Ölkrise als Bewusstseinswandel

01.03.1974

Quelle
Ständige Korrespondenz
Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederung des sozialen Organismus
Nr. 6, März 1974, S. 2-5

Es sollen hier nicht die Ursachen oder gar Hintergründe der über grosse Teile der Welt hereingebrochenen Ölkrise untersucht werden, sondern einfach die Tatsachen, welche sich aus der mehr oder weniger krassen Sperre der arabischen Öllieferungen für viele Länder ergeben haben. Mit einer Naturkatastrophe ist es vergleichbar, was ganz unerwartet, aber durch menschliche Entschlüsse über weite Teile der Kulturwelt hereingebrochen ist, nämlich der willkürliche Entzug von Energiequellen, die durch ihre Heizkraft lebenspendend und durch ihre Energieverwandlung lebenswichtig für die Aufrechterhaltung des gewohnten wirtschaftlichen Potentials geworden sind. An den in vielen Ländern verfügten Einschränkungen im Energieverbrauch, durch welche Heizung, Licht und Kraft, also auch die durch Benzin angetriebenen Verkehrsmittel betroffen sind, ist den Menschen plötzlich zu Bewusstsein gekommen, an welch gegenseitige Abhängigkeiten man sich so gewöhnt hatte, dass etwaige Unterbrechungen höchstens durch Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Sturmfluten, Missernten und dergleichen zu befürchten waren. Dass im Zeitalter der Rohöl- und Erdgasversorgung durch Pipelines, die unbedenklich durch viele Länder und Meere gelegt wurden, die missbräuchliche Bedrohung ganzer Völkerschaften, die mit einander im Frieden und mit gegenseitigem Warenaustausch verbunden waren, beschlossen werden könnte, kam dem normalen Erdenbürger gar nicht in den Sinn, weil er die wirtschaftlichen Beziehungen so stark verzahnt glaubte, dass die finanziellen Interessen alle anderen Gedanken weit übertreffen würden.

Es kam anders. Wie ein Alarmzeichen wirkt die Bedrohung unserer Zivilisation und es nützt nichts, die Frage aufzuwerfen, ob nicht besser vorgesorgt hätte werden sollen. Denkt man an eine mögliche lange Dauer des jetzigen Mangelzustandes oder etwa an einen langen, besonders kalten Winter, so lässt sich das Ausmass der Katastrophe gar nicht absehen. Geht man den wirklichen Ursachen dieser aussergewöhnlichen Situation auf den Grund, so muss erkannt werden, dass die viel gespriesene Weltwirtschaft auf tönernen Füssen ruht, so lange das ganze Wirtschaftsleben von der Politik beherrscht wird. Man kann auch sagen: so lange die Politik benutzt wird, um zu wirtschaftlichen Vorteilen zu kommen. Die Erkenntnis wird reifen müssen, dass die Betrachtung des wirtschaftlichen Wesens revidiert werden muss. Geht man vom Sinn des Wirtschaftens zum Zwecke der Deckung

[Korrespondenz, Nr. 6, März 1974, Seite 2]

des menschlichen Bedarfs an Nahrung, Bekleidung und allem, was mit den Bedürfnissen einer modernen Zivilisation zusammenhängt aus, so fallen die nationalen Gesichtspunkte prinzipiell fort, denn die Bedürfnisse der Menschen sind überall vorhanden. Sie unterscheiden sich nur durch die Kulturstufen der Völker. Man hat ja auch längst erkannt, dass die Grenzen innerhalb der europäischen Industriestaaten ihre Bedeutung verloren haben. Statt aber einer gegenseitigen Verständigung durch freiwillige Vereinbarungen die Wege zu ebnen, hat das wirtschaftspolitische Denken dazu geführt, überstaatliche Organisationen zu schaffen, die ausgesprochen politische Ziele verfolgen. Die etwas anders gearteten amerikanischen Verhältnisse sollen hier nicht behandelt werden. Der europäische, insbesondere der mitteleuropäische Weg hingegen sollte sich immer mehr in der Richtung einer Selbstverwaltung des Wirtschaftslebens entwickeln, die nicht aus Zentralisationsbestrebungen bestehen kann, sondern durch assoziatives Verhalten der wirtschaftlichen Kräfte selbst entstehen muss. Wie bekannt versteht man darunter die Bildung von Vereinbarungen zwischen Konsumenten, Produzenten und dem Handel in überschaubaren Territorien über die verschiedensten Branchen hinweg. Solche Assoziationen bilden allein die Grundlagen für eine gesunde Weltwirtschaft. Eines ist heute schon einzusehen und Forderungen dieser Art traten in letzter Zeit in Japan auf: Soll das Wirtschaftsleben sich künftig gesund entwickeln, so muss es entpolitisiert werden, um ähnliche Katastrophen zu vermeiden, wie wir sie heute erleben!

Zwingt die Ölkrise zu solchen Betrachtungen, die das Bewusstsein der Gegenwartsmenschen auf weitere Entwicklungen lenken können? Vielleicht ist die Zukunft gar nicht so fern, in der die Menschen nach neuen Wegen Ausschau halten werden. Wie froh müßten viele Jugendliche sein, auf solche neuen Wege hingewiesen zu werden. Könnte man nicht sehr viele Studenten in den Universitäten aufmerksam machen durch einen Anschlag am schwarzen Brett etwa mit Worten: „Welche Zukunftsforderungen ergeben sich aus der Ölkrise ? Diskussion darüber da und da ...“ In solchen Städten, wo Gruppenarbeit geleistet wird, könnten aus einem solchen Anlass gewiss viele Fragen beantwortet werden, die heute in eine falsche Richtung gehen. Was nützt es, darüber zu grübeln, wer die Krise verursacht hat oder wo die treibenden Kräfte zu suchen sind, welche sich die Weltsituation auf dem Ölmarkt zu Nutze machen wollen. Dass der Kampf um Israels Existenz zwar die Ölkrise ausgelöst, nicht aber veruracht hat, ist leicht zu verstehen,

[Korrespondenz, Nr. 6, März 1974, Seite 3]

zu solchen treibenden Kräften ist dem Einzelnen jedoch der Zugang versagt. Wir können sie nicht beeinflussen. Wenn wir Aufklärungsarbeit leisten wollen, bietet sich hier ein Weg, von den Symptomen zu den tieferen Ursachen vorzustossen und damit den Gedanken der Dreigliederung in weite Kreise zu tragen.

Man kann der Meinung sein, die arabischen Völker, die in trockenen Wüstengebieten wohnen, seien derart auf den Import von Lebensmitteln, insbesondere von Weizen und Reis angewiesen, dass es für sie gefährlich werden könne, die westliche Welt durch eine Drosselung der Ölexporte herauszufordern. In der Tat sind die USA die größten Weizen-Exporteure der Welt, was mehrfach daran erkannbar war, dass sie anderen Staaten wie China, Indien und sogar Russland mit großen Weizenlieferungen aushelfen mussten, wenn deren Vorräte infolge Missernten nicht ausreichten. Aber die Russen haben ihren Weizenanbau seither so gesteigert, dass sie heute in der Lage sind, den Ausfall amerikanischer Lieferungen zu kompensieren. Wie die Bodenschätze in der Welt ungleich verteilt sind, sind auch die Volkswirtschaften nicht in der Lage, alle ihre Bedürfnisse aus dem eigenen Grund und Boden zu befriedigen. Sie sind auf einen Anteil an den noch immer genügend vorhandenen Lebensquellen der Erde angewiesen. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass eine freiwillige Verständigung über die Verteilung an die Erdbevölkerung an diesen Quellen zu erfolgen hat und daß die kapitalistische Ausbeutung derselben ihrem Ende entgegengeht. Was wir mit einer assoziativen freiwilligen Ordnung angetönt haben, hat nicht nur für die Volkswirtschaften Zukunftscharakter, sondern ist zugleich die Aufgabe zur Erreichung einer gesunden Weltwirtschaft.

Rudolf Steiner hat diesem Ziel in seinem bedeutenden Vortrag vom 11. März 1919, den er im Bremer Rathaussaal hielt, ausführlich dargestellt. An derselben Stelle warb Winston Churchill 27 Jahre später für das Zustandekommen der Vereinigten Staaten von Europa, also für eine neue Blockbildung, welche das Gegenteil einer organisch funktionierenden Weltwirtschaft bedeutet und ganz auf dem unseligen Machtprinzip basiert, das nur zu weiteren Katastrophen führen kann.

Es mag bei dieser Gelegenheit daran erinnert werden, dass Rudolf Steiner die Golddeckung des internationalen Währungssystems ersetzt wissen wollte durch eine Weizenwährung, allerdings verbunden mit der oben erwähnten Selbstverwaltung eines assoziativen Wirtschaftssystems, welches auch die Preisbildung gemeinsam zu regeln hätte. Der Getreideanbau ist vom Fleiss der Völker abhängig und kann nicht monopolisiert werden[2]

[Korrespondenz, Nr. 6, März 1974, Seite 4]

wie der Abbau der Goldminen. Da in vielen Gebieten der Erde der Getreidebau möglich ist, kann er nicht leicht zu politischen Zwecken missbraucht werden. Vom Fleiss und der Tüchtigkeit der Völker wird es abhängen, sich auf solche Weise die Stabilität der Währung zu erhalten.

[1] R. Steiner - Die wahren Grundlagen eines Völkerbundes

[2] Walter Johannes Stein: Das Gold in Geschichte und Gegenwart, Zugleich eine Betrachtung der Weltwirtschaftskrise Orient-Occident-Verlag, Köln 1933
David Ferguson - A Measure of Corn, The key to world economy

[Korrespondenz, Nr. 6, März 1974, Seite 5]