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Renate Riemeck – Historikerin, Pädagogin, Pazifistin
Eine Rezension von Angelika Oldenburg
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung
Renate Riemeck war eine anthroposophische Historikerin, deren Forschungen, vor allem über Mitteleuropa, für Dreigliederer anregend sein können. Albert Vinzens‘ Biographie ist ein unverzichtbares Standardwerk für jeden, der sich für Renate Riemeck interessiert, als Zeitgenossin, als Denkerin, als Anthroposophin.
Angelika Oldenburg
Renate Riemeck (1920-2003) ist unter vielen Gesichtspunkten interessant. Spektakulär: Sie war die Pflegemutter der „Terroristin“ Ulrike Meinhof. Politisch: Sie war eine aufmerksame Beobachterin des Kalten Krieges und gehörte in den fünfziger Jahren zu den Gründerinnen einer pazifistischen Partei, der DFU. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands betreffend: Sie war die erste Professorin, der hier ein Berufsverbot auferlegt wurde. Sie war links, Anthroposophin, Feministin, Goetheanistin, Pazifistin, sie erforschte die Ketzerbewegung und die Entwicklung Mitteleuropas, die Geschichte der Konzilien und die Französische Revolution. Sie bleibt „fragwürdig“: Noch heute steht sie unter dem Verdacht, ihre Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen heruntergespielt zu haben; unter dem Verdacht, Ulrike Meinhof seelisch manipuliert zu haben. (So Jutta Ditfurth in ihrer Biographie über Ulrike Meinhof, Berlin 2007)
Renate Riemeck selbst hat in den 90er Jahren eine sehr schöne kurze Autobiographie geschrieben unter dem kräftigen Titel „Ich bin ein Mensch für mich“. Dies war ein Ausspruch der Fünfjährigen. Nun aber hat Albert Vinzenz die erste große, sehr gründlich recherchierte Biographie über sie geschrieben. Diese Biographie ist die Grundlage des folgenden Textes.
Renate Riemeck wurde 1920 in Breslau geboren. Ihre Kindheit ist geprägt von der unglücklichen Ehe der Eltern und mehreren Umzügen. Sie muss sehr früh selbstständig werden. Sie studiert in Jena Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte, legt nach nur fünf Jahren die Promotion ab, das Thema: Ketzerbewegungen im Mittelalter. Eine wissenschaftliche Karriere scheint vorgezeichnet, durch die Wirren der Nachkriegszeit gerät sie aber zunächst als Lehrerin in die Grundschule. Das ist ein wichtiger Schritt in ihrer Biographie zu „mehr Lebensnähe“. Der Kontakt mit den Kindern gelingt ihr leicht, sie wird veranlasst über das Wesen der Pädagogik nachzudenken, sie experimentiert mit Musik und Kunst, um die Kinder zu erreichen. Und sie wird gezwungen, Geschichte in kleinen, anschaulichen Häppchen zu unterrichten. Ihre Schulbücher für Kinder gehören zu den ersten in der BRD und werden äußerst erfolgreich. Sie ist ein Mensch, der ganz selbstverständlich in historischen Zusammenhängen denkt und der genauso selbstverständlich das politische Treiben der Bundesrepublik betrachtet. Und dieses bereitet ihr Unbehagen. In den fünfziger Jahren war man längst von dem tiefen Ethos der unmittelbaren Nachkriegszeit abgewichen, das „Nie wieder Krieg!“ hieß und ein Deutschland abseits der Machtblöcke anstrebte. Die Westbindung als einziger Garant für Sicherheit wurde selbstverständlich; zu meinen, keine Waffen zu brauchen, galt zunehmend als unverbesserlich naiv. Renate Riemeck glaubte immer noch an die Gültigkeit des pazifistischen Lebensgefühls nach 45 und ihr wurde zunehmend unbehaglicher zumute. 1958 formulierte sie den „Aufruf der 44“ (gemeint waren 44 Hochschullehrer) gegen den Atomtod und gründete 1960 mit anderen die DFU, die Deutsche Friedensunion, eine Partei mit pazifistischer Ausrichtung. Trotz großer innerer Widerstände wurde sie im Wahlkampf deren Spitzenkandidatin. Obwohl sie große Abneigungen gegen das Parteiwesen hatte und es hasste, im Rampenlicht zu stehen, erklärte sie sich bereit, an der Spitze der DFU im Wahlkampf zu kandidieren. Sie hielt es für ihre Pflicht, für ihre Überzeugungen tätig einzustehen.
Dies alles geschah aber in dem immer kälter werdenden Klima des Kalten Krieges. Zwar war direkt nach dem Krieg auch die SPD, deren Mitglied sie war, gegen die Zugehörigkeit zu Blöcken und gegen die Wiederaufrüstung. Doch das war lange vorbei – nun geriet Renate Riemeck in das Feuer aller Parteien, man warf ihr vor, von der DDR und der UdSSR bezahlt und benutzt zu werden.
Ihr geschieht doppeltes Unglück: Zum einen entzieht man ihr, als erster deutscher Professorin, die Prüfungsberechtigung. Das ist quasi ein Berufsverbot. Sie habe als Rednerin und Autorin das Beamtenrecht verletzt. Die StudentInnen reagieren darauf mit den ersten „Sit-ins“ in der Geschichte der Bundesrepublik und großen Demonstrationen für sie. Vergeblich. Zum anderen ist ihre politische Karriere beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte: Für eine neue kleine pazifistische Partei könnte der Zeitpunkt der Wahlen 1961 ungünstiger nicht sein: der September. Am 13. August 1961 begann der Bau der Mauer zwischen BRD und DDR. Eine Partei, die im Verdacht stand, „von Moskau finanziert“ zu werden, hatte nach diesem historischen Datum keine Chance mehr. Die DFU, vorher durchaus erfolgsträchtig, erhielt 2 % der Stimmen und sollte sich nie mehr erholen. 1990 wurde sie aufgelöst.
Nach diesen beiden Niederlagen trat Renate Riemeck völlig aus dem Licht der Öffentlichkeit. Sie schied aus der offiziellen Politik aus und sie kehrte erst am Ende ihres Lebens an die Hochschule zurück, aber nur als Dozentin „auf Stundenbasis“.
Sie wurde eine schreibende Privatperson. Einem der großen Themen ihres Lebens blieb sie treu: den Ketzern. In diesem Zusammenhang blieb auch die katholische Kirche in ihrem Blickfeld. Und sie legte ein immer noch wichtiges Buch vor über ein Thema, das für Rudolf Steiner im Mittelpunkt seines politischen Interesses stand: Mitteleuropa.
Die Anthroposophie war ihr schon als Fünfzehnjährige begegnet, Ende der dreißiger Jahre, vor dem zweiten Weltkrieg, fuhr sie zweimal nach Dornach – ungewöhnliche Reisen zu dieser Zeit. Im Verlauf ihrer Biographie aber konnte sie in anthroposophischen Kreisen so wenig landen wie bei den „Bürgerlichen“ oder bei den Linken: zu anthroposophisch, zu links, zu ungewöhnlich, je nachdem; sie war auch niemals verheiratet und lebte mit einer Frau zusammen. Sie stand immer außerhalb. Intensiven Kontakt hatte sie mit Herbert F. Hillringhaus, dem Redakteur der „Kommenden“, auch eine anthroposophische Außenseiter-Zeitschrift, und mit Gerhard Wehr, der viele Biographien über religiöse Figuren schrieb, auch Wichtiges über Anthroposophie, und der auch niemals richtig Heimat in anthroposophischen Kreisen fand.
Ihre enge Beziehung zu Ulrike Meinhof, die seit ihrem fünften Lebensjahr bis zum Ende der Pubertät bei ihr lebte, gab ihrem Leben noch einen zusätzlichen tragischen Einschlag. Sie musste zuschauen, wie ein sehr begabtes, weltoffenes Mädchen immer verschlossener und wütender wurde, eine „Terroristin“, bis sie schließlich – wahrscheinlich – im Gefängnis Stammheim Selbstmord beging. In ihrer letzten Zeit richtete die Wut Ulrike Meinhofs sich auch gegen ihre Pflegemutter Renate.
Anhand der Biographie Renate Riemecks lässt sich gut die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nachvollziehen, vom Nationalsozialismus bis zu den Jahren nach der Wiedervereinigung. Ihr Buch „Mitteleuropa“ ist vielleicht für Dreigliederer besonders interessant. Es zeichnet die Entwicklung und Stärkung der Nationalstaaten in Europa nach und die Abkehr von der Idee eines förderativ gegliederten Europas mit einem lebendigen, über einzelne Staatsgrenzen hinausreichenden Geistesleben und einer Betonung der Individualität. In einem solchen vielfältigen Europa hätte Deutschland eine Brücke zwischen Ost und West sein können. Diese Ideen scheinen immer noch sehr zeitgemäß zu sein.
Albrecht Vinzenz hat für diese Biographie akribisch geforscht; er hatte auch Zugang zu Archiven und zu vielen neuen Dokumenten und Archiven. Die Akribie der Darstellung mag manchmal den Lesefluss stören. Sein Buch ist ein unverzichtbares Standardwerk für jeden, der sich für Renate Riemeck interessiert, als Zeitgenossin, als Denkerin, als Anthroposophin.
Renate Riemeck war eine Frau mit großer Tiefe, Authentizität und Zivilcourage. Wie merkwürdig vertraut einem die Kämpfe, in denen sie zu stehen hatte, im jetzigen Moment vorkommen!
Albert Vinzenz, Renate Riemeck. Historikerin, Pädagogin, Pazifistin (1920-2003), Göttingen 2023, 408 Seiten, 28 Euro
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