Jean-Pierre Chevènement und die Staatsnation

22.05.2000

Der französische Innenminister Jean-Pierre Chevènement ist wegen seiner Kritik am europäischen Föderationsplan Joschka Fischers selber in die Kritik geraten. Es geht dabei vor allem um seine Aussage, wonach "Deutschland die Tendenz hat, den Begriff der Nation zu verteufeln, weil es noch von der Entgleisung geprägt ist, die der Nationalsozialismus in seiner Geschichte dargestellt hat".

Diese Aussage ist so verstanden worden, dass Chevènement damit Fischer in die Nähe des Nationalsozialismus rücken wollte. Dieser Vorwurf ist aber unbegründet. Was ihn an Fischer stört, ist gerade dessen Abneigung gegen jede Form des Nationalismus.

Für Chevènement gibt es zwei Formen des Nationalismus. Neben dem entgleisenden deutschen Nationalismus, gibt es auch den gesunden französischen Nationalismus. Deutschland steht nämlich traditionell für einen "ethnischen" Begriff der Nation, während Frankreich unter Nation die politische Bürgernation versteht. Fischer darf also den deutschen Nationalismus hinter sich lassen. Chevènement lobt daher ausdrücklich den Einsatz Fischers für das neue deutsche Staatsbürgerrecht, das die Staatsbürgerschaft nicht mehr so stark von der "ethnischen" Herkunft abhängig macht. Mit seinem europäischen Föderationsplan stellt aber Fischer auch den französischen Nationalismus, nämlich die nationale Souveränität, die sogenannte nationale Freiheit in Frage. Dagegen wehrt sich Chevènement. Fischer darf ruhig aus seiner Geschichte lernen. Die Franzosen haben aber nichts mehr zu lernen. Das Traurige an der "Geschichte" ist, dass die europäische Föderation Fischers genauso rückwärtsgewandt ist, wie die französische Nation Chevènements.

Als es in Frankreich vor einem Jahr endlich darum ging, den Anforderungen der Europarats-Charta über Minderheitensprachen gerecht zu werden, stellte sich neben dem Verfassungsgericht ausgerechnet Chevènement quer. Die traditionelle Ausgrenzung der Minderheitensprachen begründete er mit der Gefahr einer Balkanisierung Frankreichs. Seine Bürgernation kennt eben nur die nationale Freiheit, aber nicht die Freiheit des Einzelnen, seine Kultur selbst zu bestimmen. Seiner Nation wird das Wesentliche genommen, wenn sie dem Individuum kulturelle Souveränitätsrechte übertragen muss. Was bringt die Beschränkung der Nation auf das rein Politische, wenn sich das Politische nicht auf das eigentlich Politische beschränkt, sondern sich massiv in kulturelle Fragen einmischt, wie in Frankreich ? Was ist dort nicht alles "national", von der Verteidigung bis zur Erziehung!

Fischer ist schon eher bereit, nationale Souveränitätsrechte zu übertragen. Nur überträgt er sie auf neue politische, nämlich europäische Instanzen. Das ist an sich kein Problem. Das lenkt aber vom eigentlichen Problem ab. Die europäische Freiheit wird dadurch nicht individueller als die bisherige nationale Freiheit. Und ob die europäische Brüderlichkeit einer weltweiten Brüderlichkeit näher kommt als die ehemalige nationale Brüderlichkeit, ist auch zu bezweifeln.