung eine größere Rolle gespielt als der SDS“ (der Sozialistische Deutsche Studentenbund), meinte Deppe und verwies damit auf die Wirkungskraft ideeller Faktoren bei der Entstehung sozialer Bewegungen.
Abendroths Biographie – dies wurde in der Veranstaltung immer wieder deutlich – steht beispielhaft für ein Durchleben des 20.Jahrhunderts in all seinen Extremen. Kommunistische Jugendorganisation in der Weimarer Zeit, Tätigkeit im Widerstand nach der Machtergreifung, Verhaftung 1937, Folter, der nicht nachgegeben wurde, vier Jahr Zuchthaus, Strafbataillon 999, als Soldat in Griechenland zu den Partisanen übergelaufen – dies sind Stichworte zu einem ungewöhnlichen deutschen Lebenslauf, der sich auch nach dem 2.Weltkrieg fortsetzt. Wechsel von Ost- nach Westdeutschland, Berufung auf Professuren in Halle und Marburg, Mitgliedschaft in der SPD bis zum Ausschluss wegen Unterstützung der rebellierenden Studenten.
Abendroth blieb in jeder Organisation der unabhängige, unbequeme Denker. Für ihn hatten Wissenschaft und Erkenntnis stets auf der Seite der weniger Privilegierten zu stehen. Aufgrund seiner Familientradition fand er seinen Platz in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Seine „Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung“ ist auch heute noch ein Standardwerk.
Quelle: NNA