Der Dreigliederung verschworen

01.06.1967

Als ich im Frühjahr 1919 meine Tätigkeit für die Arbeiterbildungskurse aufnahm, war Emil Leinhas noch nicht in der Waldorf-Astoria. Er tauchte in der Zeit in Stuttgart auf, als sich die Arbeit für die Ausbreitung der sozialen Dreigliederungsideen hier intensivierte. Gleichsam mit der linken Hand, aber mit einer überaus geschickten und sicheren linken Hand, kaufmännisch gediegen und künstlerisch souverän, versah er zugleich einen leitenden Posten in der Fabrik.

So wollte es das Schicksal, daß ich ihm zunächst als einem meiner Chefs an jenem Schalter des großen Kontors begegnet bin, wo die Gehaltstüten in Empfang genommen wurden oder auch neue Salär-Ansuchen anspruchslos leicht, doch mit begleitendem Herzklopfen vorgebracht wurden.

Genau in der zuletzt angedeuteten Lage und Verfassung befand ich mich, als ich seine aus einem unvergeßlich markanten Gesicht herausblickenden klugen Augen zum erstenmal auf mich gerichtet sah, während ein feines Lächeln um seine Lippen spielte. Er hörte mit jener charakteristischen Geduld zu, die man in der Schülerschaft Rudolf Steiners erwerben lernte. Während er hörte, machte er flüchtig einige Notizen auf einem mehrfach perforierten und dadurch in viele Einzelabschnitte unterteilten Block.

Es war ein auffallend kleines Zettelchen, auf das er seine Bemerkungen notierte, und ich dachte bekümmert, dies sei doch eine besorgniserregend geringfügige Unterlage für meine mir nicht unbedeutend erscheinenden Hoffnungen. Doch mit der vollen, für solche Situationen von Schiller geforderten Anmut, erklärte mir der neu hereingeschneite Chef, daß ihm mein Ansuchen ganz angemessen vorkäme. Er wolle es gern vertreten. Und ich war bald freudig überrascht, wie schön sich das unscheinbare Zettelchen entfaltet hatte.

Schon bei dieser kurzen ersten Begegnung hatte ich einiges von dem wahrgenommen, was mir später immer so charakteristisch für Emil Leinhas erschien. Es war die hingebungsvolle Konzentration, durch die er sich ganz mit einer Sache verband, ohne sich je an diese Sache zu verlieren. Nur zart wahrnehmbar, blieb er doch fast immer ein wenig über ihr stehen. Und es war andererseits die zuverlässige Exaktheit, mit der er ein einmal Zugesagtes oder Übernommenes durchführte.

Doch bald bekam ich Gelegenheit, wahrzunehmen, daß es Situationen gab, in denen Emil Leinhas mit einem sonst in der Tiefe latent bleibenden Feuer ganz und gar in einer Sache aufgehen und dann andere mit sich reißen konnte. Das Leben führte uns außerhalb des Rahmens der Waldorf-Astoria in der Pionierarbeit für die soziale Dreigliederung zusammen. Hier durfte ich, namentlich im Sommer des Jahres 1919 – und noch etwas darüber hinaus – kameradschaftlich an seiner Seite wirken.

Wir traten damals des öfteren zu zweit an Vortragsabenden auf, die unter dem Sammeltitel "Brennende Fragen“ angekündigt wurden und an die sich intensive ja auch leidenschaftliche Diskussionen anschlossen. Leinhas sprach über „Brennende Fragen des Wirtschaftslebens“; für das im Geistesleben auflodernde Feuer hatte ich als Zeuge aufzutreten. Und ich darf sagen: man konnte damals auch wirklich noch von einem Feuer reden. Die von der Weltkriegskatastrophe ausgelösten Erschütterungen bebten noch spürbar weiter. Noch hatte die alles lähmende, überkluge, in der Tiefe aber hoffnungslose Skepsis ihr Feld nicht zurückerobert.

Man spürte, daß junge Wahrheiten nahe herankamen, und daß sie sich finden lassen konnten, ja wollten. Und immer bewirkt die Nähe der Wahrheit, daß Bewegung in die geistige Luft kommt, daß Flammen entfacht werden können. Es war bei äußerer Dürftigkeit eine erfrischende, innerlich reiche Zeit. Rudolf Steiner sagte später, im Rückblick auf sie, daß damals, „als noch der frische Wind der Dreigliederung“ durch die Straßen von Stuttgart fegte, sich noch nicht »soviel Staub" in ihnen habe setzen können.

[Mitteilungen, Nr. 80, Johanni 1967, Seite 144]

Emil Leinhas war mir altersmäßig um die Dauer einer Schülergeneration, das heißt um etwa zwölf Jahre, voraus, wie er denn überhaupt viel voller und umfassender mit der Praxis des Lebens und mit der ganzen Problematik Mitteleuropas verbunden war. Doch an Rudolf Steiner waren wir, wenn auch auf getrennten Wegen, ungefähr gleichzeitig herangeführt worden. Diese Tatsache und das vom gleichen Willen befeuerte Streben bewirkte nun, daß wir trotz aller Verschiedenheiten zu einem guten geist-kameradschaftlichen Zusammenwirken kamen, das uns für immer verband.

An den hier erwähnten Vortragsabenden wirkte Emil Leinhas besonders dadurch so überzeugend, daß er die neuen Ideen nicht nur verkündete. Er wußte sie aus einer eigenen, schon sehr reichen Anschauung zu begründen. Immer betonte Rudolf Steiner, daß es sich bei den Dreigliederungs-Impulsen nicht um etwas dem Leben Aufzuprägendes handle, sondern um etwas im Leben schon darin Steckendes, hier und jetzt zur Geburt Drängendes. Ich glaube, daß dieses besonders deutlich wurde, wenn Leinhas über das sprach, was im Wirtschaftsleben brannte. Er konnte den Finger legen auf das Wo und auf das Wie.

Das gab seinen Ausführungen eine außerordentliche Klarheit, an der, wie ich meine, auch die guten Genien der Zeit, die sich damals hinter unsere Arbeit stellen wollten, ihre Freude haben konnten. Wenn sie sich dann, vielleicht stärker, als er je vermutet hätte, hinter seine Worte stellten, dann bekamen diese einen Nachdruck und einen machtvollen, wenn auch immer freilassenden Willensakzent. Hier trat das Kämpferische, das immer im Geiste von Leinhas lebte, in einer unvergeßlich schönen, reinen und positiven Form auf.

Unser Duett wurde, wie angedeutet, mehrmals abgesungen und klang in abgewandelter Form selbst in die letzte offizielle Dreigliederungs-Veranstaltung mit hinein, die in Anwesenheit Rudolf Steiners in Schwenningen stattfand.

Emil Leinhas stand auch sonst in unermüdlicher und schöpferischer Aktivität in der Dreigliederungsarbeit darin. Aber zumeist wirkten wir doch in getrennten Sphären. Während er überall dort unentbehrlich war, wo Beratungen im Kreise jener Industriellen gepflegt wurden, die für einen wahren sozialen Fortschritt interessiert waren, oder wo über die Marschroute im Großen diskutiert wurde, bewegte ich mich mehr in Arbeiterkreisen oder war schon konkret für die Vorbereitung der Waldorfschulgründung mit tätig.

Hie und da hielt Leinhas auch Einzelvorträge. So erinnere ich mich, wie er einmal im Saal des Bürgermuseums in Stuttgart einen Vortrag über das drohende soziale Chaos zu halten hatte. Auch zu diesem Vortrag strömten noch ganze Scharen, und als ich mitten in einer Volksgruppe langsam die Stufen zum Saal hinaufging, hörte ich einen wackeren Schwaben, der den Weg nicht gleich fand, rufen: „Na, wo spricht den hier der Loimhos über das Koas?“

Nur zu bald schwanden die farbigen Bilder dahin, die uns in der feurig kämpferischen, oft entsagungsreich harten Zeit der aktiven Dreigliederungsarbeit geschenkt worden waren. Die Dreigliederung, von nur zu wenigen und nur zu Schwachen aufgenommen, und von dem gewaltsamen herandrängenden Gegengeist der Zeit unter die Füße getreten, mußte in die Latenz gehen. Von spärlichen Ausnahmen anderer Art abgesehen, konnte sie sich wirklich kraftvoll nur in der trotz allem aufblühenden Waldorfschulbewegung entfalten.

Aber es gab Menschen, die, nachdem sie einmal von dem Anhauch der großen Dreigliederungsimpulse getroffen waren, ihr auf immer verschworen blieben. Und zu den Getreuesten unter ihnen gehörte Emil Leinhas.

Rudolf Steiner selber kam, nachdem die Dreigliederungs-Aktivitäten in der Öffentlichkeit nahezu verebbt waren, in Gesprächen, die er mit tätigen Mitgliedern führte, doch immer wieder auf den für die kommende Geschichte entscheidenden Dreigliederungs-Impuls zurück. Dies geschah besonders oft im Stuttgarter Dreißiger-Kreise, in den er die Vertreter der verschiedenen Arbeitssektoren berufen hatte.

Nun pflegte Rudolf Steiner, wenn er über bestimmte Arbeiten oder Aufgaben sprach, gern diejenigen anzuschauen, die er in der einen oder anderen Art nahe mit ihnen verbunden wußte.

So richtete sich sein Blick, wenn von der Dreigliederung die Rede war, sehr oft auch auf Emil Leinhas. Ja, mehr als das. In einem dieser Gespräche im Dreißiger-Kreis sagte Rudolf Steiner, daß die Art, wie Emil Leinhas sich zu einem selbständigen und schöpferischen Vertreter des jungen sozialen Zeitimpulses im heutigen Wirtschaftsleben gemacht habe, überaus hoch geschätzt werden müsse. Er sprach, wenn ich mich nicht irre, diese Anerkennung gleichzeitig mit dem Lob aus, das

[Mitteilungen, Nr. 80, Johanni 1967, Seite 145]

er Caroline von Heydebrand für ihr mutiges und geistvolles Auftreten im Kampf gegen die Auswüchse der Experimental-Psychologie und Experimentalpädagogik spendete.

Emil Leinhas fuhr auch nach dem Tode von Rudolf Steiner fort, intensiv mit der Dreigliederung weiter zu leben. Er mochte immer jenes Hinweises von Rudolf Steiner eingedenk sein, daß wir so leben sollten, als könnten die neuen sozialen Formen schon morgen realisiert werden; daß wir uns zugleich aber wappnen müßten, noch in die Jahrhunderte hinein zu warten.

Daß er im steten Anblick solcher Wahrheiten lebte, bewahrte Emil Leinhas davor, vielen Illusionen zu verfallen, in die sich die Menschen in den Jahren nach 1925 verstrickten, und es gab seinem Urteil jederzeit den Charakter einer besonderen Gediegenheit. Letztere gefiel nicht jedem, da sie zudem mit einer unerschrockenen Aufrichtigkeit verbunden war.

In einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens konnte ich mir deutlich machen: ein Mensch, der jahrzehntelang in der Schülerschaft Rudolf Steiners lebt, kann empfinden, wie alles Wahre, alles Gute, das er überhaupt denken kann, tief mit den Quellen der Anthroposophie verbunden ist. Beglückend spürt er zugleich, daß dieses Bewußtsein ihn in keiner Weise binden kann. Im Gegenteil: es macht ihn erst im schönsten Sinne frei.

An Emil Leinhas erlebte ich, von Jahr zu Jahr noch wachsend, daß, was ganz allgemein von der Anthroposophie gesagt werden kann, bei ihm vollauf auf die Dreigliederung bezogen werden darf. Sie war in ihm Substanz geworden. Er war ihr verschworen. Aber durch die Art, wie er ihr verschworen war, wurde er zugleich auch zu ihrem freien und souveränen Vertreter.

Es berührt mich tief, daß ich in dem letzten Gespräch, das ich mit ihm führen durfte, eine wundersame Metamorphose wahrnehmen konnte. Da sprach er davon, wie es ihm deutlich und deutlicher geworden sei, daß es im Zusammenleben der anthroposophisch strebenden Menschen vor allem auf eines ankomme: die Brüderlichkeit. Das war so wenig sentimental oder phrasenhaft, sondern so lebensreif ernst und innig ausgesprochen, daß es sich mir für immer eingeschrieben hat.

Seltsam – so mußte ich denken – die Brüderlichkeit, die Emil Leinhas in den Kämpferjahren, die wir miteinander durchlebt haben, als Leitstern des Wirtschaftslebens begeisterte – ist nun in der Lebensreife auch zum moralischen Impuls geworden.

Und ich glaubte, daran erkennen zu dürfen, daß sich auch in dieser Wandlung bezeugt, wie die Kräfte des Trägers aller großen Menschheitswandlungen hinter dem stehen, den begleiten und den geleiten, dessen Herz der Dreigliederung gehört.

[Mitteilungen, Nr. 80, Johanni 1967, Seite 146]