Graffiti als unterdrücktes Potential
Von Sprayern hört man eigentlich nur, wenn sie bei ihrem illegalen Kunstschaffen erwischt werden. Anders „Puber“, ein Zürcher, der sich dem Tages Anzeiger nach einem vernichtenden Artikel über seine Tätigkeit für ein Interview zur Verfügung gestellt hat. Er äussert sich darin über die Motivation seiner Graffitis, dass „er überall seinen Namen sehen will – auf jeder Wand.“ Dieses Interview hat viele zu unterschiedlichsten Stellungnahmen provoziert, was man an den 135 Kommentaren in der Onlineausgabe der Zeitschrift sehen kann, welche in weniger als einer Woche entstanden sind.
Obwohl Graffiti durch die Hiphop-Bewegung an grosser Popularität gewann, ist das gesetzwidrige Gestalten des öffentlichen Raumes eine uralte Ausdrucksweise und reicht von den beschrifteten Toilettenhäuschen und Telefonbüchern in öffentlichen Telefonzellen bis zur Errichtung von phantasievollen Skulpturen. Was in der breiten Öffentlichkeit nur auf Unverständnis stösst, erklärt sich durch die Dreigliederung des sozialen Organismus als die gewaltsame Äusserung eines unterdrückten Gesellschaftsgliedes. Es handelt sich hierbei um nichts anderes, als um eine verkappte Ausdrucksweise der „Freiheit im Geisteslebens“. Der Aufwand und die Materialkosten, die ein Sprayer oder andrer sogenannter „Streetartist“ für seine Kunst betreibt, ist nichts gegen die Anerkennung, die er nur in einem sehr kleinen Kreis von Eingeweihten dafür erntet. Dieses Phänomen lässt sich nur erklären, wenn man einsieht, dass der Mensch sich nicht mit einem staatlich bestimmten Geistesleben zufrieden geben kann. Solche starke Individualisten besitzen zum Teil zweifellos grosses Potential, das aber erst in einer gesellschaftlichen Gliederung zur Geltung kommen kann, in der die kulturelle Selbstbestimmung nicht unterdrückt wird.
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