Sitzenbleiben als kontraproduktives Abstrafen

12.02.2002

Im Streit um das Sitzenbleiben in der Schule hat die Vorsitzende des Bundeselternrates, Renate Hendricks, nachdrücklich pädagogische Reformen angemahnt. Das bloße "Abstrafen" von Schülern durch das Wiederholen eines Jahres sei "völlig unsinnig", sagte Hendricks. Bei gefährdeter Versetzung sei vielmehr gezielte Hilfe für den Einzelnen notwendig. Dies habe der jüngste internationale Schulleistungstest "Pisa" eindeutig nachgewiesen.

Die deutsche Schule brauche deshalb eine "Förderkultur statt der bisherigen Selektionskultur", sagte Hendricks. Es sei falsch, Schüler ohne Förderung einfach nur zum Wiederholen einer Klasse zu "verurteilen". Dies zeige für ihren weiteren Lernerfolg wenig Wirkung. Der Schüler werde aus seiner Gruppe herausgerissen. "Zum Faktor Langeweile kommt hinzu, dass die Schüler oft gehänselt werden oder sich zum Klassenclown entwickeln", sagte Hendricks.

Sinnvoll sind nach den Worten der Bundeselternrats-Vorsitzenden auch die in einigen Bundesländern praktizierten Nachprüfungen. Schaffe der Schüler eine solche Prüfung, löse dies oft einen "Motivationsschub" aus, der meist noch Monate nachwirke.

Hendricks kritisierte die Position des sächsischen Kultusministers Matthias Rößler (CDU), der in der Sitzenbleiber-Debatte vor "Kuschel-Pädagogik" gewarnt hatte. "Rößler hat eine falsche Vorstellung von Pädagogik", sagte Hendricks. Dies gilt leider nicht nur für ihn, sondern möglicherweise auch für eine Mehrheit der deutschen Eltern, die sich leicht durch falsche Alternativen täuschen lassen.

Das Forsa-Institut hat nämlich heute die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage veröffentlicht, wonach nur 16 Prozent der Deutschen dafür sind, Schüler trotz schlechter Noten zu versetzen. Eine deutliche Mehrheit (79 Prozent) will das Sitzenbleiben beibehalten. Die Fragestellung war aber genauso tendenziös wie der Auftraggeber, die konservative TV-Zeitschrift "Bildwoche". Die Frage hätte lauten müssen, ob gezielte Förderung sinnvoller sei als pauschales Wiederholen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatte in der vergangenen Woche mit ihrer Forderung nach Abschaffung des Sitzenbleibens eine breite pädagogische Debatte ausgelöst. Jedes Jahr drehen in Deutschland rund 250 000 Schüler eine so genannte Ehrenrunde. Jeder vierte Schüler bleibt im Lauf seiner Schulzeit mindestens einmal sitzen. Kein Schulsystem eines anderen Industrielandes hat eine so hohe Sitzenbleiber-Quote.

Die niedersächsische Kultusministerin Renate Jürgens-Pieper (SPD) hat Anfang Februar dem Vorschlag der GEW unter der Bedingung zugestimmt, dass es eine breite Zustimmung von Eltern und Lehrern gäbe. Bei ihren Länderkollegen und Lehrerverbänden ist sie damit größtenteils auf Unverständnis gestoßen. Die suggestive Meinungsumfrage wird ihr wahrscheinlich den Rest geben.

Ihre Bedingung hat Renate Jürgens-Pieper auch falsch gestellt. Entscheidend ist nämlich nicht, ob es eine breite Zustimmung von Eltern und Lehrern gibt, sondern ob es genug Eltern und Lehrer gibt, die ihre Schulen nach dem neuen Prinzip einrichten wollen. Sie bräuchten sich dann nur zusammentun, statt auf eine Mehrheit zu warten, die bei einer veralteten Vorstellung von Pädagogik stehen geblieben ist. Man denke sich nur, wie die Eltern reagieren würden, wenn ihr Kind deswegen sitzenbleiben müßte, weil die Mehrheit seiner Kameraden das Klassenziel nicht erreicht hat. Pädagogik ist eine individuelle, keine demokratische Frage.