Gesundheitspolitik und anthroposophische Medizin

01.05.2003

Strategische Überlegungen aus Berliner Perspektive

Das Lied von der Krise im Gesundheitswesen pfeifen die Spatzen von den Dächern. Der Kanzler hat diesbezügliche Reformen bei seiner Regierungserklärung am 14. März als die wichtigste nationale Aufgabe bezeichnet. Und Demographen warnen davor, dass alles noch schlimmer kommen kann. Tatsache ist, dass die geplanten Reformprojekte auch an der anthroposophischen Medizin nicht spurlos vorübergehen werden. Neben der Normierung von Behandlungsabläufen und evidenzbasierten Wirksamkeitsnachweisen entdeckt die Politik aber auch das größte Sparpotential im Gesundheitssystem: den verantwortungsvollen, selbstbestimmten Umgang der Bürger mit ihrer Gesundheit. Darin könnte für die besonderen Therapierichtungen eine Chance liegen, wenn sie zur rechten Zeit am rechten Ort den richtigen Menschen die richtigen Angebote machen.

I. Was ist

Das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V), in dem der rechtliche Rahmen für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) abgesteckt wird, macht es sich vergleichsweise einfach: Die Leistungen der Krankenversicherungen, so heißt es dort im Paragraphen 12, hätten "ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" zu sein und dürften "das Maß des Notwendigen nicht überschreiten". Das ist – wie Vieles im SGB V – schnell gesagt und kaum ohne Streit umzusetzen. Denn was im Einzelnen "ausreichend" und was "zweckmäßig" ist, darüber wird sich schon zwischen zwei Medizinern kaum Einigkeit finden lassen. Und auch "Wirtschaftlichkeit" und "Notwendigkeit" sind im medizinischen Kontext weitaus weniger klar, als es beispielsweise im Fall von Konsumgütern und – sagen wir – deren Reparatur sein mag.

Streit ist also vorprogrammiert in diesem Gesetz, das sich seit 120 Jahren recht erfolgreich bemüht, die Gesundheit der Bevölkerung zu sichern. Und dabei geht es keineswegs um einen Streit der Methoden, denn deren Vielfalt – und auch da macht es sich das SGB V ziemlich einfach – wird laut §2 des Gesetzes explizit zugesichert ("Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen"). Die politische Haltung ist klar: In eine Diskussion um die unterschiedlichen therapeutischen Ansätze in der Medizin möchte sich die Politik ausdrücklich nicht hineinziehen lassen (sie gibt die Verantwortung lieber an die nachgeordneten Gremien und Institutionen der so genannten "Selbstverwaltung" ab). Unter anderem aus diesem Grunde sind die Formulierungen des SGB V in der Regel so weich, dass zwischen den Eckfahnen von "Wirtschaftlichkeit" und "Notwendigkeit" ein Tor bleibt, durch das – bei entsprechender argumentativer Tarnung - ohne Mühe auch noch eine Reihe anderer Beweggründe Durchgang finden. Und so ist bei allem Streit um den richtigen Weg kaum die Frage zu klären, wer aus welcher Motivlage heraus zu welcher Einschätzung kommt. Das Wohl des Patienten jedenfalls, das alle stets beflissen im Munde führen, bildet bei den meisten Beteiligten allenfalls einen Teil der Handlungsmotivation. Und nicht immer ist es der überwiegende Teil.

Denn schließlich geht es um außerordentlich viel Geld: Auf insgesamt fast 226 Milliarden Euro pro Jahr schätzt das Statistische Bundesamt den "Markt" für Gesundheitsleistungen im Jahr 2001, der damit – bei kontinuierlich steigender Tendenz – knapp 11% des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Bundesrepublik Deutschland darstellt. Wie viel Macht und Einfluss und welche enormen Kräfte hinter diesem System stecken, mag ermessen, wer sich vor Augen führt, dass die Umsatzzahlen der deutsche Automobilindustrie mit etwa 200 Milliarden Euro deutlich hinter dem ökonomischen Potential des Gesundheitssystems zurückbleiben.

Verständlich wird vor diesem Hintergrund, dass im Zuge der immer stärker anlaufenden und zum Teil bereits umgesetzten Kostendämpfungspläne der Bundesregierung enorme Verteilungskämpfe beginnen, bei denen es den Beteiligten eben nur partiell um die richtigen Wege zu einer optimalen gesundheitlichen Versorgung geht. Vielmehr führt im Spektrum der sehr verschiedenen politischen, fachlichen und wirtschaftlichen Akteure (Gesundheitsministerium, Bundestag und Bundesrat, Krankenkassen, Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken und Pharmaindustrie sowie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) eine komplexe, häufig an unausgesprochenen Partikularinteressen orientierte Argumentationsmischung zu einem komplizierten Stimmengewirr, aus dem selbst für gesundheitspolitisch geübte Ohren die glaubwürdigen Töne nur schwer herauszufiltern sind.

Dass es dabei auch Bestrebungen gibt, im Zuge der jetzt anstehenden Reformpläne die so genannten besonderen Therapierichtungen – und damit die anthroposophische Medizin – in ihren bisherigen Rechten zu beschneiden oder vielleicht ganz von der Bildfläche zu verdrängen, kann kaum verwundern. Doch sitzt die größte Gegnerschaft für andere therapeutische Ansätze nicht unbedingt auf der Bank der politischen Vertreter. Im Gegenteil: Eine Reihe der jetzt anstehenden Pläne birgt – bei aller Tendenz zur Normierung und Vereinheitlichung therapeutischer Prozesse – für die anthroposophische Medizin durchaus Chancen, wenn es gelingt, sich im politischen Kontext angemessen und wirkungsvoll zu positionieren. Das aber wird nur gelingen, wenn sich die anthroposophische Medizin in der Lage sieht, sich mit wechselnden Bündnispartnern offen, konstruktiv und frei von Berührungsängsten in ein kontinuierliches politisches Gespräch zu begeben.

II. Was sein wird

Die großen gegenwärtigen und zukünftigen Baustellen für diesen politischen Dialog sind alle bekannt und sollen im folgenden mit ihren Gefahren und Möglichkeiten kurz skizziert werden:

1. Fallpauschalen

Bereits seit 1. 1. 2003 gilt das so genannten Fallpauschalengesetz, das, zunächst in einer freiwilligen Umstellungsphase, ab 1. 1. 2004 dann für alle verbindlich, den Abrechnungsmodus von Leistungen in Krankenhäusern Grund legend ändern wird. Vergütungen werden dann nicht mehr auf Grundlage der Verweildauer (Tagessätze) geleistet, sondern auf der Basis Diagnose-abhängiger Pauschalpreise, die aus einem komplexen 600- bis 800-stufigen Codierungssystem ermittelt werden. Für die erfolgreichen und überregional bekannten Modelle der ganzheitlich orientierten anthroposophischen Krankenhäuser droht allerdings mit dieser Systemänderung in der Tat ein erhebliches Gefahrenpotential, weil sich dahinter eine "Reparaturmentalität" verbirgt, die gerade bei komplexen Krankheitsbildern der therapeutischen Realität und einem ganzheitlich therapeutischen Ansatz nicht gerecht wird.

Nahezu unberücksichtigt bleiben in dem Gesetz auch die Schnittstellen zwischen Akutbehandlung und Rehabilitation, die in der anthroposophischen Medizin viel enger als in schulmedizinischen Therapieverläufen miteinander verzahnt sind. Hier wird in jedem Falle die Zusage des Gesundheitsministeriums, dass es sich um ein "lernendes Gesetz" handle, in dem – bis zum 1. 1. 2007 – auch begründete Nachbesserungen möglich seien, auf ihre Wahrhaftigkeit hin überprüft werden müssen. Darüber hinaus sind schlüssige Konzepte anzubieten (beispielsweise im Rahmen regionaler Netzwerke), wie die Existenz der besonderen therapeutischen Ansätze der anthroposophischen Medizin gesichert werden kann. Grundlage für eine Argumentation in diese Richtung muss die Überzeugung sein, dass eine Schädigung der anthroposophischen Medizin nicht im Interesse der Fallpauschalengesetzgebung liegt, auch wenn sie ihre unmittelbare Folge sein könnte. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass gerade kleinere anthroposophische Kliniken sich spezialisieren oder Grund legend umstrukturieren müssen, um überlebensfähig zu bleiben.

2. Chronikerprogramme (DMP´s)

Die rechtlichen Grundlagen für so genannte strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch Kranke (Disease Management Programme) gelten im wesentlichen bereits seit 1. 1. 2002. Aus der Tatsache allerdings, dass erst im März 2003 (also 15 Monate nach In-Kraft-Treten des maßgeblichen Gesetzes), das erste DMP vom Bundesversicherungsamt (BVA) genehmigt wurde, wird deutlich, dass hier mit hohem juristischen und bürokratischem Aufwand an einer Vereinheitlichung der Behandlungsleitlinien gearbeitet wird, die – zumindest gegenwärtig – ganzheitlich orientierten Behandlungsansätzen wenig Raum zu einer individuellen Therapiegestaltung lassen. Im Prinzip wäre gegen ein bewusste Steuerung und Führung von therapeutischen Behandlungsprozessen nichts einzuwenden, doch lassen es die schwerfälligen Strukturen des Systems bislang kaum vorstellbar erscheinen, dass Chronikerprogramme, in denen den Möglichkeiten und Bedürfnissen der anthroposophischen Medizin Rechnung getragen wird, die Genehmigungshürden des BVA überwinden. Ob hier die geplanten Reformgesetze des Gesundheitsministeriums, die diesbezüglich durch Stärkung der Bürgerbeteiligung und Förderung regionaler Netzwerke mehr Flexibilität versprechen, Abhilfe schaffen können, ist noch ungewiss. Vor allem weil dort mit Sicherheit auf so genannte evidenzbasierte (d.h. statistisch unterlegte) Wirksamkeitsnachweise Wert gelegt wird. Es wird – nicht nur in diesem Bereich – viel davon abhängen, in Zukunft solche Wirksamkeitsnachweise auf möglichst breiter Grundlage bereitzuhalten. Auch wenn zugleich daran gearbeitet werden muss, die fachlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die mit der Bereitstellung solcher evidenzbasierten Unterlagen verbunden sind, an politisch verantwortlicher Stelle vorzutragen.

3. Präventionsforum und Präventionsgesetz

Im Sommer 2002 wurde von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das "Deutsche Forum Prävention und Gesundheitsförderung" ins Leben gerufen. In derzeit drei Arbeitsgruppen ("Gesunde Betriebe", "Gesunde Kindergärten und Schulen", "Gesund Altern") werden hier von den bislang etwa 60 im Forum vertretenen Verbänden und Institution Präventionsstrategien erarbeitet, die mit Sicherheit auch in das für 2004 geplante Präventionsgesetz Eingang finden werden. Hier vertreten zu sein wäre also für die anthroposophische Medizin auch langfristig von Bedeutung, allerdings findet aufgrund unzureichender Lobbyarbeit eine Vertretung der anthroposophischen Medizin im Präventionsforum bislang nicht statt, obwohl auch Verbände wie beispielsweise der Kneipp-Bund zu den Gründungsmitgliedern des Forums zählen.

4. Positivliste

Lange war es still geworden um die so genannte Positivliste, deren Verabschiedung als Rechtsverordnung im Bundesrat niemals eine Chance gehabt hätte. Nun aber ist die Bundesregierung darauf gekommen, die "Liste verordnungsfähiger Arzneimittel in der vertragsärztlichen Versorgung" als Ganzes zum Gesetz zu erklären, um sie damit zustimmungsfrei direkt im Bundestag absegnen zu können (ob diese Umgehung tatsächlich ein gangbarer Weg gewesen ist, wird möglicherweise im Sommer juristisch geklärt werden müssen).

Nun ist es mit der Bildung des "Kommission C" im zuständigen "Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte" (BfArM) bereits in den 90er Jahren gelungen, die Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen in einem "Anhang" der Positivliste gesondert aufzulisten. Daher ist eine Bedrohung von der Positivliste selbst nicht unmittelbar gegeben (auch wenn die Positionierung der anthroposophischen Arzneimittel im "Anhang" juristische Auseinandersetzungen nach sich ziehen könnte). Im Zuge der Veröffentlichung der Wirkstoffliste hat es jedoch von schulmedizinischer Seite scharfe Angriffe gegen die Tendenzen einer "Schamanemedizin" gegeben, in der gegen die Inhaltsstoffe homöopathischer und anthroposophischer Medizin und ihre Herstellungsverfahren durch Potenzieren polemisiert wird. Ob das "Wegducken" der anthroposophischen Medizin, wie es gegenwärtig gehandhabt wird, in solch einem fachlichen Methodenstreit die angemessene Form der Reaktion ist, sei dahingestellt. Fest steht allerdings, dass mit dieser Taktik sowohl pharmakologisch unbedarfte aber unterstützungswillige Politiker als auch Journalisten argumentativ im Regen gelassen werden. Eine kurze, sachliche und vor allem emotionslose Presseerklärung hätte ihnen zumindest geholfen, sich Kritikern argumentativ entgegenzustellen.

5. Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz (GMG)

Dieses Wortungetüm bezeichnet das Reformpaket, dass Ulla Schmidt noch vor der Sommerpause schnüren und im Herbst durch Bundestag und Bundesrat bringen möchte. Die bislang vorliegenden Entwürfe des GMG (Stand 21. 4.), in die allerdings die Vorschläge der Rürup-Kommission noch nicht eingearbeitet wurden, enthalten zwar keine Hinweise auf Leistungskürzungen, von denen die anthroposophische Medizin in gravierendem Maße und unmittelbar betroffen wäre, dennoch sind einige Änderungen vorgesehen, die auch auf die anthroposophische Medizin Auswirkungen haben dürften.

a. Institut für Qualität – Das von Ulla Schmidt fest geplante "Deutsche Institut für Qualität in der Medizin" wird vor allem von der Ärzteschaft bekämpft, weil man hier die "Einführung der Staatsmedizin" durch die Hintertür sieht. Klar ist in jedem Fall, dass das Institut die Macht und Kompetenz der Selbstverwaltung beschneiden soll und wird. Dies muss allerdings – wie oben deutlich wurde – nicht notwendig nur mit Nachteilen für die anthroposophische Medizin verbunden sein. Besonders die Aufwertung des Verbraucherschutzes sowie der Patienten- und Bürgerbeteiligung könnten sich, vor dem Hintergrund der Verbrauchervorlieben für komplementärmedizinische Ansätze, als Vorteil erweisen, wenn sie aktiv und offensiv genutzt werden. Auch hier allerdings werden evidenzbasierte Wirksamkeitsnachweise von zentraler Bedeutung sein, so dass diese Frage mit all ihren wirtschaftlichen und methodischen Problemen in jedem Fall unausweichlich auf der Tagesordnung bleibt.

b. Vorschläge der Rürup-Kommission – Was von den bislang erkennbaren Vorschlägen der Rürup-Kommission zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen letztlich übrig bleiben wird, ist gegenwärtig nur schwer abzuschätzen. Gravierend wäre sicherlich der von der Kommission vorgeschlagene Wegfall der GKV-Erstattung für verschreibungsfreie Arzneimittel (so genannte OTC-Produkte), weil sie ein wesentliches Segment der anthroposophischen Arzneimittelhersteller darstellen. Dieses Vorhaben ist allerdings in vielfacher Hinsicht problematisch, so das mit einer Realisierung nicht unbedingt zu rechnen ist. Auch die von Rürup vorgeschlagene allgemeine Arztgebühr passt in dieser Konsequenz schlecht ins Konzept von Ulla Schmidt. Möglich wäre aber eventuell eine solche Gebühr für Besuche beim Facharzt ohne vorherige Konsultation des Hausarztes, die sicherlich auch für anthroposophisch orientierte Fachärzte Nachteile mit sich brächte. Eine wirkungsvolle Arbeit gegen solche Pläne ist aber allein aus anthroposophischer Sicht und mit anthroposophischer Argumentationsstruktur nicht recht vorstellbar.

6. Europäische Rechtssprechung

Größte Aufmerksamkeit muss in Zukunft den Auswirkungen der europäischen Gesundheitspolitik für das deutsche Gesundheitswesen zugemessen werden. Denn die erwähnte vergleichsweise liberale Gesetzgebung in Bezug auf komplementärmedizinische Ansätze ist in Deutschland einzigartig und kann durch Angleichung an europäische Standards im Grunde nur verlieren! Vor diesem Hintergrund wäre es notwendig, über alle Methoden- und Ländergrenzen hinweg möglichst rasch breite Bündnisse mit anderen komplementärmedizinisch ausgerichteten Fachrichtung einzugehen, um die bundesdeutschen Privilegien so weit wie möglich auch im europäischen Recht zu verankern. Zugleich sind Landes- und Europapolitiker zu identifizieren und anzusprechen, mit deren Hilfe die Problematik auf dem unübersichtlichen europäischen Parkett auf die Tagesordnung gebracht werden kann.

III. Was Not täte

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass ein wirkungsvoller gesundheitspolitischer Auftritt der anthroposophischen Medizin sich an sieben Grundtönen zu orientieren hat:

Präsenz – Unerlässlich für eine wirkungsvolle Vertretung der eigenen Standpunkte und Interessen ist eine dauerhafte persönliche Beteiligung an der gesundheitspolitischen Diskussion, die zu 75% an den offiziellen, halb-offiziellen und informell-privaten Treffpunkten des Berliner Regierungsviertels stattfindet. Von Grund legender Bedeutung ist dabei nicht nur die Anwesenheit bei öffentlichen Terminen, sondern vor allem auch die kontinuierliche Teilnahme an den nicht-öffentlichen und informellen Gesprächen an den Stehtischen der "Szene". Kein Vertreter der großen und wichtigen gesundheitspolitischen Interessenverbände ist sich für diese Auftritte am Rande von Anhörungen oder bei den zahllosen Weihnachts-, Neujahrs-, Frühlings- und Sommerempfängen zu schade, denn auch sie wissen: Nur wer die Aura des Regierungsfeldes betritt (und zwar als regelmäßiger Gast, nicht als Fremdkörper), kann gestaltend auf sie Einfluss nehmen.

Pressearbeit – Alle Studien belegen ohne Ausnahme, dass komplementärmedizinische Ansätze und "sanfte Medizin" in der Bevölkerung einen außerordentlich hohen Stellenwert genießen. Und wenn die Leser etwas darüber lesen wollen, dann berichtet erfahrungsgemäß auch die Presse darüber. Allerdings nur, wenn sie regelmäßig informiert und auf den neusten Stand gebracht wird. Keine Meinung zu äußern, heißt aber in der öffentlichen Wahrnehmung schlicht, keine Meinung zu haben, oder – schlimmer noch – diese Meinung verstecken zu wollen. Vor diesem Hintergrund ist eine kontinuierliche, seriös-sachliche, breit gestreute und professionelle Pressearbeit, in der zu gesundheitspolitischen Einzelfragen aus Sicht der anthroposophischen Medizin Stellung genommen wird, unerlässlich. Sie würde mittelfristig nicht nur die Präsenz der anthroposophischen Medizin außerhalb der anthroposophisch-internen Medienlandschaft fördern, sondern sie könnte auch schulmedizinisch kritisch orientierte Medienvertreter mit Informationen zu bislang kaum kontrovers diskutierten Fragen (Impfungen, Studiendesign etc.) versorgen.

Kooperation – Die anthroposophische Medizin wird nur dann eine reelle Überlebens-Chance haben, wenn es ihr gelingt, in jeder sie betreffenden Frage nicht-anthroposophische Kooperationspartner aus allen nur denkbaren "Lagern" zu finden. Dies gilt auf allen Ebenen (von "Europa" bis "um die Ecke") und in nahezu allen Angelegenheiten. Hierzu können und sollen ohne Berührungsängste sowohl Vertreter der Schulmedizin als auch Verfechter andere therapeutischer Richtungen gehören, wenn sich inhaltliche Überschneidungen ergeben. In Fragen der Prävention könnte aber beispielsweise auch mit Umweltschutzgruppen zusammengearbeitet werden, in ethischen Fragen bietet sich eine Kooperation mit Kirchenvertretern oder mit Selbsthilfe-Verbänden an. Die systematische Arbeit an einem Kooperations-Netzwerk würde nicht nur die Einfluss-Breite anthroposophischer Überlegungen und Ansätze vergrößern, sie wäre auch sichtbares Zeichen dafür, dass anthroposophische Medizin keineswegs nur "für sich" sprechen will.

Realismus – Politik ist die Kunst der kleinen Schritte. Wer beobachtet, mit welch alten Zöpfen die Gesetzliche Krankenversicherung sich herumschlägt (beispielsweise dem Sterbegeld, dass schon zum "Grundpaket" der GKV bei ihrer Einrichtung im Jahr 1883 gehörte), der wird schnell einsehen, dass mir der Präsentation "großer Entwürfe" nicht Türen geöffnet, sondern geschlossen werden. Das bedeutet nicht, dass solche visionären Perspektiven nicht zu später Stunde an den oben bereits erwähnten Stehtischen entwickelt werden dürften, im konkreten politischen Gespräch, das in der Regel einem äußerst knappen Zeitbudget unterliegt, wird man aber damit nicht weiterkommen. Außerdem: Mit einer Argumentation des "wäre", "müsste" und "sollte" ist politisch wenig anzufangen. Klare umsetzbare Konzepte sind gefragt, die möglichst in Pilotphasen ihre Praktikabilität bereits unter Beweis gestellt haben oder deren unmittelbarer Umsetzung nichts im Wege steht.

Transparenz – Transparenz ist in der heutigen Medienlandschaft mit ihren nahezu unbegrenzten Darstellungsmöglichkeiten keine Hol-, sondern eine Bringschuld. Nicht "gefragt werden" ist das Maß aller Dinge, sondern Informationen bereitstellen. Das Internet bietet ohne größer Probleme die Möglichkeit, Stellungsnahmen zu allen relevanten gesundheitspolitischen Fragen einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Und es lädt fatalerweise ein zu einem unangenehmen Umkehrschluss: Wer seine Meinung nicht oder nur unzureichend aufdeckt, erweckt den Eindruck von Geheimniskrämerei.

Bescheidenheit – Die Anthroposophische Medizin hat Lösungsvorschläge anzubieten. Mehr nicht. Sie sollte – auch unausgesprochen – nicht mit dem Anspruch auftreten, auf einen Schlag die medizinischen und finanziellen Probleme der deutschen Gesundheitslandschaft lösen zu wollen. Aber: Auch Verfolgungswahn ist eine Form von Selbstüberschätzung.

Selbstbewusstsein – Die Anthroposophische Medizin hat Lösungsvorschläge anzubieten, mehr nicht, aber eben auch nicht weniger. Und sie hat in einer Vielzahl von Fällen auf den unterschiedlichsten Gebieten überzeugende Erfolge vorzuweisen. Es gibt für sie keinen Grund, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Das politische Gebot der Stunde lautet: Qualität erhöhen (bei gleichen Kosten) und/oder Kosten senken (bei gleicher Qualität). Auch aus dieser Perspektive hat die anthroposophische Medizin einiges zu bieten, und es ist für die Politik letztlich zweitrangig, auf welchem Weg dieses Ziel erreicht wird. Wichtig ist, dass es erreicht wird. Die anthroposophische Medizin braucht sich hier – und nicht nur hier – nicht zu verstecken.

Dr. Albrecht Kloepfer, Journalist und Literaturwissenschaftler, ist seit 1994 haupt- und ehrenamtlich für anthroposophische Einrichtungen tätig. Von 1987 bis 1999 unterrichtete er in Berlin und Tokyo an verschiedenen Universitäten, seit 1996 schreibt er für die Zeitschrift "Deutschland" des Bundespresseamtes über interkulturelle Kooperationsprojekte. Seit 2000 arbeitet er in Berlin im Bereich gesundheitspolitische Presse-, Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit.

Weiterführende Literatur (Auswahl):

Bundesverband Managed Care (Hrsg.): BMC-Vision 2010 für eine zukunftsfähige Gesundheitsreform. Als download unter http://www.bvmanagedcare.de/archiv.asp

Rainer Burkhardt: Neuorientierung des Gesundheitswesens. Skizze eines assoziativen Konzepts. Frankfurt/Main 2001.

Hans-Ulrich Deppe, Wolfram Burkhardt (Hrsg.): Solidarische Gesundheitspolitik. Alternativen zu Privatisierung und Zwei-Klassen-Medizin. Hamburg 2002.

Klaus B. Harms (Hrsg.): Für eine neue Medizin. Antworten auf drängende Fragen des Gesundheitswesens. Stuttgart 1999.

Ellis Huber: Gesundheitssystem und gesellschaftliche Entwicklung. In: Wechselwirkung & Zukünfte, Heft 6, Nov./Dez. 2002, S. 10-15

Kerstin Kellermann, Norbert Konegen, Florian Staeck (Hrsg.): Aktivierender Staat und aktive Bürger. Plädoyer für eine integrative Gesundheitspolitik. Frankfurt/Main 2001.

Helmut Kiene: Der Wirksamkeitsnachweis in der anthroposophischen Medizin. In: die Drei, Heft 3, März 1999, S. 20-24

Helmut Kiene: Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung. Cognition-based Medicine. Berlin, Heidelberg 2001.

Neue Soziale Bewegungen Heft 3 / 2002: Partizipation und Mitgestaltung. Wege aus der Intensivstation Gesundheitswesen. (Lucius Verlag, Stuttgart)

Robert Koch-Institut (Hrsg.): Inanspruchnahme alternativer Methoden in der Medizin (Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 9). Berlin 2002

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (Hrsg.): Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität. Gutachten 2003. Als download unter http://www.svr-gesundheit.de/

Christoph Strawe: Das Gesundheitswesen: therapiebedürftig. Gesichtspunkte zur Diskussion über die Gesundheitsreform. In: die Drei, Heft 3, März 1999, S. 35-41


Quelle: Die Drei 5/2003, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren.