Gedanken zur Überwindung des Lohnverhältnisses

01.12.1970

Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
Jahrgang 13, Heft 1-2, Dezember 1970, S. 63-66
Bibliographische Notiz

Zum Artikel „Arbeitslohn und Wiederverkörperung“ in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ Nr. 15 vom 12. April 1970

Der Artikel im „Goetheanum“ könnte für die Leser der internen „Beiträge für Dreigliederung“ ergänzungsbedürftig erscheinen durch das, was Rudolf Steiner die „Urzelle des Wirtschaftslebens“ oder auch das Atom und das Urelement genannt hat. Er sprach darüber in seinem Tübinger Vortrag vom 2. Juni 1919 und im VI. Vortrag des nat.ök.-Kurses. Die Formulierung lautet: „Ich muß imstande sein, für dasjenige, was ich hervorbringe, so viel einzutauschen aus der übrigen Wirtschaft, daß ich meine Bedürfnisse des Lebens aus dem Eingetauschten befriedigen kann, bis ich imstande bin, eine gleiche Produktion, wie das Hervorgebrachte, wieder herzustellen.“ Man könnte den Eindruck haben, als handle es sich hier um eine direkte Entlöhnung oder Vergütung des hergestellten Produkts durch den Unternehmer. In Wirklichkeit bezieht sich die Urzelle auf die in den Assoziationen zu vollziehende Preisbildung, bei der die Lebensnotwendigkeiten aller Beteiligten berücksichtigt werden müssen. Das Gesetz der Urzelle trifft also auch dann zu, wenn es sich um mechanische oder gar automatische Herstellungsprozesse handelt. Es ist der Wegweiser für die Errechnung des Existenzminimums der an der Produktion Beschäftigten, die nicht von einzelnen Betriebsverhältnissen ausgehen darf, sondern die gesamtvolkswirtschaftliche Situation berücksichtigen muß. Sie schließt zugleich die unrechtmäßige Einmischung kapitalistischer Interessen aus. Es heißt da: „In das Wirtschaftsleben hat sich hineingeschlichen gerade, daß der moderne Kapitalismus mit seiner Sehnsucht nach der Rente, der Konkurrenz des Kapitals, das Auf-den-Markt-Werfen und Regeln nach Angebot und Nachfrage - es hat sich in dieses Wirtschaftsleben hineingeschlichen eine Verwaltungsart, eben durch den Kapitalismus, die durch die Natur des Wirtschaftslebens nicht notwendig in diesem stehen muß.“

Hier wird die Rente als die Konkurrenz des Kapitals bezeichnet, was nicht zu verwechseln ist mit einer angemessenen Verzinsung von Leihkapital. Gemeint ist sicher die Spekulationsmöglichkeit durch verselbständigte Aktionen der Weltmacht Kapital. In vielen Fällen handelt es sich um anonyme Besitzrechte in Form von Aktien, die bei einem vertraglichen Teilungsverhältnis in einem Wirtschaftsbetrieb nicht gerechtfertigt sind. Ist es nicht so, daß z.B. Industriebetriebe gerechterweise denjenigen gehören sollten, die darin arbeiten? Wohl wird der mitarbeitende Unternehmer, das ist der geistige Leiter, am oberen Ende eines Verteilungsschlüssels stehen; arbeitsloses Einkommen wird es hingegen nicht geben können.

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 63]

In der gegenwärtigen Wirtschaft wächst der ursprüngliche Kapitalbesitz eines Einzelnen immer mehr zu einem anonymen, eigenen Gesetzen folgenden Betriebskapital an, das dem Betrieb nicht mehr entnommen werden kann, sondern zu dessen dauernder Entwicklung zu dienen hat. Genügen die eigenen Mittel dazu nicht, so erfolgt die Beschaffung weiterer Investitions-Kapitalien auf dem öffentlichen Markt durch Aufnahme von Anleihen. Wenn das wie heute meistens durch Ausgabe neuer Aktien geschieht, dann erhält das kapitalistische, nur nach Rendite hungernde oder nach Kursschwankungen drängende Börsenwesen immer neuen Zustrom, der einer gesunden Entwicklung der sozialen Gemeinschaft im Wege steht.

Im dreigliedrigen sozialen Organismus wird das freie Kapital so gelenkt und durch sukzessive Wertverminderung so flüssig erhalten, daß Leihgeld in genügendem Maße zur Verfügung steht. Der Weg der Aktienausgabe braucht nicht beschritten zu werden. Arbeitsloses Einkommen braucht es nicht zu geben, sobald für Alter und Krankheit in vollem Umfange anderweitig gesorgt ist. Eine Beteiligung betriebsfremder Persönlichkeiten erübrigt sich. Der mitarbeitende Unternehmer erhält seinen Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Ertrag, wie alle übrigen Mitarbeiter. Gehälter und Löhne gibt es nicht mehr. Seine geistigen Leistungen und organisatorischen Talente werden voll zu bewerten sein, so daß er auf zusätzliche Einkünfte oder Gewinne verzichten kann.

Der Betrieb wird in Wirklichkeit denjenigen gehören, die darin arbeiten. Es kann sich dabei nicht um Kapitalbesitz im üblichen Sinne handeln, der zu irgendwelchen Majorisierungen führen könnte, sondern um ein Verfügungsrecht derjenigen, die damit arbeiten, nicht aber um persönliches Eigentum. Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit ist bei der Aufstellung einer Gewinn- und Verlustrechnung zu ermitteln und ein angemessener Anteil an die Beteiligten auszuschütten, der für den Betrieb nicht steuerpflichtig sein kann. Gegenüber dem geltenden Aktienrecht muß eine neue Gesetzesgrundlage geschaffen werden. Wichtig ist vor allem, daß das, was man heute Lohn nennt, nicht mehr als Unkostenposten behandelt wird, denn das entspricht nicht der Würde des Menschen, ganz gleich, ob er Hilfsarbeiter oder Leiter eines Betriebes ist. Daraus ergibt sich sein moralischer Rechtsanspruch auf eine entsprechende Teilhaberschaft. Das vertragliche Teilungsverhältnis selbst wird sich durch einen Schlüssel ergeben, der nicht von einer mengenmäßigen Leistung abhängig ist, weil die Leistung aus ganz anderen Arbeitsantrieben resultieren wird. Der Schlüssel könnte etwa einer Arbeitsplatzbewertung vergleichbar sein, die nur andere Maßstäbe als die heute üblichen anlegt.

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 64]

Die Entwicklung des Betriebs muß in Betriebsversammlungen oder durch Anschlag bekanntgegeben werden. Auf die geschilderte Weise ist es möglich, den Finanzhaushalt vollkommen offen zu behandeln und allen Mitarbeitern Einblick zu gewähren. Sie können sich selbst errechnen, was sie und andere zu erwarten haben. Für den Unternehmer wird es kein Opfer bedeuten, wenn er sein privates Verfügungsrecht über das Kapital eingeschränkt sieht, weil sich andere Rückhalte dafür einstellen, die in den assoziativen Wirtschaftsorganisationen liegen.

Die Frage der Mitbestimmung löst sich bei diesen Verhaltensweisen dadurch von selbst, daß es ein Anliegen der Leitung sein wird, Verantwortlichkeiten an die Mitarbeiter weiterzugeben, um bei den immer komplizierter werdenden Wirtschafts- und Produktionsvorgängen von denjenigen beraten zu werden, die mit der Praxis aufs Innigste vertraut sind. Eine gesetzliche Regelung oder ein sonstwie gearteter Zwang von Seiten der Gewerkschaften erübrigt sich. Er würde nur zu Gegensätzen führen, die auf den beschriebenen Wegen gar nicht auftreten können. Es muß sogar im Interesse der Geschäftsleitung liegen, nach geeigneten Führungstalenten Ausschau zu halten, um sie evtl. für die künftige Leitung heranzuziehen, wenn sich im eigenen Unternehmen keine entsprechenden Fähigkeiten erwarten lassen.

Durch die angestrebten Assoziationen werden sich die heute geltenden egoistischen Arbeitsantriebe für den Unternehmer ändern, so daß er nicht nötig haben wird, staatliche Machtmittel für seine Zwecke in Anspruch zu nehmen. Auf der anderen Seite wird er in der Lage sein, jegliche staatliche Einmischung abzulehnen, weil sich die Wirtschafter selbst als die besten Ordner der ihnen vertrauten Wirtschaftsvorgänge, die Marktlage und die Bedarfsverhältnisse erweisen werden. Denn in assoziativen Zusammenhängen ist der Boden geschaffen, auf dem sie sich mit den andern Wirtschaftern über Sinn, Ziel und Zweck ihrer Betätigung verständigen können. Was im heutigen ungebundenen, d.h. egoistischen Geschäftsleben nicht möglich ist: Im assoziativen Wirtschaftsleben werden durch das gegenseitige Verhalten der Menschen solche sozialen Triebe und Empfindungen entstehen, die dem Wirtschaftsleben eine vollkommen andere Bedeutung vermitteln werden. Es wird nicht ein Hasten und Feilschen um kommerzieller Vorteile willen das Antriebsmoment des Wirtschaftens bilden, sondern moralisch begründete, brüderliche Gesinnungen werden zur Geltung kommen, bei denen die Bedarfsdeckung der Weltbevölkerung im Vordergrund steht. Nur auf solche, von jeder Wirtschaftspolitik befreite Weise kann eine Weltwirtschaft entstehen und gedeihen, durch welche die Völker befriedet werden. Rudolf Steiner bezeichnet in seinem Zürcher Vortrag vom 9. März 1919 nicht die Verwendung von Kapital an sich als die Ursache des antisozialen Verhaltens der Menschen in der Wirtschaft,

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 65]

sondern mißt die Schuld dem Mißbrauch der geistigen Fähigkeiten der leitenden Persönlichkeiten zu, durch die sie in der Lage sind, ihre Mitarbeiter auszunützen, ja zu übervorteilen. Nicht die Wirtschaft, sondern die geltende Rechtsordnung bietet die Möglichkeit zu einem solchen Verhalten.

„Da haben Sie den Zusammenhang mit der geistigen Welt! Machen Sie erst die geistige Organisation gesund, so daß die geistigen Fähigkeiten sich nicht mehr dahin entwickeln, daß sie übervorteilen denjenigen, der arbeiten muß: dann machen Sie den sozialen Organismus gesund.“ Und im Tübinger Vortrag vom 13. Mai 1919 heißt es: „Sehen Sie, deshalb ist es notwendig, daß in der Zukunft losgelöst wird der eigentliche Staat, das eigentlich soziale Rechtsgebiet, von dem Wirtschaftsgebiet ... Man wird imstande sein, alles dasjenige, was auf dem demokratischen Boden des Rechts reguliert werden kann, auch wirklich unabhängig vom Wirtschaftsleben zu regulieren ... Dann wird das zirkulierende Kapital (als Produktionsmittel) niemandes Besitz sein, sondern zu allgemeiner Verwendung da sein, die immer an den Fähigsten übergehen kann ... Dann wird das Privatkapital entfallen sein, der Lohn entfallen sein, denn Leistungen werden da sein, welche der Arbeiter mit dem Arbeitsleiter gemeinsam hervorbringt ... Der Lohnbegriff hört auf, einen Sinn zu haben. Es besteht kein Arbeitsvertrag, es besteht ein Vertrag lediglich über die Teilung der Leistungen.“

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 66]