Soziale Zukunft jetzt ! Ein gut gemeinter Aufruf

05.10.2017

Bisher hatte sich die anthroposophische Gesellschaft nur dann zur Politik geäussert, wenn die Politik Anstalten machte, ihr an den Kragen zu gehen. Das hatte mit ihrem Selbstverständnis als einer freien und damit unparteiischen Erkenntnisgemeinschaft zu tun. So konnte sie für jeden offen bleiben. Die Distanzierung von der Politik fiel den meisten ihrer Mitglieder aber umso leichter, als sie sich für gesamtgesellschaftliche Fragen wenig bis gar nicht interessierten. Diesen Mitgliedern ging die persönliche geistige Entwicklung über alles. Und sie sorgten mit ihrem Übergewicht dafür, dass Menschen, die über ihrer geistigen Entwicklung nicht die Welt aus den Augen verlieren wollten, kaum daran dachten, in die anthroposophische Gesellschaft einzutreten.

In den letzten Jahren sind die Folgen des Mitgliederschwunds so deutlich geworden, dass die Leitung der deutschen anthroposophischen Gesellschaft alte Gewohnheiten über Bord wirft. Es soll wieder Anschluss an die gesellschaftlichen Fragen gefunden werden. Man versucht aber nicht nur diese Fragen in die anthroposophische Gesellschaft hereinzunehmen. Und man tritt nicht nur – wie Rudolf Steiner vor hundert Jahren – im eigenen Namen nach aussen mit Antworten auf diese Fragen auf, sondern als anthroposophische Gesellschaft. Man gibt damit den Anspruch auf, eine freie Erkenntnisgemeinschaft zu sein.

Die Unterschrift der deutschen anthroposophischen Gesellschaft und der sozialwissenschaftlichen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum unter dem Aufruf Soziale Zukunft jetzt ist Ausdruck dieser Selbstaufgabe. In diesem Aufruf werden Forderungen an die Politik gerichtet. Sein Ziel ist nicht, Eingriffe der Politik in die Freiheit der eigenen Erkenntnisgemeinschaft zurückzuweisen. Man wehrt sich nicht dagegen, politisiert zu werden, sondern fängt selber an zu politisieren.

Die anthroposophische Gesellschaft würde mit den im Aufruf gestellten Forderungen an die Politik sich auch dann selbst verraten, wenn jede einzelne Forderung von jedem einzelnen gegenwärtigen Mitglied mitgetragen werden würde. Einigkeit im Geiste muss ein offener Prozess bleiben, sonst werden diejenigen ausgeschlossen, die jetzt vielleicht noch nicht so weit sind oder vielleicht umgekehrt schon weiter sind und deswegen die eine oder die andere dieser Forderungen für blosse Scheinlösungen halten.

Die anthroposophische Gesellschaft wird erst dann zu einer sozialen Zukunft beitragen, wenn genügend ihrer Mitglieder sich im gleichen Maße für gesellschaftliche Fragen interessieren, wie für ihre eigene geistige Entwicklung. Von diesen Mitgliedern werden viele, gerade in der Absicht, ihr Interesse für solche Fragen auszudrücken, den Aufruf Soziale Zukunft jetzt persönlich unterschreiben. Wird ihnen aber nicht klar, wie bedenklich die Unterschrift der anthroposophischen Gesellschaft unter diesem Aufruf ist, dann muss man sich um die Zukunft trotzdem ernsthaft Sorgen machen.

Stand: 12.10.2017

Zum Aufruf Soziale Zukunft jetzt

 

Veröffentlichungen

  • Gegenwart 4/2017, S. 52-53
  • Europäer Februar 2018, S. 34 (mit einem gutgemeinten Einleitungstext von Hans-Jürgen Römmeler)