Was kann „Leitbildarbeit“ für die Entwicklung der Waldorfschule bedeuten

01.03.2002

"Du räumst dem Staate denn doch zu viel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aberdie Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das laß er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag es an den Pranger! Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte."
Friedrich Hölderlin / Hyperion

Wie allen Eltern in den Sommerferien mitgeteilt wurde, sind für die Kieler Waldorfschule in den nächsten Jahren drastische Kürzungen der staatlichen Zuschüsse zu erwarten. Es wurde darauf hingewiesen, dass damit die Arbeit der Schule existentiell in Frage gestellt wird. So sehr es nun in dieser konkreten Situation gewiß unmittelbar bis inís Politische wirkender Aktionen bedarf, so wird es doch auch immer wichtiger die weitergehenden gesellschaftlichen Zusammenhänge dieser Vorgänge zu verstehen, um eine wirklichkeitsgemäße Perspektive entwickeln zu können.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre sprechen eine phänomenal deutliche Sprache: durch die mit den neuen Medien einhergehende Globalisierungstendenz der Wirtschaft, sind alle Lebensbereiche weitreichenden Wandlungen unterworfen. Nicht nur das Verhältnis des einzelnen Menschen zur Gesellschaft, sondern auch die Aufgabe des Staates hat sich verändert: viele Bereiche ehemals staatlicher Verwaltung gehen in die Verantwortung der BürgerInnen über. Dies zeigt sich insbesondere in der enormen Staatsverschuldung und den ihr gegenüberstehenden, nie in dieser Dimension dagewesenen, Privatvermögensbildungen. Da aber immer noch Politik-Vorstellungen des 19. Jhds. herrschen und mit tauschwirtschaftlichen Begriffen umgegangen wird, die längst der Komplexität der modernen arbeitsteiligen Weltwirtschaft nicht mehr gerecht werden, ist eine schwerwiegende soziale Schieflage entstanden ("Laut dem Armutsbericht hat sich die Kluft zwischen Reich und Arm vor allem bei den Einkommen weiter vergrößert. Insgesamt wird das Privatvermögen [in der BRD] auf 8,2 Billionen DM beziffert. Dabei konzentrierten sich im Westen 42 Prozent und im Osten sogar 48 Prozent des Privatvermögens auf zehn Prozent der reichsten Haushalte. Umgekehrt mussten sich die untere Hälfte der Haushalte mit 4,5 Prozent des Vermögens bescheiden." Kieler Nachrichten, 26. April 2001).

Doch diese Schieflage ist eben im Grunde nur der Ausdruck dafür, dass das Kultur- und Bildungsleben schläft. Zwar spürt man nun langsam auch hier, dass sich die Lage zuspitzt, doch wagt man noch kaum den Schritt in echte Selbstverwaltung und -Verantwortung, sondern erliegt zumeist nach wie vor der anachronistischen Denkgewohnheit: "Papa Staat" habe die Aufgabe, das Bildungswesen zu finanzieren. Obwohl die staatliche Subventionspolitik gerade erst wieder durch die BSE-Krise in ihrem - das soziale und natürliche Leben manipulierenden - Charakter zu Tage getreten ist, will man noch kaum erkennen, dass die Bildungsfrage keine "bildungspolitische" (welch Unwort!), sondern die zentrale Aufgabe der "Zivilgesellschaft" ist. Ein Blick in die Gründungszeit der ersten Waldorfschule (1919), die ja bekanntlich eine frei finanzierte Arbeiter-Kinder-Schule war, zeigt erstaunliche Parallelen:

Wer zur Wirkenszeit Rudolf Steiners nur auf die politischen Forderungen des Proletariats schaute, der konnte nicht verstehen, warum Steiner gerade in den Tiefen des proletarischen Wollens die sozialen Zukunftskeime heraufkommen sah. Rudolf Steiner thematisierte immer wieder, dass sich hinter den sozialistischen Programmen und Klassenkampf-Parolen eine allgemein-menschliche Befreiungsbewegung bahnbrechen wollte: "In Bewegung ist gekommen der ganze Mensch auf dem Umweg über den prolet. Menschen. Da wirken tiefere Motive mit."(R.St., Notizbucheintragung 1919) Wie das Proletariat des 19. Jahrhunderts sich jedoch nicht zu einer freien Erkenntnisbewegung durchringen konnte, sondern der Bestrebung "proletarischer Vereinigung" erlag, so hat sich auch die Zivilgesellschaft ersteinmal in einer Art fordernden Opposition gegenüber dem Establishment aus Wirtschaft und Staat formiert. Überlagerte zu Steiners Zeit vorallem die Utopie einer "marxistisch geregelten wirtschaftlichen Großgenossenschaft" die eigentliche Zeitnotwendigkeit, so liegt die gegenwärtige Gefahr der Zivilgesellschaft in einer einseitig politischen Ausrichtung. Diese Einseitigkeit war es, die Heinrich Böll und Joseph Beuys Ende der 70er Jahre die Initiative für eine freie internationale Universität (FIU) ergreifen ließ: als einem freien (für Menschen aus allen Lebensfeldern offenen) Zusammenschluß, zur "permanenten Konferenz" über die im weitesten Sinne kulturellen und sozialen gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart. Eine solche - überinstitutionelle - Zusammenarbeit ist notwendiger denn je.

Das Finanzproblem der Waldorfschule ist eben auch der Ausdruck dafür, dass zu lange gemeint wurde, man hätte einen Anspruch auf "Selbstverwaltung", ohne den großen Zusammenhang des sozialen Lebens zu berücksichtigen. Diese Zusammenhänge müssen durchschaut werden, wenn sich die Lage nicht noch weiter verschärfen soll. Dass die Waldorfschulbewegung zumeist noch jeglichem Bestrebens zu initiativer wirtschaftlicher Assoziation entbehrt, ist eben nur die Folge ihrer langjährigen hochgradigen staatlichen Subventionierung. Die von Herrn Benning im letzten Elternbrief (Juli 2001) skizzierte Initiative zur "Gründung einer Stiftung" ist gewiß als erfreuliche Entwicklung zu begrüssen! Entscheidend wird die Frage, ob die Idee der Stiftung wirklich umfassend begriffen wird, vergleichbar der Idee des von Rudolf Steiner angeregten "Weltschulvereins": "Der Weltschulverein kann alle Kultureinrichtungen finanzieren [Hervorhebungen T.B.], wenn er in der richtigen Weise verstanden wird."(R.St., Ansprache vor Studenten, 16. 10. 1920)

Oft werden diese Ideen zu betriebsegoistisch entwickelt und einseitig die eigene Institution als ein vom übrigen sozialen Leben gesonderter "sozialer Organismus" betrachtet. Doch dieser Pragmatismus verkennt, dass erst aus der Polarität von Jetzt-Möglichem und Denkbar-Notwendigem Entwicklung hervorgehen kann. Zwar gibt es einzelne soziologische Betrachtungen, die den manipulativen Charakter staatlicher Finanzierung für das Bildungsleben zur Sprache bringen ("[...]der auf seine Weise einspringende Staat kaschiert durch die Schulgeldfreiheit die Zusammenhänge und gewinnt über die Finanzhoheit auch Einfluß auf Lehrpläne, Leistungsanforderungen und -kontrolle und über die Berechtigungen Gestaltungsmacht bis in den innersten Bereich der Pädagogik, der von Freiheit und Einsicht in die menschliche Natur bestimmt zu sein hätte; er entfremdet die Pädagogik ihrer Aufgabe." St. Leber, Die Sozialgestalt der Waldorfschule, Stuttgart 1978, Seite 92); auch wird die unsachgemäße Einflußnahme durch wirtschaftliches Sponsoring besprochen; doch herrscht zumeist noch weitgehende Unklarheit bezüglich der Notwendigkeit Kultur und Bildung grundsätzlich "individuell" zu finanzieren. (Selbst die Vertreter des "Bildungsgutscheins" übersehen, dass der Bildungsgutschein nur Wahl- aber keine Initiativ-Freiheit gewährt, der Staat weiterhin "Schule" definiert). Steiner unterscheidet deutlich, einerseits: die "Abgaben", "die für das Rechtsleben notwendig sind", die "durch die Übereinkunft zwischen den Leitern des Rechtslebens und denen des Wirtschaftslebens" zu regeln wären; und andererseits: "alles, was zum Unterhalte der geistigen Organisation nötig ist, wird dieser zufließen durch die aus freiem Verständnis für sie erfolgende Vergütung der Einzelpersonen, die am sozialen Organismus beteiligt sind." (R.St., Die Kernp. d. soz. Frage, Hervorhebung T.B.) "Gleiches Recht auf Bildung" kann ja nicht heissen, dass der Staat als "Bildungsveranstalter" die Institution "Schule" definiert und einrichtet (und somit den pädagogischen Bereich "gleichschaltet"), sondern nur, dass die Bedingungen geschaffen werden, dass durch ein assoziatives Wirtschaftsleben der einzelne gestärkt wird, zur Finanzierung des Bildungswesens beitragen zu können. "Es geht ja heute durch die Lande der Ruf: Unentgeltlichkeit des Schulwesens. Ja, was soll denn das überhaupt heissen? Es könnte doch nur der Ruf durch die Lande gehen: Wie sozialisiert man, damit ein jeder die Möglichkeit hat, seinen gerechten Beitrag zum Schulwesen zu schaffen?" (R.St., 1. Juni 1919, Hervorhebung T.B.) Indem Steiner vom "gerechten Beitrag zum Schulwesen" spricht, wird deutlich, dass er den einzelnen Menschen nicht nur als privaten Bildungskonsumenten anspricht, sondern ihm die Verantwortungsfähigkeit zum sozialen Ganzen zuspricht; denn die hier geforderte Gerechtigkeit kann ja nicht staatlich verordnet gedacht werden, wenn sie nicht wieder eine Bevormundung des Geisteslebens zur Folge haben soll. Der gefürchtete "Egoismus" ist eben selbst der Ausdruck, der - durch die staatliche Bevormundung - deformierten menschlichen Wesenheit, die, insofern sie sich frei entwickeln und ausbilden kann, in sich auch die "Liebe zur menschlichen gesellschaftlichen Ordnung" (Steiner) findet.

Man mag diese Ausführungen als allzu naiv oder unrealistisch bewerten, weil man meint, je mehr die Waldorfschule konkrete Initiative zu wirklich selbstverwalteter Trägerschaft zeigt, der Staat mit weiteren Kürzungen antworten würde - womit der Untergang der Waldorfschule gesichert sei... Doch wer so denkt, der unterschätzt nur das eigentliche Kapital der Waldorfschule: die ihr zu Grunde liegende Menschenkunde; und er verkennt, dass der ihr immanente Impuls kein separates Privatproblem ist, sondern eine in der Gegenwart tief verwurzelte Zeitnotwendigkeit darstellt. Wie oft hört man den Satz: "Ja, grundsätzlich ist das ja vielleicht richtig, aber die Menschen sind noch nicht so weit..." Es ist immer gut im konkreten Fall zu fragen, wer denn hier für "die Menschen" gehalten wird, doch ist gewiß richtig, dass die gegebenen Strukturen einem wirklichen Mündigkeits-Erleben offensichtlich kaum förderlich sind: sind doch die sogennanten "noch nicht so weit entwickelten Menschen", gerade Menschen dieser bevormundeten Gesellschaft. "Eine Geistesart, die nicht in Freiheit aus dem Leben des Geistes selbst sich entwickelt, sondern aus einer äußeren Organisation heraus, die weiß eben nicht, was der Geist wirklich vermag." (R.St., Aufsätze, Dornach 1988, Seite 173)

Für die Leitbildarbeit bedeuten diese Gedanken eine dreifache Fragestellung:

1. Wie kann die innerschulische - vorallem pädagogische Arbeit des Kollegiums - in ihrer eigentlichen - menschlicher Entwicklung dienenden - Aufgabe gestärkt werden ?

2. Wie kann die Schulgemeinschaft als Ganze - zeitgemäß - zwischen den internen und staatlich gegebenen rechtlichen Forderungen vermitteln ?

3. Wie kommt der individuelle Mensch zu einem wirklichen Interesse der großen Fragen und Notwendigkeiten der Zeit ?