Gesundheitsreform und Naturarzneimitttel - Ein Interview

01.04.2004

Dr. Albrecht Kloepfer vom Büro für gesundheitspolitische Kommunikation in Berlin ist ein entschiedener Befürworter der Therapiefreiheit und der Besonderen Therapierichtungen. Als akribischer Beobachter der gesundheitspolitischen Entwicklung vor Ort kann er auf unsere Fragen zu den Hintergründen der Gesundheitsreform antworten. Dabei geht es natürlich auch darum, wie solche Angriffe auf die Therapiefreiheit in Zukunft vermieden werden könnten. Auch in der Gesundheitspolitik selbst ist Prävention sinnvoller als Reparaturmedizin im nachhinein.

Dr. Albrecht KloepferDr. Albrecht Kloepfer, schon im Mai 2003 haben Sie davor gewarnt, es könnte dazu kommen, daß nicht-verschreibungspflichtige Medikamente - und damit die meisten anthroposophischen Heilmittel - nach der Gesundheitsreform nicht mehr erstattet werden. Sie hielten aber diese Maßnahme für in sich so problematisch, daß sie noch gehofft haben, sie würde gar nicht umgesetzt werden. Warum ist es doch passiert?

Ich denke, daß die Herausnahme der nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel aus der Erstattung, vor allem damit zusammenhängt, daß man ein gewisses Level von Bagatellerkrankungen überhaupt nicht mehr über die GKV finanzieren will. Nur hat man dafür natürlich das falsche Kriterium als Maßstab benutzt. Denn „nicht-verschreibungspflichtig“ heißt ja nicht , daß das entsprechende Arzneimittel nur gegen Bagatellerkrankungen hilft, wie ja das Beispiel der Mistel zeigt. Hier liegt also bereits ein grundsätzlicher Denkfehler, und ich war eigentlich davon ausgegangen, dass dieser Denkfehler – mit Hilfe einer entsprechenden „Politikberatung“ – auch den verantwortlichen Stellen auffällt.

Nun hat ja der Gemeinsame Bundesausschuss am 16. März eine Ausnahmeliste verkündet (auf der auch Mistelpräparate vertreten sind), bei der immer wenn ein nicht-verschreibungspflichtiges allopathisches Medikament als Standardtherapie gelten kann, für diese jeweilige Indikation auch Medikamente der Besonderen Therapierichtungen zugelassen werden. Das wird natürlich diesen Therapierichtungen wieder nicht gerecht, denn Maßstab ist nun eine Indikationsliste, für die die allopatischen Arzneimittel die Messlatte darstellen. Im Vergleich zu dem, was Ende des letzten Jahres diskutiert wurde, ist das aber schon ein großer Fortschritt.

Das Argument, das auch Verbände wie der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) vertreten haben, war, daß diese Maßnahme letztlich teurer wird, weil die Ärzte mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln substituieren werden. Hier liegen jetzt allerdings die ersten Zahlen vor, und bisher erhärtet sich diese Vermutung nicht. Tatsächlich ist aber bei den OTC (over the counter)-Produkten, also bei den nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, der GKV-Markt teilweise um über 70% eingebrochen. Und das betrifft besonders homöopathische und phytotherapeutische Arzneimittel. Da passieren also schon dramatische Dinge.

In den "Mitteilungen Anthroposophie weltweit" von Oktober 2003 wurde berichtet, daß nachträglich beide Parteien behaupteten, die Streichung der nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel sei auf Wunsch der jeweils anderen Partei in das Paket gekommen. Ist das eine Ausrede oder steckt vielleicht noch ein weiterer Akteur hinter dieser Entscheidung?

Nach meinen Beobachtungen ist es nicht so. Die SPD hat immer klar gemacht, daß sie dafür ist, die nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel aus der Erstattung herauszunehmen. Immerhin ist das eine Idee von Herrn Lauterbach und er hat das auch stolz Anfang April 2003 nach der ersten Sitzung der Rürup-Kommission verkündet.

Ein ganz großes Problem ist allerdings, und das ist gar nicht weit genug im Bewußtsein, daß die Pharmaindustrie selber hier gespalten ist. Die zwei großen Verbände, der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) und der bereits erwähnte BPI, haben nämlich ganz unterschiedliche Ansichten. Die VFA-Mitglieder – das sind vor allem finanzstarke multinationale Konzerne – haben fast keine Arzneimittel, die nicht rezeptpflichtig sind. Sie fordern daher schon lange, daß die nicht-rezeptpflichtigen Arzneimittel aus der Erstattung herausfallen. Dagegen betrifft die Regelung vor allem den BPI, der eher den deutschen Mittelstand vertritt und bei dem zum Beispiel auch die Weleda und die Wala Mitglied sind. Jetzt ist also „die Pharmalobby“, die fälschlicherweise immer als Einheit zitiert wird, in sich selber gespalten, und man könnte schon vermuten, daß der finanzstärkere Verband dem „kleinen Bruder“ hier ein Bein gestellt hat.

Es scheinen aber einzelne Medikamentenhersteller recht schnell reagiert zu haben. Seit Sommer 2003 wird ein starker Anstieg bei den Anträgen auf Neuzulassung von Medikamenten registriert. Und bezeichnenderweise geht es meistens um den Ersatz eines nichtverschreibungspflichtigen Arzneimittels durch eine verschreibungspflichtige Version.

Das ist natürlich ein Trick nach dem Motto „Wir ändern die Rezeptur ein bißchen und mit der Neuzulassung kriegen wir die Rezeptpflicht zurück.“ Aber das für Zulassungen zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat bereits angekündigt, dass es sehr genau prüfen werde, wo es substantielle Änderungen gibt und wo nur versucht wird, durch die Hintertür wieder in die Rezeptpflicht hereinzukommen. Ich denke, diese Prüfung wird relativ gut funktionieren. Insofern halte ich das für einen verständlichen aber nicht gangbaren Weg einzelner Hersteller.

Können die entsprechenden mittelständischen Unternehmen Einbrüche um über 70% vertragen?

Die Folge für Unternehmen, die ausschließlich auf dieses Segment angewiesen sind, kann tatsächlich der Konkurs sein. Es war also schon ein genialer Einfall Rudolf Steiners, neben der Pharmaproduktion auch die Kosmetik aufzubauen. Das muß man schon sagen.

Ich habe nicht den Überblick über Palette der homöopathischen und phytotherapeutischen Hersteller, aber meines Wissens ist es nicht so, daß es dort eine solche Streuung gibt wie z.B. bei Wala und Weleda. Einige pharmazeutische Unternehmen können, wenn sie groß genug sind, die Verluste, die sie in Deutschland einfahren, im Ausland kompensieren. Aber das geht erst ab einer bestimmten Größe. Für die spezifisch anthroposophischen Heilmittel ist dieser Weg gar nicht möglich, weil hier der Umsatzschwerpunkt gerade in Deutschland liegt.

Weitgehend unbekannt ist darüber hinaus, dass es eine Reihe von Indikationen gibt, die gar nicht beworben werden dürfen. Für Arzneimittel gegen Depression oder gegen urologische Befunde, wie z.B. die gutartige Prostatavergrößerung, darf beispielsweise keine Werbung gemacht werden. Wenn die Medikamente jetzt auch noch aus der Erstattung herausgenommen werden, dann fallen sie in ein schwarzes Loch, weil sie einerseits nicht beworben und andererseits nicht verschrieben werden dürfen. Das ist natürlich wieder ein riesiger Widerspruch im Gesetz, bei dem beispielsweise der BPI zu Recht sagt: Wenn schon die Patienten in die „Selbstverantwortung“ und „Mündigkeit“ entlassen werden, dann muß zumindest auch die Werbung zugelassen werden. Denn die Werbung ist in dem Fall der Teil an Information, der die Patienten über den Arzt nicht mehr erreicht. Das betrifft auch Produkte im anthroposophischen Bereich, wie z.B. die ganzen Mistelpräparate.

Wir haben bislang die entscheidenden Akteuren und die Folgen der Gesetzgebung angesehen. Was können wir im nachhinein dagegen tun? Wo können wir am besten ansetzen?

Zunächst hat der Dachverband Anthroposophische Medizin zusammen mit anderen Verbänden diese Unterschriftenliste "Naturarznei hilft - Kein neuer § 34" ins Leben gerufen. Da sind ja sehr viele Unterschriften zusammengekommen, und ich glaube schon, daß es auf dem Druck der Naturarzneiverbände zurückzuführen ist, daß jetzt das Gesundheitsministerium auf den Gemeinsame Bundesausschuss einwirkt, diese Ausnahme-Liste möglichst groß zu fassen. Ich glaube auch nicht, daß die Politik ein echtes Interesse daran hat, Komplementärmedizin aus der Erstattung zu kegeln. Ich glaube allerdings, dass es das Vorurteil gibt, daß Komplementärmedizin irgendwo nur für Wehwehchen da ist, und daß man sie deswegen für nicht so wichtig hält. Da ist also die Wahrnehmung falsch, denn die Wirksamkeit der Besonderen Therapierichtungen ist ja gerade bei chronischen Erkrankungen und so genannten „austherapierten“ Fällen inzwischen auch durch Studien belegt.

Jetzt gibt es eine Initiative des anthroposophischen Vereins gesundheit aktiv, bis zum 31. März 2004 eine Verfassungsbeschwerde einzulegen. Wie stehen die Chancen?

Es hat ja am 3. Februar 2004 in einem Feuilleton der FAZ einen Artikel von Wilhelm Hennis gegeben, der dazu angeregt hat. Und ich finde richtig, daß man prüft, ob diese Maßnahme vor dem Hintergrund der gesetzlich verankerten Therapienvielfalt rechtens ist oder nicht. Ich habe allerdings das Problem, daß für mich der juristische Weg nur Ultima ratio sein kann. Besser wäre es sicher, über Gespräche und über Einsicht im Vorfeld erfolgreich zu sein. Das hat in diesem Fall nicht geklappt, insofern bleibt einem vielleicht nichts anderes übrig. Inwiefern dieser Weg Erfolg hat, kann ich schwer einschätzen, weil man sich vielleicht darauf zurückziehen wird, daß die Entscheidung nicht gegen eine bestimmte Therapierichtung gerichtet ist, sondern gegen bestimmte Indikationen. Vielleicht wird man dann, wenn das Gericht klug ist, darauf kommen, daß das Gesetz mit dem falschen Instrumentarium arbeitet, wenn es auf die Verschreibungspflicht zurückgreift. Aber wie gesagt: Das ist schwer einzuschätzen, und es wird sehr viel von einer klugen Formulierung der Fragestellung abhängen.

Was könnten wir noch machen, außer Unterschriften sammeln für die Politik?

Die Frage ist, ob die anthroposophische Medizin die Kraft, den Mut und auch die Fähigkeiten hat, sich auf den langen Marsch durch die Institutionen einzulassen. Das ist für mich ein ganz grundsätzliches Problem, weil ich glaube, daß sich nichts oder nur sehr wenig erreichen lässt, wenn man sich nur punktuell zu Wort meldet, wenn einem bestimmte Dinge nicht passen. Vielmehr wird die anthroposophische Medizin erst dann ihre Ideen, Vorstellungen und Möglichkeiten in den gesundheitspolitischen Dialog einbringen können, wenn sie sich kontinuierlich – sowohl in der Selbstverwaltung als auch in der Politik – an diesem Dialog beteiligt. Ein Negativbeispiel dazu ist mir in den letzten Tage aufgefallen: Der Verein gesundheit aktiv macht jetzt diese Aktion mit der Verfassungsbeschwerde, er macht aber dazu keine Pressemitteilung. Das heißt: Er bringt sich nicht ein in den ganz normalen gesundheitspolitischen Dialog. Aber erst wenn das einsetzt, hat die anthroposophische Medizin eine Chance, sich gesundheitspolitische Positionen zu erarbeiten.

Das ist vielleicht das Geniale von Gerhard Kienle gewesen, daß es ihm gelungen ist, im BfArM die Kommissionen für die Besonderen Therapierichtungen zu etablieren. Aber im Moment sehe ich nicht, wo die Fähigkeiten, wo die Neigungen und auch wo die Kräfte sind, das zu tun. Gerade in der Selbstverwaltung bedeutet das ein jahrelanger Aufbau in den Gremien, denn das sind ja hierarchische Strukturen, und man muß da wirklich von unten anfangen, um irgendwann bis nach oben in die Pyramide durchzukommen.

Ist es nicht ein Problem zu viel über die Politik erreichen zu wollen, auch wenn dort schon am ehesten Unterstützung zu erwarten ist? Wäre es nicht sinnvoller prinzipiell stärker auf die Selbstverwaltung zu setzen, und sich zu fragen, wie die Interessen der Patienten besser einbezogen werden können? Es geht doch darum dem Einzelnen mehr Wahlfreiheit zu geben, nicht darum, die konventionelle Medizin zu überstimmen. Sind Selbstverwaltungsorgane da nicht der bessere Ansatzpunkt?

Mann kann nicht auf der einen Seite die Freiheit des Geisteslebens fordern, und andererseits, wenn man merkt, daß der eigene Garten nicht genug gepflegt oder geschützt wird, nach dem starken Staat rufen. Das ist schon ein Widerspruch. Trotzdem hat natürlich der Staat Rahmenbedingungen zu setzen, die allen ein Leben in Freiheit ermöglichen. Das ist natürlich nicht optimal im Moment. Letztlich müssen wir aber auch sehen, dass viele Entscheidungen von knallharten wirtschaftlichen Interessen gesteuert werden, die eben die anthroposophische Medizin gerade nicht bedienen will. Aus diesem Blickwinkel tut ein bisschen „Staatsschutz“ auch ganz gut.

Gibt es andere Aspekte der Gesundheitsreform außer dem Arzneimittelbereich, wo man den Eindruck gewinnen kann, daß die Komplementärmedizin besonders berücksichtigt worden sind?

Man hat an keiner Stelle den Eindruck, daß auf die Belange der Besonderen Therapierichtungen oder der Komplementärmedizin besondere Rücksicht genommen wäre. Man hat das Gefühl, daß der Satz "die Belange der Besonderen Therapierichtungen werden berücksichtigt" gewissermaßen immer wieder mal ins Gesetz eingestreut worden ist, wie ein Dekorationselement, ohne wirklich mitgedacht worden zu sein. Ich nehme an, die Grünen haben an den entscheidenden Stellen darauf gepocht, daß jetzt wieder der Satz fällt "die Besonderen Therapierichtungen finden Berücksichtigung" oder "werden nicht ausgegrenzt". Aber es gibt sicher keinen methodischen Ansatz, der Komplementärmedizin zu helfen. Dabei glaube ich gar nicht, dass das aus bösem Willen geschieht, sondern vielfach ist einfach nicht klar, welche Kriterien und welche Parameter an diese Therapierichtungen angelegt werden müssen. Dann kommen natürlich Gesetze heraus, die vorne und hinten nicht passen.

Wenn die Grünen darauf bestanden haben, woran liegt es, daß sie ihre Forderung nicht richtig konkretisieren konnten? Hat es ihnen an Information seitens der betroffenen Organisationen gefehlt?

Ich habe vor etwa einem Jahr mit Biggi Bender (Bündnis90/Grüne) und auch mit Dieter Thomae (FDP) über anthroposophische Medizin gesprochen, und es war schon deutlich zu erkennen, daß beide in der Frühphase der Gesetzesentwicklung – also noch vor den fraktionsübergreifenden Kompromissgesprächen – händeringend auf Input warteten. Ich denke aber, daß sich hier durch die Aktivitäten des Dachverbands Anthroposophische Medizin (DAMiD) etwas geändert hat. Aber zumindest die Zeit davor, war diese Arbeit ein relativ schlecht beackertes Feld.

Inwiefern die Arbeit dann erfolgreich weiter geführt worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich möchte allerdings zu bedenken geben, dass Lobby-Politik weniger in Sprechstunden und in Amtszimmern gemacht wird. In kontinuierlichen Gesprächen, bei Sommer-Empfängen, bei Neujahrs-Einladungen, bei Anhörungen, bei Seminaren, bei Workshops, bei Kongressen, da wird Lobby-Arbeit gemacht und da sehe ich bislang keine Funktionsträger der anthroposophischen Medizin. Alle paar Jahre einmal an die Tür klopfen und sagen, „das und das wollten wir jetzt mal sagen“, das schafft keinen fruchtbaren Boden. Der fruchtbare Boden entsteht im Gespräch bei einer Erbsen-Suppe oder bei einem Glas Bier, da entsteht ein Fundus auf dem man später politisch aufbauen kann. Und ob die anthroposophische Medizin diesen Fundus, diesen Humus pflegen, da habe ich meine Zweifel. Die Offenheit der Politik ist im Prinzip da. Aber Politik ist auf Input und auf ein vertrautes Klima angewiesen.

Interviewfragen: Sylvain Coiplet

Weitere Informationen unter:

www.dreigliederung.de/gesundheitsreform
www.albrecht-kloepfer.de
www.gesundheitaktiv-heilkunst.de
www.damid.de


Quelle: Trigolog Berlin 4/2004, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Interviewten.