Die Kernpunkte als Methode – Arbeit und Einkommen

05.06.1977

Quelle
Zeitschrift „Korrespondenz der Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederung“
Nr. 29, Juni/Juli 1977, Seite 16–17
Bibliographische Notiz

Herrn Peter Schilinski
über die Korrespondenz der Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederung

Lieber Peter!

Unsere Diskussion und Diskrepanz von vor einem Jahr während der Arbeitstagung in Berlin, konnte, wie üblich bei Tagungen, nicht zu einer befriedigenden Klärung kommen. Ich möchte Dich deshalb herausfordern über die Korrespondenz auf folgende Gedanken zu antworten.

Wenn man sich als Dreigliederer Gedenken macht über die Frage der Arbeit und des Einkommens, scheint es mir angemessen ‚die Kernpunkte‘ als Methode, und nicht als Utopie zu verwenden.

Für Steiner waren ‚die Kernpunkte‘ ja Ergebnisse geisteswissenschaftlicher Forschung auf dem Gebiete der sozialen Frage. Wenn wir, mehr als 60 Jahre später, wiederum eine soziale Frage klären wollen, müssen wir doch, vorurteilslos, die heutige Gestalt dieser Frage studieren - und unter Umstände zu anderen Ergebnissen kommen als Steiner vor 60 Jahren. Wir können ‚die Kernpunkte‘ höchstens als Methode anwenden: Wie und wo finden wir die von Steiner beschriebenen Wesensmerkmale des Sozialen in den heutigen Phänomenen wieder? Und wie können wir das begrifflich fassen?

Wie sieht zunächst der Arbeitsbegriff dreigliedrig aus? Für die Wirtschaft, wo es ja um die Produktion von Waren und Dienstleistungen, zur Befriedigung der Konsum-Bedürfnisse anderer geht, kommen die Arbeitsergebnisse in Betracht. Nur die kann man konsumieren. Vom Gesichtspunkt des äusseren Geisteslebens sind es die menschlichen Fähigkeiten, die die Arbeit ermöglichen. Sie sind von der Person des arbeitenden Menschen untrennbar. Den Rechtsaspekt der Arbeit findet man dort, wo es sich um eine zwischenmenschliche Beziehung handelt. Also der Arbeitseinsatz für jemand anderes. Wenn ich diese drei Aspekte der Arbeit in einem Arbeitsbegriff nach Dreigliederungsmethode zusammenfassen will, möchte ich ihn folgendermassen definieren: „Arbeit ist der Einsatz menschlicher Fähigkeiten (GL) zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung (WL) anderer Menschen (RL)“.

Ein solcher Arbeitsbegrif braucht nicht wissenschaftliche Theorie zu bleiben. Es folgen daraus einige gesellschaftliche Forderungen:

  1. Wenn wir die Fähigkeiten ernsthaft als geistiges Wesensmerkmal des Individuums verstehen, heißt das, daß diese Fähigkeiten nur durch freie Entscheidung eingesetzt werden dürfen, oder: die Wahl des Arbeitsplatzes sollte zwangslos erfolgen, d.h. auch ohne Zwang durch Bedrohung des Einkommensverlustes möglich sein.
  2. In gesellschaftlichem Sinne gibt es nur dann Arbeit, wenn das Ziel der Betätigung bei anderen Menschen liegt. (Wenn ich also am Strand ein Loch grabe nur weil es mir Spass macht, ist es keine Arbeit.) Arbeit ist somit auch nicht beschränkt auf physische Arbeit. Physische wie geistige Anstregung kann Arbeit sein.
  3. Wenn es keine Bedürfnisse zu befriedigen gibt, gibt es keine Arbeit. D.h. daß ein ‚Recht auf Arbeit‘ terminologischer Unsinn ist: Es müssten dann Bedürfnisse künstlich geschaffen werden - dann sind es keine echten Bedürfnisse, also auch keine echte Arbeit. Auch die Herstellung von Verschleissprodukten ist keine Arbeit.

Nun zum Einkommensbegriff. Heute wird das Einkommen als wirtschaftlicher Faktor geschildert. Es beteiligt sich einer am Wirtschaftsleben, wenn er etwas produziert (siehe Arbeitsergebnisse) oder wenn er konsumiert, d.h. durch den Kauf sich irgendwelche Waren zueignet. Das Einkommen, das man als Geld in die Tasche bekommt, gibt einem nur das Recht einen gewissen Teil der hergestellten Waren und Dienstleistungen zu ge- oder verbrauchen. Anders ausgedrückt: Sämtliche Einkommen der Menschen bilden ein Verteilunssystem des Produzierten. Wirtschaftlich daran ist nur die Gesamtmenge des Produzierten. Das Geistesleben ist vertreten in der Findung einer gerechten Einkommensverteilung. Das Einkommen ist somit, nach diesen drei Gesichtspunkten definiert wie „ein Recht (RL) auf Konsum einer nach bestimmten Gesichtspunkte (GL) festgelegten Menge der Gesamtproduktion (WL)“.

Auch dieser Einkonmensbegriff hat gesellschaftliche Folgen:

  1. Es kann nicht mehr verteilt werden als produziert wird, d.h. daß eine Erhöhung des Einkommens eines Menschen eine Verringerung der Einkommen anderer Menschen zufolge hat.
  2. Die in der kapitalistischen, wie in der marxistischen Ideologie übliche Forderung, daß jeder soviel Einkommen haben soll, wie er Wirtschaftswerte produziert, kann weder auf sozial- noch auf wirtschaftswissenschaftliche Forschungsergebnisse zurückgeführt werden. Das Begriffspaar Leistung und Gegenleistung ist lediglich ein (un-)moralisches Dogma. Ebenso ist die Einkommensbildung mittels des Marktprinzipes beim Arbeitsmarkt eine willkürliche, und nicht eine, die prinzipiell gerecht ist.
  3. Weil nur gesamtgesellschaftlich eine gesteigerte Produktion (Sozialprodukt) auch eine Steigerung der Gesamteinkommen verursachen kann, ist die Kopplung von Arbeit und Einkommen im individuellen Bereich höchstens eine Zwangsmassnahme, damit die Menschen arbeiten, weil sich anscheinend in der heutigen Produktion selbst keine effektive Arbeitsmotivation findes lässt. Somit ist es rein willkürlich, daß jemand sein Einkommen bekommt auf Grund seiner Tätigkeit am Arbeitsplatz (ob selbständig oder im Lohnverhältnis) und nicht woanders, z.B. beim Essen, Fahren, oder auf dem Klo ...

Die Frage ist nur: wie kommen wir zu einer Trennung von Arbeit und Einkommen, so, dass die Menschen aus den Nöten der Mitmenschen heraus eine Motivation zur Arbeit finden können, und aus Gerechtigkeitsüberlegungen ein Einkommen beziehen? Aus der Verschiedenartigkeit der Arbeit und des Einkommens stellt die Dreigliederung nur diese Forderung; zu der Frage wie das zu realisieren sei können wir verschiedene Modelle entwickeln. Eine vollkommene Lösung bedingt einiges, und ist somit vorläufig nicht realisierbar: so müsste z.B. alles Eigentum an Produktionsmitteln und Kapital abgeschafft werden, u.s.w. Die Lösungen, also auch die hierunter entwickelte, können zunächst also keine vollkommenen sein.

Die Tatsache an sich, dass ein Individuum existiert, d.h. an der Gesellschaft teil hat, sollte ihm schon ein Recht auf Leben geben. Wenn man dies erweitert, dürfte jeder, ob er nun was leistet oder nicht, ein Einkommen haben, genug für seinen Lebensunterhalt und seine Entfaltung. Man könnte den Bürgern ein Grundeinkommen, von beispielsweise 700.- DM monatlich von einer zentralen Kasse automatisch gutschreiben. (Eine Familie mit zwei Kindern bekäme dann insgesamt 2800 DM). Das hätte einige Vorteile:

  • Niemand braucht mehr um seinen Arbeitsplatz Angst zu haben. Seine Existenz ist davon nicht abhängig.
  • Weil Alle diese Summe bekommen, braucht niemand sich zu schämen, wenn er eine zeitlang mal kein anderes Einkommen hat: Man bekommt sein Grundeinkommen als ein Recht.
  • Die Frau wird befreit. Bürgerliche Ehen, die nur auf Grund der Existenzsicherung zusammenhalten, können aufgelöst werden. Andere Lebensformen sind gleichberechtigt.

[Korrespondenz, Nr. 29, Juni/Juli 1977, Seite 16]

  • Auch andere Abhängigkeitsverhältnisse werden beseitigt: Das Leistungsprinzip beim Studiengeld (ob BAFÖG oder Taschengeld von Pappi), bei der Suche nach einer von anderen zu bestimmenden ‚passenden‘ Arbeit, bei der Arbeitslosenunterstützung, u.s.w.
  • Die furchtbar menschenunwürdige Bürokratie, die wir heute vorfinden bei der Realisierung der vielen ‚sozialen‘ Massnahmen (Arbeitslosenunterstützung, Studiengeld, Altersrente, Krankengeld, u.s.w., u.s.f.) kann abgeschafft werden.
  • Jeder wird in der Lage sein, die Fähigkeiten auszuüben, die er für nötig hält. Somit entstehen neue Berufe, alternative Werkstätten, freie Forschungsinstitute, freie Schulen (die ja ausser den Einkommen der Lehrer nicht viel kosten) u.s.w.
  • Diejenigen, die heute an ihrem Arbeitsplatz die Zeit absitzen, können gehen wenn sie etwas anderes vorhaben. Dadurch werden Arbeitsplätze frei für die, die sich zuhause als ‚Arbeitslose‘ langweilen.
  • die Betriebe werden die Arbeit so einrichten müssen, dass sie menschlich ist: sonst kommt keiner mehr. Unangenehme Jobs werden besser bezahlt werden müssen, und sind nicht auf lebenslang festgelegt.

Im Endeffekt gibt es also zwei Einkommenssorten: Das jederman zustehende Grundeinkommen, und zusätzlich ein ‚verdientes‘ Einkommen für die, die Arbeitsprodukte verkaufen wollen. Es ist mittlerweile sowieso nicht mehr möglich, Millionen einen (industriellen) Arbeitsplatz zu bieten. Vieles Positive Könnte heute gemacht werden (Umwelt, Sozialarbeit, Schulung, u.s.w.) und die, die es machen wollen und könnten, sind Gefangene des Lohnsystems und kommen nicht dazu. Ist es nicht an der Zeit, die Menschen durch ein Grundeinkommen zu befreien, damit auch solche Arbeiten gemacht werden, und der richtige Mann an den richtigen Platz kommt? Daß es dabei Leute gibt, die faulenzen werden, ist mir bekannt. Der Schaden, der dadurch entsteht, dürfte jedoch wesentlich geringer sein, als der, wer heute da ist dadurch, dass die einen zuhause sitzen und nicht arbeiten dürfen, während die anderen mit Widerwillen in der Fabrik oder im Büro ihre 8 oder gar 10 Stunden ohne Arbeitsmotivation durchhalten müssen.

Ich bin gespannt, lieber Peter, ob ich hiermit Deine Argumente gegen ein Grundeinkommen für jedermann widergelegt habe? Ich freue mich auf jeden Beitrag zu diesem Thema!

[Korrespondenz, Nr. 29, Juni/Juli 1977, Seite 17]