Rückblick auf 50 Arbeitstagungen des Heidenheimer Arbeitskreises

01.06.1966

Quelle
Zeitschrift „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“
20. Jahrgang, Johanni 1966, Nr. 76, S. 136–142
Bibliographische Notiz

Der Heidenheimer Arbeitskreis, in dem leitende Persönlichkeiten in wirtschaftlichen Unternehmungen ihre Berufsprobleme besprechen, wurde im Sommer 1947 begründet. Die Mitarbeiter sind Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft. Hier seien einige bekannte Namen aus dem Kreise genannt: Frau Clara und Dr. Rudolf Kreutzer, Dr. Emil Kühn, Emil Leinhas, Alfred Rexroth, Dr. Peter von Siemens, Walter Rau und Dr. Hanns Voith.

Die Arbeitstagungen, welche zwei- bis dreimal jährlich stattfinden, gehen jeweils von Freitag bis Sonntag Mittag. Sie beginnen stets mit einer Besprechung der Weltlage und leiten dann über zu einem jedesmal gesetzten „Hauptthema“. Der Sonntag Morgen ist seit Jahren der Arbeit an dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gewidmet (und zwar ausdrücklich im Hinblick auf das praktische Leben).

Da in diesen «Mitteilungen» nur sehr spärlich über den Kreis berichtet worden ist, nehmen wir das Ereignis der 50. Arbeitstagung (im November 1965) zum Anlaß, den Lesern Kenntnis von einer summarischen Übersicht zu geben, welche in der 50. Tagung vorgebracht worden ist. – Inzwischen fand (nach Ostern 1966) die 51. Arbeitstagung statt mit dem Thema: «Die Unternehmeraufgabe in West (bes. USA) und Ost (bes. DDR, Sowjet-Union und Tschechoslowakei).»

Es ist ein bewegender Augenblick, in dem wir hier zusammenkommen! Sieben mal sieben Zusammenkünfte liegen hinter uns, und jeder von uns fühlt an der Schwelle zu dieser 50. Tagung. „Diese sieben mal sieben Begegnungen in diesem Kreise sind etwas, was zum wesentlichen in meinem Leben gehört.“ – Ja, manchmal kann sich dieses Gefühl verstärken, und man fragt sich im stillen: „Was wäre mein Leben ohne diese Arbeit, was wäre es ohne dieses immer stärker gewordene Sichverbinden mit diesen Freunden?“ – Auch kann gefragt werden: „Was wäre mein Betrieb als Wesen, wenn ich diesen Austausch mit anderen nicht gehabt hätte?“

Ein besonderes ist hier erwähnenswert. Sie erinnern sich, daß wir einmal eine ganze Tagung dem Wesen des Rhythmus gewidmet haben, seiner Bedeutung in unserer Zeit, die – gerade auch in den Betrieben – Rhythmus fortdauernd kränkt, eigentlich sogar mit dem Ziel der Vernichtung. Da wurde uns dann ein ganz wichtiges Motiv: wir müssen neue Rhythmen schaffen, wenn nicht das geistige, seelische und leibliche Leben zugrunde gehen soll. Nun, meine lieben Freunde, wir haben mit diesem Heidenheimer Kreis einen Rhythmus uns geschaffen, einen von mal zu mal – nicht immer war es zwar gleich – aber letztlich doch einen von mal zu mal erfüllteren Rhythmus. Er hat uns Leben verliehen, Lebenskraft ...

Nun bitte ich Sie, sich einmal an unsere erste Begegnung im Jahre 1947 zu erinnern. Es war am 20. und 21. Juni, und es war schon ein ganz stattlicher Kreis von etwa 18 Menschen beisammen. Aber alles war noch ungeformt. Dennoch, es begann schon bei diesem ersten Mal ein Licht zu leuchten. Eine Flamme entzündete sich, die beharrlich fortgebrannt hat durch alle 49 Tagungen hindurch. Es wurde nämlich erzählt, was sich in der Weleda in Gmünd begeben hatte in der Auseinandersetzung von einem Studienkreis an den «Kernpunkten ...» mit der Betriebsleitung. Damals begannen ja schon die Gewerkschaften ihre Tätigkeit vorzubereiten, und dabei stellten sie

[Mitteilungen, Nr. 76, Johanni 1966, Seite 136]

umfangreiche Listen auf, worin sie überall mitbestimmen wollten. Mit solchen Listen wurde auch mir gegenüber operiert. Mir wurde Angst und bange, und ich bekam schlaflose Nächte, bis ich die ganze Mitbestimmungsliste kritisch analysiert hatte auf die Fragen: Wo ist Mitbestimmung überhaupt berechtigt? Und wie ist sie zu verwirklichen?

Es stand schließlich mit aller Deutlichkeit oder sagen wir mit beginnender Deutlichkeit vor den in Gmünd am Gespräch Beteiligten: Mitbestimmung ist überall berechtigt, wo es sich um Rechtsverhältnisse handelt. Wir bildeten, noch bevor es Betriebsräte gab, in der Weleda einen «Mitarbeiterrat» durch Wahl und nahmen das demokratische Prinzip auf dem Rechtsgebiete (Betriebsvereinbarungen aller Art) konsequent ernst.

Was in Rechtsfragen geschah, geschah fortan gemeinsam.

Nun, ich will das nicht weiter ausführen. Aber was schon in den ersten Tagungen unter uns geboren wurde, das war die Erkenntnis:

Der Betrieb ist im Grunde als dreigliedriges Wesen veranlagt. Und er hat als solches die Tendenz, ein Organismus zu werden.

Doch an dieser Stelle möchte ich sagen: der „dreigliedrige Betriebsorganismus“ ist zwar eine Idee. Aber er ist eine Idee, die aus der Wirklichkeit, nämlich aus der Problematik eines von gewerkschaftlicher Mitbestimmung bedrohten Betriebes entstanden ist. Man kann nicht Dreigliederung sozusagen von oben herunter in einen Betrieb „einführen“. Die Idee muß jeweils von unten her und in Gemeinsamkeit neu gefunden werden. Wichtiger als sie ist das dreigliedrige Leben, welches von unten her, aus der Praxis heraus entfaltet wird, nicht das Aufprägen eines Schemas, was sogar Schaden stiften kann. Dabei muß sich der Leiter selber hineinbegeben in dieses Leben, um nicht zu sagen sich hineinopfern.

Aus der ersten Tagung in Heidenheim wurde sofort eine zweite geboren, aus der zweiten eine dritte, und so fort. Wir hatten den Schlüssel zu einem Quellgebiet gefunden, und es zeigte sich, daß dieser immer neue Quellkammern zu öffnen vermochte. Frage nach Frage entstand:

  • Was bedeutet denn eigentlich Rechtsleben im Betrieb? Was umfaßt es im einzelnen?
  • Worin äußert sich das Geistesleben der Menschen im Betrieb?
  • Können sie es überhaupt äußern? Und was können wir tun, das Sichäußern in Gang zu bringen?

Wir waren beinahe überwältigt, als wir immer mehr herausarbeiteten, welchen Umfang das geistige Leben im Betrieb eigentlich hat und sogar noch viel mehr haben müßte, wenn unsere Arbeitsstätten wirklich auch Stätten des Menschen und der Menschlichkeit werden sollten. Erst verhältnismäßig spät kamen wir auf die dritte Frage, die doch eigentlich eine Hauptfrage für ein Wirtschaftsunternehmen sein sollte:

Was ist denn das wirtschaftliche Element im Betrieb? (wenn schon Rechts- und Geistesleben so große Sphären bilden).

Wir waren erstaunt, daß das Wirtschaftliche (wenn man ernst nimmt, daß es mit nichts als Produktion – Zirkulation – Konsumtion zu tun hat) im Betrieb, insofern es freie menschliche Gestaltung ist, einen verhältnismäßig geringen Raum einnimmt. Im wirtschaftlichen Gliede lebt der betriebliche Organismus ganz von außen und nach außen: vom hereinkommenden Rohstoff und vom Auftrag bis hin zur Ablieferung des fertigen Produktes an den Verbraucher oder Gebraucher.

So wandten wir uns in der Folge mit aller Kraft demjenigen zu, wo wir selber gestaltungsmächtig, gewissermaßen autonom sind. Aus der Beschäftigung mit dem

Rechtsleben im Betrieb

gingen ganze Tagungen hervor. Wir arbeiteten u. a. an folgenden Themen :

  • Wie kann eine Betriebsverfassung in unserem Sinne aussehen?
  • Welches sind die Funktionen eines Betriebsrates im besonderen?
  • Wie kann vom Rechtlichen her der Lohn (das Arbeiten für sich selbst) überwunden werden?
  • Eigentumsrecht und Eigentumsunrecht. Neue Eigentumsformen.

Aber auch in andere Fragen gingen wir hinein. Wir arbeiteten heraus, daß in allen Menschenbeziehungen im Betrieb ein subtiles Rechtselement wirke. Z. B. geschieht das im Gespräch, welches nur menschlich ist, wenn nicht einer über den anderen „herrschen“, ihn überwältigen will. Und

[Mitteilungen, Nr. 76, Johanni 1966, Seite 137]

einige Aufmerksamkeit widmeten wir auch der Überwindung des „Befehls“; denn jeder Mensch hat ein Recht darauf, von dem „Sinn“ der zu leistenden Arbeit unterrichtet zu werden, so daß er aus dem Erfassen des Sinns sich dann sozusagen den Befehl selber geben kann.

Wohl den allerbreitesten Raum nahm im Laufe der Zeit alles das in unseren Gesprächen ein, was mit der Sphäre des

Geisteslebens im Betrieb

zusammenhängt. Es waren bewegende Stunden, in denen wir uns klar machen konnten, daß alle Arbeitskraft, lebe sie sich nun abstrakt denkerisch oder physisch aus, geistiger Natur ist. Rudolf Steiners Ausspruch, die Arbeitskraft sei des Menschen „himmlischer Anteil“ wurde eine Art geflügeltes Wort unter uns. Und wir begriffen, wie sehr es einer gesunden, starken Rechtssphäre im Betrieb bedarf, damit dieser „himmlische Anteil“, das Geistige, die Individualität mit allen ihren Begabungen nicht vom Wirtschaftsgeschehen aufgesaugt werde:

„Arbeitskraft darf nicht Ware sein!“

Das führte wieder in das Rechtsgebiet hinein, in die Fragen der Überwindung des Lohnprinzips und einer gerechten Aufteilung eines von Unternehmensleitung und Mitarbeiterschaft gemeinsam erwirtschafteten Ertrags. Dabei spielten die beiden Gerechtigkeiten des Aristoteles – die ausgleichende und die verteilende Gerechtigkeit – eine wesentliche Rolle. (Sie bilden ein grundlegendes Prinzip in den «Kernpunkten der sozialen Frage ...»)

Wohl das Zentralste, was bearbeitet werden konnte, wenn man die im Betrieb Arbeitenden zu wirklichen „Mitarbeitern“ machen wollte, war, daß man nach den Mitteln fragte, nach dem „Wie", welches es möglich macht, daß die Menschen aus Einsicht in den Sinn ihrer Berufsaufgaben tätig werden. Und da war alles von großer Bedeutung, was mit dem «Sozialen Hauptgesetz» zusammenhängt. Das Gesetz verlangt Überwindung des Egoismus. Aber es verlangt nicht bloße „moralische“ Anstrengung, damit das vom Gesetz Verlangte näherungsweise erreicht werde, sondern es spricht von zweierlei Ansatzpunkten:

  1. von einer tragenden „Weltanschauung“ (was nichts anderes bedeutet als Einblick in den Sinn alles sozialen, insbesondere auch wirtschaftlichen Tuns)
  2. aber von „Einrichtungen“, welche den Menschen verhindern, daß er etwas vom erwirtschafteten Ertrag egoistisch „für sich“ in Anspruch nehme.

Wir fanden, daß die „Einrichtungen“ sich vor allem bezogen auf dreierlei:

  1. Die Überwindung des Lohnprinzips (also des egoistischen Arbeitens für sich selbst);
  2. auf die Überwindung des Zustandes, daß Geld an sich Wert habe, thesauriert werden könne um dann beliebig als „Macht über die Arbeitskraft anderer Menschen zu verfügen“, eingesetzt zu werden (Geld muß sich „abnutzen“ wie Warenwerte auch)
  3. beziehen sich die „Einrichtungen“ auf ein neues Verhältnis zum Eigentum an den Produktionsmitteln. Und
  4. auf die Herausgestaltung realer Beziehungen von Produktion und Konsumtion durch „Assoziationen“.

Aber hier ist primär von der Notwendigkeit zu sprechen, daß der arbeitende Mensch einer sinngebenden, ihn als Mensch tragenden Weltanschauung bedarf. Damit hat Rudolf Steiner ja nicht gemeint, daß man ihm eine wohlsortierte, paragraphierte und festgefügte Meinung überliefere, die er brav herbeten, zu der er sich „bekennen“ könne, sondern eine Weckung und Förderung alles dessen im Menschen, was ihm helfen kann, selber die Augen zum Anschauen der Welt offen zu machen und seine eigene Denkkraft zu stärken, damit er aus eigenem heraus auch selber urteilen könne. Dieses Augenöffnen soll im engeren Umkreis beginnen, also in der Arbeitsstätte. Darum haben wir oft und oft im Anschluß an den Satz aus den «Kernpunkten ...» gesprochen:

„Im gesunden, sozialen Organismus soll der proletarische Arbeiter nicht an seiner Maschine stehen und nur von deren Getriebe berührt werden, während der Kapitalist allein weiß, welches das Schicksal der erzeugten Waren im Kreislauf des Wirtschaftslebens ist. . . Besprechungen, die zum Arbeitsbetrieb gerechnet werden müssen wie die Arbeit selbst, sollen regemäßig von dem Unternehmer veranstaltet werden mit dem Zweck der Entwicklung eines gemeinsamen Vorstellungskreises, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber umschließt.“

[Mitteilungen, Nr. 76, Johanni 1966, Seite 138]

Aber dieses Beteiligen der Mitarbeiter an der Bewußtseinsbildung geht bei Rudolf Steiner viel weiter noch. Er denkt an eine viel größere Offenlegung dessen, was in der Geschäftsführung geschieht. Eine Folge ist:

„Der Unternehmer wird bei solcher Art auf freies Verstehen zielender Öffentlichkeit seiner Geschäftsführung zu einem einwandfreien Gebaren veranlaßt.“

Wenn nur dieser eine Punkt im Deutschland der Nachkriegszeit aufgegriffen wäre, mit Phantasie und Tatkraft, dann hätte von da aus eine neue Ordnung heraufgeführt werden können. Statt dessen hat sich alles im Kuhhandel der sogenannten Sozialpartner in eine ausweglose Zerferei um den Anteil am Kuchen hineingesteigert, die eine wirkliche Sackgasse ist, und eine gefährlich dynamische dazu. Die Tarifautonomie ist zum Ausdruck eines institutionalisierten antisozialen Ungesetzes geworden!

Wesentlich ist: es gibt überhaupt keine soziale Ordnung für den Menschen ohne Bewußtseinsbetätigung, ohne Einsicht in das größere Ganze. So haben wir immer auch wieder meditiert über den Satz aus «Geisteswissenschaft und soziale Frage»:

„Die Gesamtheit (wir verstehen: die Gesamtheit wird zunächst der Betrieb sein, dann das Volk, dann die Menschheit) – die Gesamtheit muß eine geistige Mission haben; und jeder einzelne muß beitragen wollen, daß diese Mission erfüllt werde.“

Er muß wollen, dieser Einzelne, aber wenn er Mensch ist, kann er nur wollen, wenn er auch einsieht! Das ist überall das Problem. Darum heißt es in «Geisteswissenschaft und soziale Frage» weiter:

„Bis in den einzelnsten herunter muß dieser Geist der Gesamtheit lebendig sein.“

Alles andere geht letzten Endes in die Zerstörung, in den Kampf der Egoismen, den Kampf aller gegen alle über. Egoismusüberwindung, Pflege altruistischer d. h. sozialer Seelenkräfte durch Interessen-Erweiterung: das war der Tenor unserer Besprechungen in den Fragen des geistigen Lebens der Iche im Betrieb. So gab es eine ganze Tagung mit dem Thema

«Neue Antriebe zur Arbeit»

Das „Gespräch mit dem Arbeiter“, wie wir es nannten, geht vom Einzelgespräch über Besprechungen in Abteilungen bis zu den Betriebsversammlungen. Aber da ist ja auch das große Gebiet des gedruckten Wortes, der Werkzeitschriften, das wir aber, so wichtig es ist, zu wenig bearbeitet haben.

Ganz besonders lag uns am Herzen, uns über die Lage des jungen Menschen im Betrieb klar zu werden. Wir hören wohl alle noch Dr. Hanns Voiths Wort: „Die soziale Problematik kommt aus dem unterschiedlichen Bildungsniveau“.

Dr. Emil Kühn hatte, durchaus im Blick auf unseren Heidenheimer Arbeitskreis, in aller Stille seine Lehrlingsbildung mit Hellmut Blume aufgebaut. Plötzlich – schon im Beginn unserer Arbeit – war sie da. Wie es ja überhaupt oft geschah, daß jemand aus dem Kreise schwieg, manchmal jahrelang schwieg und dann auf einmal von etwas erzählte, was bereits geschehen war und lebte. Nun, die Wendlinger Lehrlingsarbeit bestand auch längst, als wir die Tagung

„Der junge Mensch im Betrieb"

veranstalteten. Wir hatten Lehrer hinzugezogen, und es war vielleicht auch für diese ein Erlebnis, wie in den Gesprächen die sozialen Grundimpulse ans Licht traten, die von vornherein in Rudolf Steiner lebten, als er die Waldorfschule ins Leben rief. Die gesamte Waldorfpädagogik ist eben, wo sie recht verstanden wird, soziale Pädagogik. Sie ist auch nicht umsonst aus einem Industriebetrieb heraus entstanden. Und Emil Molt säße gewiß in unserem Kreise, wenn er noch auf der Erde wäre. Rudolf Steiners Motiv:

Das Spiel des Kindes durch das Volksschulalter hindurch in Arbeit verwandeln, die schließlich Arbeit für den anderen Menschen wird –

das stand uns vor der Seele. Reinhold Boerner berief Dr. Klaus Fintelmann in die «Hibernia», und wir wissen, was aus diesem treu und beharrlich gehüteten Keim inzwischen geworden ist. Carl Theodor Wuppermann hat eine Bildungsarbeit für den jungen Menschen eingerichtet, und ich denke, daß noch in anderen Betrieben Ähnliches geschieht. Und heute steht diese Bildungsarbeit mit jungen Menschen in der Firma Voith durch die Bemühungen von Fräulein Martina

[Mitteilungen, Nr. 76, Johanni 1966, Seite 139]

Voith, welche die Impulse ihres Vaters aufgreift, auf eigene Weise im Leben. Das alles sind geistige Taten in den Betrieben, welche – wenn wir das richtig anfassen – eine starke Ausstrahlung auch in das Arbeitsleben selber haben können. Der Heidenheimer Kreis ist der Mutterboden dafür gewesen.

Natürlich spielt die Kunst, ja das künstlerische Tun in dieser Lehrlingsbildung eine wichtige Rolle. Aber wir haben sie in einer grundlegenden Tagung

«Die Welt der Arbeit und die Welt der Kunst»

auch zum Ganzen des Betriebslebens in Beziehung gesetzt. Es waren Künstler dabei; Malerei und Architektur waren vertreten. Es waren Sätze von Rudolf Steiner, die uns das Gewissen geschärft hatten, sie lauteten etwa so:

Man kann durch Denken und Reden (z. B. in einem Klassenzimmer) tun, was man will, einschlagen werden die sozialen Dinge erst, wenn man die Umgebung ändert, d. h. künstlerisch gestaltet.

Und der andere:

Wenn man die Menschen dauernd in einer Umgebung der Häßlichkeit arbeiten und leben läßt (wie sie etwa eine englische Industriestadt bietet), dann werden sie nicht die Kraft finden, in einem nächsten Leben einen rechten, gesunden Leib aufzubauen.

Unser hinübergegangener Freund Franz Schily hat aus solchen Hinweisen Konsequenzen gezogen. Als ich einmal das Riesenwerk des Bochumer Vereins besichtigte, wurde ich auch in die Gesenkschmiede geführt, wo Eisenbahnräder fabriziert wurden. Alles – vom glühenden Eisen abgesehen – war grau in grau. Man wurde belastet und bedrückt von dem undefinierbaren einheitlichen, düsteren Raum. Dann ging es in die großen Hallen der Weichenmontage hinüber. Dort hatte Schily die Eisenträger meergrün, die Laufkräne rot streichen lassen. Ein unerhörter Eindruck, dieser durch die Farbe gegliederte und dadurch dem Menschen faßbar-greifbar gewordene Riesenraum. So daß ich in heller Begeisterung rief: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ – Wieviel seelische Auflockerung, wieviel Befreiung können wir erzielen in den Arbeitern, wenn wir sie als Menschen würdigen, ihnen Fabriken hinstellen, die schon in ihren Außenformen den Menschen ansprechen, statt ihn anzuöden und seelisch zu entleeren. Was bedeutete schon ein künstlerisch gestaltetes Portal (wenn man schon glaubt, nicht im Großen künstlerisch bauen zu können), durch das die Menschen täglich gehen müssen! Und was bedeuten die Innenräume, in denen man durch Farben und Formen zeigt: wir rechnen mit euch als ganzen Menschen, nicht mit zum Werkzeug hingerichteten und als bloße Werkzeuge benützten Spezialisten! – Auch Gesundheit würde geschaffen, wenn man Künstlern Aufgaben in der Arbeitswelt verschaffte.

Einmal sind wir dann ganz nahe an die Gesundheitsfragen herangerüdkt, als wir zum Tagungsthema hatten:

«Die Welt der Arbeit und die Welt des Rhythmus»

Dabei hatten wir unseren lieben, immer bewährten Freund Dr. Walther Bühler zu Gast, der uns anhand von Beispielen aus dem Leben – die Arbeit des Chauffeurs und der Stenotypistin ließ er vor uns erstehen – klar machte: die heutige technisierte und sich immer weiter technisierende Welt vernichtet den Rhythmus. Sie vernichtet ihn durch Lähmung (Ausschaltung des Rhythmus) oder sie zerhackt ihn: Maschinentakt kränkt und zerstört das Rhythmische. So großartig die Erkenntnisse und Erlebnisse dieser Rhythmus-Tagung auch waren, hier ist eine liegengebliebene Aufgabe. Ich kann gar nicht anfangen, auf das große Feld einzugehen, was da zu beackern bleibt: Nachtarbeit, Akkordarbeit, das Wesen der Pausen – alle diese Gebiete gehören hier als Rhythmus-Phänomene herein.

Nur eines sei erwähnt, was wir aber auch nur – um es so zu sagen – angerührt haben: die Bedeutung der Eurythmie im Arbeitsleben. Aber keiner von uns, der es gesehen hat, wird vergessen können, was uns Fräulein Ursula Hartmann an Werkeurythmie vorgeführt hat: einmal mit den Lehrlingen aus der Behr’schen Möbelfabrik und dann später in Lohr mit Mitarbeitern aus der Seifenfabrik Rau. Da schien ein Stück Zukunft in die heutige Arbeitswelt herein. Und wir können es gar nicht hoch genug schätzen, daß Firmen wie Walter Rau und die Weleda diese

[Mitteilungen, Nr. 76, Johanni 1966, Seite 140]

Werk-Eurythmie durch viele Jahre nun durchgehalten haben. Auch im Betrieb von Robert Schulmeister gibt es eine intensive Bemühung um die Eurythmie.

Nun muß ich aber noch eine Tagung erwähnen, die wir verhältnismäßig früh schon veranstaltet haben. Diese hatte zum inneren Thema nicht den Menschen, sondern das, womit wir ohne Würdigung ihres eigentlichen Wesens dauernd, und zwar oft unverantwortlich, wirtschaften: die Materie, die Substanz. Das Thema lautete:

«Das Schicksal der Substanz»

Es war eine der bewegendsten Tagungen, die wir je miteinander verbracht haben. Mitarbeiter der Weleda sprachen aus ihren Forschungen über den Zusammenhang von Kosmos und irdischer Materie, und bald kamen aus unserem eignen Kreis die interessantesten Erfahrungen zur Sprache. Paul Praussnitz berichtete von der merkwürdigen Erscheinung, daß Glasschmelzen plötzlich einmal aus völlig unerklärten Gründen mißlingen. Konstellationen? Das war die Frage. Wilhelm Schaaf erzählte, er kenne eine Firma, welche Metall unter Berücksichtigung von Mondphasen gieße, und unser Freund Hans Kleemann fügte sein Erlebnis beim Gießen von Lagermetall (Eisen, Zinn und Kupfer) hinzu. Eines Tages rief ihn die Materialprüfung der Maschinenfabrik Esslingen an: „Herr Kleemann, was hent Se denn gmacht, da ischt ja des ganze Kupfer ausg’falle!“ Nun, Kleemann ging zu Frau Kolisko, und sie schauten im Nautischen Kalender nach: Venus-Bedeckung! – Allerlei Zukunftsaspekte für die Wirtschaft wurden daraufhin unter uns erörtert, auf die ich jetzt nicht eingehen möchte.

Aber was passierte noch? Ich selber sagte damals: Die echten Alchemisten hatten zwei Räume. Der eine war das Laboratorium. Aber das war in seinem wahren Wesen nicht zu verstehen und hatte nicht leben können ohne den zweiten Raum: das Oratorium. Beides gehörte unauflöslich zusammen. Und nun meine damals gestellte Frage: können wir auf die Dauer das Eisen, das Holz usw. nur in roher Weise als Rohstoff gebrauchen und verbrauchen, ohne daß wir für sein Wesen, für seine Geistigkeit etwas tun? Unsere Fabriken sind Laboratorien. Müßten wir nicht kleine Oratorien in sie einfügen, in denen etwas für das Wesen dieser Stoffe getan wird, indem man es erforscht? Dank an die Materie und an den, der sie geschaffen hat! Zugleich Vorbereitung einer geistgemäßen Wirtschaft der Zukunft!

Nun, wir können heute auf ein Unternehmen in unserem Kreise hinschauen, welches in hohem Maße mit dem Wasser zu tun hat, dessen Leiter damals bewegten Herzens über das Schicksal des Wassers gesprochen hatte: Dr. Hanns Voith hat tatsächlich dem Laboratorium der Turbinenfabrikation das Oratorium von Herrischried hinzugefügt. [1] Das steht und arbeitet, und wenn Sie das recht verstehen wollen, liebe Freunde: man betet darinnen, indem man arbeitet.

Natürlich haben wir, angeregt durch die Berufskarma-Vorträge, in dieser Tagung auch über das Schicksal der Produkte selbst gesprochen, das im Zusammenhang mit Gebrauch und Verbrauch durch die Konsumenten entsteht.

Wir sehen, die Fruchtbarkeit des Heidenheimer Arbeitskreises – eine indirekte, wenn Sie so wollen, da es ja keine direkten Aktivitäten gibt –, die Fruchtbarkeit unseres Kreises ist nicht abzuschätzen. Und sie ist nach meinem Gefühl noch immer erst im Beginn.

Letztens muß aber noch eine Tagung angeführt werden. Diese hatte zum Thema:

«Reinkarnation und Karma und soziales Leben»

Damit haben wir uns jenem Motiv genähert, das schon im Zusammenhang mit dem «Sozialen Hauptgesetz» eine Rolle spielte. Wenn es menschliche Lösungen menschlicher sozialer Problematik geben soll, dann muß der „Sinn" des jeweiligen Tuns, die „Mission“ eingesehen werden. Diese Einsicht in den Sinn – als einzig menschenwürdigem Antrieb zum Arbeiten – gipfelt in der Einsicht in das Karma des einzelnen Menschen und in das Karma der Gemeinschaften, in die er verflochten ist. Karma-Enthüllung im Einzel- und im Gemeinschaftsschicksal, das ist, was Rudolf Steiner schon 1905 klar machte, der Schlüssel zum sozialen Frieden!

Wir haben das Thema damals berührt. Aber auch hier harren große Aufgaben für die Zukunft. Wie bedeutend sie sind, das zeigt ein Wort Rudolf Steiners, das uns unser lieber hinübergegangener Freund Eberhard Schickler, den wir damals als Gast unter uns hatten, vermittelte:

[Mitteilungen, Nr. 76, Johanni 1966, Seite 141]

„In dem undurchschauten Karma liegt der Stoff für die sozialen Revolutionen“.

Ich möchte dieses Wort durch ein weiteres ergänzen, welches uns anfeuern und ermutigen kann, in unseren inneren und äußeren Bemühungen um den arbeitenden Menschen niemals nachzulassen, das verpflichtende und zugleich einen inneren Grundton für all unser Arbeiten in den Betrieben angebende Wort, das uns zugleich von allen Reformbestrebungen und Patentmethoden auf sozialem Felde unterscheidet. Dieses Wort lautet:

„Die Menschheit überschreitet eine Schwelle, sie muß hinein in das übersinnliche Erkennen. Und gerade das ist für den geistig Erkennenden ein scharf sprechendes Mittel, die Richtung zu schauen, daß sich gerade die proletarische Welt in diesen oder jenen Führern, in diesen oder jenen Bonzen, recht sehr materialistisch benimmt und sich wehrt gegen das, was sie einst sein wird. Sie wehrt sich. Sie hat angenommen als letztes Erbstück die bürgerliche Denkungsweise, aber sie ist in der menschlichen Entwicklung dazu berufen, bewußt über die Schwelle zu schreiten, sich herauszuarbeiten aus materialistischem Irrwahn zur wirklichen Erkenntnis des Übersinnlichen“. [2]

Der Heidenheimer Kreis wäre wahrhaftig nichts oder nichts Besonderes, wenn er seine Arbeit nicht in der Tiefe dieser Worte auffaßte. Aber er hat seine Aufgabe ja gerade darin gesehen, auch in allen Fragen des betrieblichen Lebens in dieser tieferen Schicht zu suchen und aus ihr heraus zu wirken. Denn die gesamte soziale Problematik von heute ist primär ein Schwellenproblem, welches ja Reinkarnation und Karma einschließt.

Nur wenn wir in solchen Gesinnungen auf unsere Mitarbeiter schauen und aus diesen heraus zu handeln versuchen, werden unsere Bemühungen in den Betrieben fruchtbar sein. Rudolf Steiner hat einmal gesagt, daß die Durchdringung der Wirtschaft die Blüte der Anthroposophie sein werde. Und ein andermal, es war in der Münchener Zeit, als die Mysteriendramen aufgeführt wurden, äußerte er auf eine entsprechende Frage: lieber noch, als Mysteriendramen zu schreiben und aufzuführen, würde er eine Bank begründen!

Nun, wir können wissen, warum. Alle unsere Bemühungen aber in diesen 18 Jahren sind anfängliche. Wir wissen es. Das eigentlich Wirtschaftliche: die neue Rolle des Geldes, neue Formen des Eigentums, Assoziationen, durch welche auf wirklichen Bedarf qualitativ und quantitativ hingearbeitet werden kann – das eigentlich Wirtschaftliche liegt in der Zukunft. Es kann entscheidend nicht anders sich ändern als durch eine Änderung des gesamten sozialen Organismus. Aber unsere Arbeit, so viel dürfen wir sagen, war Bemühung um Vorbereitung dieser Zukunft!

Anmerkungen

[1] Theodor Schwenk, der Leiter des Instituts für Strömungsforschung in Herrischried war bei der damaligen Substanz-Tagung dabei!

[2] Siehe «Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen», Dritter Vortrag, erschienen Dornach 1964.

[Mitteilungen, Nr. 76, Johanni 1966, Seite 142]