Der Mensch - Bildner des sozialen Organismus. Umriß einer anthroposophisch orientierten Soziologie. Manuskriptdruck.

01.01.1958

Quelle
Herausgegeben von Lorenza Behrens
Selbstverlag, Hamburg, 1958
Bibliographische Notiz

Kostenloser Download:

Bernhard Behrens Der Mensch - Bildner des sozialen Organismus (PDF)

VORBEMERKUNG

Die hiermit vorgelegte Schrift von Bernhard Behrens wurde von ihm ungefähr zweieinhalb Jahre vor seinem Tode (Januar 1952) verfaßt und teils nur handschriftlich niedergelegt. Sie ist erwachsen aus der Arbeit mit der von Rudolf Steiner inaugurierten anthroposophisch-orientierten Geisteswissenschaft und der von ihm verkündeten Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus.

Der Verfasser konnte seine Arbeit nicht mehr durchsehen und druckfertig machen (sie blieb auch ohne Titel und Vorwort), weil andere Arbeiten und zuletzt seine Krankheit ihn daran hinderten. Einige – unwesentliche – Korrekturen sind deshalb von mir vorgenommen worden.

Herrn Dr. Karl Heyer fühle ich mich sehr zu Dank verpflichtet für Ratschläge, die er mir freundlicherweise zuteil werden ließ.

Hamburg, Deutschland,
am 15. September 1958 LORENZA BEHRENS

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 7]

ERSTES KAPITEL

DIE AUFGABE DER SOZIALWISSENSCHAFT

Auf dem sozialen Leben der Gegenwart lastet der Alpdruck der Friedlosigkeit. Nach Beendigung des zweiten Weltkrieges ist es den Regierungen der Völker nicht gelungen, den Weg zu einem wahren Frieden zu finden. Deshalb glauben sie, es vorziehen zu müssen, die Waffenruhe für die Vorbereitung auf eine neue Kriegskatastrophe zu benutzen. Wirtschaft, Politik und Geistesleben bewegen sich wie im Schlafwandel in der Richtung einer solchen Vorbereitung. Der Gedanke, das Problem eines weltweiten sozialen Zusammenlebens ohne Anwendung physischer Gewalt zu lösen, scheint aufgegeben zu sein. In ihrer seelenlähmenden Wirkung wird diese Resignation durch die Überzeugung verstärkt, daß die modernen Mittel der Technik, in einem neuen Kriege angewandt, die Lebensbedingungen des sozialen Organismus der Menschheit vollständig vernichten würden. Die Anwendung physischer Gewalt zur Herbeiführung einer neuen sozialen Ordnung, oder zur Aufrechterhaltung der alten, verliert ihren Sinn, weil unter den Bedingungen der neuesten Zeit dasjenige zerstört werden müßte, was gerettet werden soll.

Trotz alledem glaubt man einen Hoffnungsschimmer zu sehen, wenn man seinen Blick auf die Wissenschaft richtet. Diese wird als das letzte und größte Ergebnis der bisherigen Menschheitsentwicklung betrachtet. Weil ihre Leistungen die Wirksamkeit ihrer Methoden und die Macht des menschlichen Denkens bezeugen, glaubt man, daß die Wissenschaft schließlich doch den Weg finden werde, der zum Heile führt. Inwieweit diese Hoffnung berechtigt sein kann, wird sich im Verlaufe unserer Ausführungen zeigen. Jetzt soll nur geltend gemacht werden, daß der Mensch einen Grad seiner Bewußtseinsentwicklung erreicht hat, welcher von jedem einzelnen verlangt, die Haltung des Wahrheitsuchers einzunehmen. Diese Haltung muß sich auf eine Gesinnung gründen, welche jenseits von Furcht und Hoffnung ihren geistigen Quell hat. Die Furcht vor dem Unbekannten muß durch Erkenntnis-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 9]

mut überwunden werden. Die bloße Hoffnung muß der auf das Erkannte gegründeten Gewißheit weichen. Die objektive Haltung, welche der Physiker gegenüber den zu erforschenden Kräften und Stoffen der Natur einnimmt, muß heute jeder Einzelne gegenüber der Erscheinung des sozialen Gesamtlebens einnehmen, wenn er dessen Wesen erkennen will. Erkenntnis der sozialen Zusammenhänge – d. h. wahre Sozialwissenschaft– ist zur allgemeinen Menschheitsangelegenheit und Aufgabe jedes Einzelnen geworden, denn der soziale Organismus kann nur aus einer allgemein verbreiteten Erkenntnis seines Wesens heraus wirksam erneuert werden. Sozialwissenschaftliche Einsichten müssen Gegenstand der allgemeinen Erziehung und Bildung werden. Die Hauptursache für die Untergrabung der Lebensbedingungen der neueren Menschheit ist durch die sozialen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings offen und weithin wahrnehmbar in die Erscheinung getreten. Niemand kann verkennen, daß das Wirtschaftsleben infolge der Entwicklung der Industrie während der letzten drei bis vier Jahrhunderte eine Form angenommen hat, welche das gesamte soziale Leben in einseitiger Art bestimmt. Die Wirtschaft hat die kulturellen und politischen Kräfte aufgesogen und drängt sie innerhalb des Wirtschaftskreislaufes in eine Richtung, welche es ihnen unmöglich macht, sich entsprechend ihrer Eigenart und ursprünglichen Bestimmung zu entfalten. Die rein geistigen Interessen, ebenso wie das Bestreben nach weiterer Ausgestaltung der Menschenrechte, haben mit der vorwärtsstürmenden Entwicklung des Wirtschaftslebens nicht Schritt gehalten. Sie sind innerhalb enger nationaler Grenzen weit zurückgeblieben, während der wirtschaftliche Kreislauf nicht nur den ganzen sozialen Organismus der Menschheit umfaßt, sondern ihn auch durch das Vorwalten wirtschaftlicher Interessen in einseitiger Weise entscheidend bestimmt Man sollte den ursprünglichen übernationalen Charakter der Naturwissenschaft und der Mathematik nicht mehr als eine rühmliche Ausnahme betrachten. Die bedeutsamsten Ergebnisse dieser Wissenschaften werden neuerdings als nationale Geheimnisse betrachtet; und da der totale Krieg keine Grenze in der Ausnutzung von technischen Verfahren und Erfindungen kennt, so muß mit Notwendigkeit der geheimzuhaltende Sektor der Wissenschaften wach-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 10]

sen, bis er sich mit ihrem ganzen Umfange deckt. Naturwissenschaft wird zur pervertierten Geheimwissenschaft, deren Mysterien von den Initiierten des Nationalstaates eifersüchtig gehütet werden.

So sind einerseits die national begrenzten kulturellen und politischen Interessen von weltweiten wirtschaftlichen abhängig geworden, und indem andererseits die historisch gewordenen Staaten ihre kulturelle Eigenart und politische Macht mit einseitigen nationalwirtschaftlichen Interessen verbunden sein lassen, sind dem Organismus der Weltwirtschaft überlebte Gemeinschaftsformen eingelagert, welche die Funktionen desselben in verhängnisvoller Art stören. Das muß zu internationalen Konflikten führen.

In was für ideologische Formen ein unwirklichkeitsgemäßes Denken, im besonderen eine von nationalen Egoismen bestimmte Vorstellungsart, die Ursachen für internationale Konflikte auch immer kleiden mag, man nimmt in der Regel den äußeren Anlaß für die wahre innere Ursache. Diese ist aber in der Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Wirtschaft auf der einen Seite und derjenigen der Rechtsordnung und des Geisteslebens auf der anderen zu sehen. Es kann sich also nur darum handeln, Wege zu finden, auf denen neue Impulse dem Geistesleben eingepflanzt werden, um dieses selbst zu erneuern und von da aus auch die Entwicklung des Rechtes zu beleben. Dadurch wird auch der übernationalen Naturgrundlage der Weltwirtschaft eine internationale Rechtsgrundlage hinzugefügt werden können, welche der Wirtschaftsbesorgung die notwendige Rechtssicherheit gewährt.

Die Forderung nach Auffindung und Geltendmachung solcher Impulse muß an das Geistesleben gestellt werden und zwar an seinen wissenschaftlichen Sektor, denn dieser ist innerhalb des neuzeitlichen Kulturlebens der bestimmende Faktor geworden. In ihrer Form als angewandte Wissenschaft sind die Ergebnisse von Forschung und Lehre seit dem 17. Jahrhundert ja zur geistigen Quelle der sich jetzt in einer neuen Welle auswirkenden industriellen Revolution geworden. Die Wissenschaft hat aber zu der von dieser Revolution geschaffenen, alles beherrschenden Technologie keine Erkenntnisse über das wahre Wesen des sozialen Organismus hinzugefügt. Sie wirkt in einem lebensfremden

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 11]

Vacuum, das sie selbst erzeugt hat. Die Erkenntnisse fehlen, welche in sittlicher und rechtlicher Hinsicht ebenso kraftvoll in das innere Leben impulsierend eingreifen könnten wie die technologischen in das äußere. Auch die beiden anderen Gebiete des Geisteslebens, das künstlerische und das religiöse, müßten weiter verkümmern und der vollständigen Dekadenz anheimfallen, wenn sie nicht aus dem Quell einer weiterentwickelten Erkenntnis immer aufs neue ihre Speisung empfingen.

Diese Forderung führt auf die entscheidende Frage, ob die Wissenschaft in ihrer gegenwärtigen Form und Willensrichtung überhaupt geeignet ist, die rechte Antwort durch Begründung und Ausgestaltung einer Sozialwissenschaft zu geben, welche, ebenso wie die exakte Naturwissenschaft, zur »angewandten« Wissenschaft werden kann. Sie müßte selbst einen Wert für das praktische Leben haben und dieses aus dem Abgrunde des Verfalls den Höhen der Erneuerung entgegen führen können. Eine bloße theoretische Lösung des sozialen Problems würde nur den Wert einer Utopie haben.

Von dem, was heute als Wissenschaft im allgemeinen anerkannt werden will, erwartet man, daß es sich als das Ergebnis von Methoden erweist, welche die Naturwissenschaft auf ihrem besonderen Felde im Laufe der letzten vier Jahrhunderte ausgebildet hat. Diese Methoden beruhen auf der Sinnesbeobachtung des Gegebenen oder des im Experiment Angeordneten in Verbindung mit der gedanklichen Erfassung des Beobachteten bis zur mathematischen Formulierung seiner quantitativen Gesetzmäßigkeit. Der Fortschritt in der Physik und Chemie hat die Fruchtbarkeit dieser Methoden erwiesen. Aber man versucht, sie auch auf die Gebiete des organischen und empfindenden Lebens anzuwenden. Es wird sogar geglaubt, Psychologie und Geschichte wie auch die Sozialwissenschaften, also die sich unmittelbar auf das Menschendasein beziehenden Wissenszweige, mehr oder weniger nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Forschungsweise gestalten zu können. Die mathematische Berechenbarkeit wird zum Ideal und Kriterium der Wissenschaft, das Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten zum wachsenden Bemühen, das Unberechenbare so zu behandeln, als ob es berechenbar wäre.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 12]

Das wissenschaftliche Denken hat sich, seitdem Francis Bacon (gest. 1626) die induktive Methode als die allein erfolgversprechende erklärte, erst von den Sinneserscheinungen abhängig gemacht, dann von dem im Sinnesreiche wirkenden Kausalgesetz und endlich ausschließlich von dem berechenbaren Teil der Sinneswelt. Dabei geht aber das konkrete Wahrnehmungsbild der Natur in der Beschränkung auf die mathematische Form seiner quantitativen Gesetzmäßigkeit verloren. Von den Qualitäten wird nur dasjenige erfaßt, was als ihre Wirkung im Quantitativen des Substratums berechnet werden kann, also gar nicht unmittelbar zu ihnen gehört. Die farbenreiche, tonerfüllte, zu allen Sinnen sprechende Natur wird auf ein bildloses Schema von Ziffern und Formeln reduziert. Da wird es für den Menschen unmöglich, sich selbst in diesem »objektiven« Reiche rein quantitativer Beziehungen zu finden und sein eigenes Wesen zu erkennen. Die für sein inneres Leben in Betracht kommenden Qualitäten und Werte werden als »subjektiv« durch die sinnengebundene Wissenschaft von dem Weltbilde ausgeschlossen, oder als unerkennbare »Dinge an sich« an den Glauben verwiesen, was, soweit es sich um wissenschaftliches Erkennen handelt, praktisch auf dasselbe herauskommt. Ein solches »Weltbild« ist gar kein Bild, denn es ist finster und stumm. Es kann deshalb keine Auskunft über das wahre Wesen des Menschen geben.

So wenig der Mensch aus seiner solchen »Wirklichkeit« die Entstehung und Entwicklung des Lebens, des Wesens der Empfindung und des denkenden Bewußtseins ableiten kann, so wenig vermag er durch sie zum Verständnis seiner Geschichte und Bestimmung zu kommen. Aber er kann wohl verstehen, wie diese »Wirklichkeit« dem utilitaristischen Ideal Bacons entspricht, wonach das »Ziel des Wissens Nützlichkeit ist, der menschlichen Bequemlichkeit zu dienen und das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Reichtümern auszustatten«. Die seit den Tagen Bacons in hemmungsloser Weise entfaltete Technologie hat diese Forderung erfüllt, aber zugleich die unmittelbare Umgebung des Menschen, besonders im Bereiche seiner Arbeit, so vollkommen mechanisiert, daß diese Umgebung als äußere Manifestation seines angewandten wissenschaftlichen Denkens nichts

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 13]

von dem wahren Wesen des Menschen rückstrahlend zur Anschauung kommen läßt. Da dieses Denken selbst nichts Menschliches in Gedankenform enthält, so kann der von ihm bestimmte Wille der Umgebung auch nicht die Menschenform einprägen. Der Mensch kann aber in einer nur mechanischen Gesetzen folgenden sozialen Umgebung auf die Dauer so wenig leben, wie er mit einem Weltbilde leben kann, welches nur den von gleichen Gesetzen beherrschten toten Teil der Welt widerspiegelt.

Das Wort des Naturforschers Dubois-Reymond in seinem Vortrag »über die Grenzen der Naturerkenntnis« (z872), daß für die naturwissenschaftliche Anschauung die Welt »stumm und finster an sich, d. h. eigenschaftslos ist«, gilt auch für die mechanisierte soziale Welt von heute. Trotz des Lärmens der Maschinen ist sie stumm für den Menschen, denn er kann ihre Sprache nicht deuten; seine soziale Umgebung ist für ihn zu einer untermenschlichen Finsternis geworden. Er muß nach Kräften suchen, ihr Wort zu verstehen, indem er selbst das Licht der Erkenntnis in ihre Finsternis hineinträgt.

Eine wahre Sozialwissenschaft läßt sich nicht durch ein Denken begründen, welches infolge seiner Abhängigkeit von den Sinneserscheinungen die materialistische Weltauffassung hervorgebracht und das soziale Leben in das Netz einer utilitaristischen Technisierung eingefangen hat. Eine wahre Erkenntnis des sozialen Organismus kann vielmehr nur das Ergebnis eines Denkens sein, welches aus sich heraus auch Kräfte für das bewußte Eindringen in die über der mechanischen Sphäre liegenden Daseinsgebiete entwickelt. Für die Begründung einer auf das Leben anwendbaren Sozialwissenschaft ist also die Umwandlung der anerkannten wissenschaftlichen Methoden nötig geworden, ohne daß ihnen etwas von ihrer Objektivität und Anwendungsmöglichkeit für die sinnvolle Verbesserung der Lebensverhältnisse genommen wird.

Aus dem bisher Vorgebrachten kann bereits entnommen werden, wie eine im Bereiche der Sinneswahrnehmungen steckengebliebene Wissenschaft, so berechtigt sie auf ihrem Felde ist, das Geistesleben in der Weise beeinflußt, daß es von der Sphäre der wirtschaftlichen Interessen vollständig aufgesogen wird. Da eine solche Wissenschaft, wie

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 14]

gezeigt, infolge ihrer eigenen Natur keine sittlichen Impulse im Menschen hervorrufen kann, so muß sie es den widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen überlassen, das Zustandekommen auch einer Rechtsordnung zu bewirken. Diese müßte aber, entsprechend dem wahren Wesen des Rechtes, außerhalb des wirtschaftlichen Kreislaufes entstehen, um die diesen bewegenden Interessen für das Leben des Gesellschaftsganzen in den notwendigen sittlichen Grenzen zu halten. Der andere Weg, das Recht auf die äußere Macht des Staates zu gründen und ihn zum Herrn der Wirtschaft und des Geisteslebens zu machen, ist kein Ausweg, sondern muß nur um so schneller in das Verderben führen. Das begonnene Beschreiten dieses Weges liefert den schlagenden äußeren Beweis für die innere Ohnmacht des neuzeitlichen Geisteslebens, welches ohne Sinnesänderung weder die echten Arbeitsantriebe für das wirtschaftliche, noch die sittlichen Impulse für die Entwicklung einer echten demokratischen Rechtsordnung im Zeitalter des Industrialismus hervorbringen kann.

Wir wenden uns jetzt der Frage nach der Begründung einer Methode zu, welche zu einer Sozialwissenschaft führen kann, wie sie von der Gegenwart gefordert wird. Als allgemeine Grundlage aller einzelnen Sozialwissenschaften kann man die Soziologie bezeichnen. Nach der üblichen Auffassung hat die Soziologie die Aufgabe, die Gesetze und Kräfte zu erforschen, welche die menschliche Gesellschaft auf allen ihren Stufen, den gegenwärtigen wie den historischen, beherrschen; die Soziologie behandelt die allgemeine Struktur der Gesellschaft, ihre Entwicklungsgesetze und das Fortschreiten der Zivilisation.

Hält man sich zunächst an eine solche Formulierung der soziologischen Aufgabe, so stellen sich folgende Fragen ein: Sind diese Gesetze und Kräfte von der gleichen Art wie diejenigen, deren Existenz und Wirkungsweise die am berechenbaren Teil der sinnlich-wahrnehmbaren Natur haftende Naturerkenntnis feststellt und für die technische Beherrschung der Umwelt nutzbar macht? Ist das Gesetz der Entwicklung des sozialen Organismus identisch mit dem Entwicklungsgesetz des organischen Lebens im Sinne der darwinistischen Entwicklungstheorie? Ganz abgesehen von manchen Bemühungen in der neuesten Zeit, die Auffassung von dem unveränderten Weiterwirken der phy-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 15]

sikalischen Gesetze und der natürlichen Evolution des organischen Lebens im Gebiete der menschlichen Gesellschaft als unhaltbar zu erweisen, kann eine einfache Betrachtung zur Beantwortung der beiden Fragen führen.

Die physikalischen Gesetze werden gefunden, indem das menschliche Denken sich auf gegebene oder durch das Experiment erzeugte Naturerscheinungen richtet und sie gedanklich verarbeitet. Was für die Sinne in einer undurchschaubaren Form erscheint, wird für das Denken durchschaubar. Dieses Etwas tritt im Bewußtsein in der bestimmten Form des Gedankens auf, welcher den inneren Zusammenhang von äußerer Ursache und äußerer Wirkung »einsehbar« macht. Sowohl Ursache als auch Wirkung sind also in diesem Spezialfalle sinnlich wahrnehmbar. Ihr durch das Denken ermittelter Zusammenhang ist aber nur übersinnlich erfaßbar, denn das Denken ist ein übersinnliches Element innerhalb der menschlichen Gesamtwesenheit. Das physikalische Gesetz, welches in der äußeren Erscheinung wirkt, kommt seinem Wesen nach nur im menschlichen Bewußtsein in übersinnlicher Art zur Erscheinung. Die sinnliche Erscheinungswelt ist nicht die Ursache, sondern nur der Anlaß für die übersinnliche Tätigkeit des Denkens, welches sich selbst verursacht und die Inhalte der Gedankenwelt im Bewußtsein zur Erscheinung bringt.

Im Bereiche der organischen Erscheinungen stehen Ursache und Wirkung in einem anderen Verhältnis zueinander. Die »Ursache« für die »Wirkung« Pflanze ist eine lebendige, übersinnliche Form (Entelechie), welche nur dadurch in ihrer Wirkung sinnlich wahrnehmbar wird, daß sie aktiv die Aufbausubstanzen ergreift und sich eingliedert. Wir haben es also hier mit einer übersinnlichen Ursache und einer sinnlichen Wirkung zu tun. Die Ursache gehört einem höheren Daseinsbereiche an, für dessen Erkenntnis die üblichen physikalisch-chemischen Methoden nicht ausreichen. Für das denkerische Erfassen der Entwicklung (Metamorphose) der einzelnen Pflanze, wie auch der Evolution des gesamten organischen Lebens, ist eine Verwandlung des Denkens erforderlich. Dieses muß sich dafür schulen, mit vollem Bewußtsein von der inneren Wahrnehmung begrifflicher Inhalte zu der Anschauung der denkerischen Kräfte überzugehen, welche diese

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 16]

Inhalte formen. Dann wird man in der schöpferischen Formkraft des Denkens, nicht in seinen bloßen Inhalten, die gleiche übersinnliche Formkraft wirksam finden, welche als »Ursache« des organischen Lebens und seiner Entwicklung tätig ist. Die Wirkung, d. h. der sichtbare Teil der Pflanze, ist nicht durch die umgebende Sinneswelt »bestimmt«, sondern die »Ursache« selbst paßt sich aktiv den Bedingungen der Umgebung an, ohne etwas von ihrem eigenen Wesen aufzugeben. Wir haben es hier mit einer höheren Form des Gesetzes von Ursache und Wirkung zu tun. Diese höhere Form wirkt zusätzlich innerhalb des umfassenderen Reiches der rein physikalischen Ursachen und Wirkungen. Sie kann als »Gesetz« des organischen Lebens nur durch eine entsprechende höhere Erkenntnismethode zum Bewußtseinsinhalt gemacht werden.

Ein noch höherer natürlicher Organismus ist das Tier. Sein Organismus lebt sich nicht nur in der lebendigen Form aus, sondern entwickelt ein inneres – seelisches – Leben unter Ausgestaltung eines differenzierten Organsystems. Es fordert für die Erkenntnis seines Wesens eine entsprechende Weiterentwicklung der Methode. Zur äußeren Lebensform der Pflanze gesellt sich eine innere Form des Empfindens. Diese Seelenform kann als die übersinnliche »Ursache« des Tieres bezeichnet werden, welche einerseits sich durch richtunggebende Beeinflussung der dem Tiere eingelagerten pflanzlichen Formkräfte, andererseits in einer seelischen Reaktion auf äußere Anreize auswirkt. Aus der einen Wirkung dieser übersinnlichen »Ursache« entsteht das differenzierte Organsystem, durch die andere manifestiert sich der spezifische Charakter des Tieres. Das Tier in seiner äußeren Erscheinung (Wirkung) wird daher durch eine »Ursache« bestimmt, welche auf einer noch höheren Daseinsebene liegt als die »Ursachen« der pflanzlichen Lebensformen. Um in dieses höhere Daseinsgebiet einzudringen, bedarf es der Umwandlung der unterhalb des Denkens im Erkenntnisakte mitschwingenden Empfindungskräfte des Menschen. Auch diese können, ebenso wie die Formkräfte, in das Bewußtsein gehoben und in ein Erkenntnisorgan umgewandelt werden.

Somit ist in der Natur das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht in einförmiger Weise, sondern in drei verschiedenen Formen wirksam,

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 17]

die untereinander im Zusammenhang einer Metamorphose stehen, indem sie aufeinander wirken. Die beiden höheren Formen verlangen für ihre Erkenntnis eine ihnen entsprechende Metamorphose der Erkenntnismethode, denn die Natur des Erkenntnisorgans muß dem Wesen des Erkenntnisobjektes entsprechen, wenn Erkenntnis zustande kommen soll.

Es geht also schon aus der geistesgemäßen Betrachtung der Natur selbst hervor, daß das mechanische Kausalgesetz nur für einen Teil der Natur gültig ist, aber keineswegs für das ganze Wesen der Natur. (Daß durch neuere wissenschaftliche Hypothesen die Ausschließlichkeit des Kausalgesetzes ernsthaft angefochten wird, soll hier nur nebenbei erwähnt werden; denn sie beruhen nur auf logischen Schlußfolgerungen und nicht auf direkter Anschauung.) Und da die darwinistische Entwicklungstheorie sich die Evolution der organischen Formen ebenfalls im Bilde von äußerer Ursache und Wirkung (Wirkung der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt auf das sinnlich wahrnehmbare Individuum) vorstellt, so ist diese Theorie für die Erklärung der über dem mineralischen liegenden Daseinsgebiete der Natur ungeeignet. Am wenigsten ist das unverwandelte Kausalgesetz im Verein mit der darwinistischen Evolutionstheorie, die selbst in diesem empfindungsgemäß auf das Organische übertragenen Kausalgesetz urständet, für eine Erklärung der soziologischen Tatsachen brauchbar.

In der Daseinssphäre des Menschen müssen alle Tatsachen als Wirkungen von solchen Ursachen angesehen werden, welche nicht im Kreise der Natur aufgefunden werden können, auch nicht, wenn man geneigt ist, das Walten übersinnlicher Kräfte in der Natur anzuerkennen. Die menschlichen Handlungen und Haltungen gehen aus dem menschlichen Willen hervor. Dieser wirkt verursachend. Selbstverständlich kann man die in der Natur waltenden Kräfte auch als Willenskräfte bezeichnen, indem man sie als von Ideen bestimmt erkennt. Doch erscheint die zu einem verursachenden Willensakt der Natur gehörige Idee im menschlichen Bewußtsein erst nach und an der äußeren Wirkung. Die Idee kommt zeitlich im Menschenbewußtsein gleichsam als Schlußstein des ganzen Naturprozesses zur geistigen Erscheinung. Zu seinem eigenen Willen verhält sich der Mensch in

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 18]

einer vollkommen anderen Art. Der Wille muß hier erst durch das Denken die Idee der Handlung erfassen, ihre Bedeutung durch das Fühlen erleben und sie als gestaltendes Motiv in sich aufnehmen, damit sie durch die Handlung als soziale Tatsache verwirklicht werden kann. Das bedeutet aber, daß für den Menschen die durch das Denken erfaßte Idee das verursachende Gesetz ist, das er sich im Innern selbst gibt. Dagegen ist für die einzelnen Naturerscheinungen das Gesetz von außen gegeben, wenn auch dieses »Außen« verschiedene Stufen der Annäherung in der Richtung auf das Innere der Naturwesen durchläuft. Als ein solches unterliegt der Mensch dem Naturgesetz, denn er schließt Mineralisches, Pflanzliches und Tierisches in sein eigenes Wesen ein. Doch als individueller, denkender Repräsentant der menschlichen Gesellschaft unterliegt er dem Naturgesetze nicht. Er geht über die Natur hinaus und tritt ihr selbständig gegenüber, indem er sein eigenes Gesetz, seine Idee, verwirklicht.

Für den Soziologen kann es sich überhaupt nicht darum handeln, innerhalb der Struktur und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nach äußeren Gesetzen im Sinne der Naturgesetze zu suchen und sie gedanklich als allgemein gültige zu formulieren. Der Soziologe hat es für die Erarbeitung der grundlegenden Erkenntnisse, welche für den sozialen Organismus in Betracht kommen, zunächst viel leichter als der Naturwissenschaftler. Er braucht nur die Gedanken, für welche die menschlichen Handlungen und Haltungen die äußeren Manifestationen sind, in sein eigenes Denken zu übernehmen, um sie als individuelle Willensmotive zu verstehen. Der ganze Bereich der menschlichen Beziehungen wird so zum Ausdruck des individuellen Denkens des Menschen. Das »Gesetz« dieser Daseinssphäre wird als ein solches erkannt, welches sich der Mensch selbst gibt. Das Gesetz ist nicht mehr das hinter der Erscheinung verborgene Motiv (Beweggrund) wie in der Natur, sondern das in der Erkenntnis selbst erscheinende Motiv wird zum Gesetz des menschlichen Handelns. Der soziale Organismus erscheint somit in seinem wahren Wesen als Schöpfung der menschlichen Individualität. Die den Naturgesetzen unterworfenen Naturwesen haben einen kollektivistischen Zusammenhang. Der soziale Organismus gehorcht Gesetzen, welche im

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 19]

Individualismus ihren Ursprung haben. Die Entwicklung des Individualismus ist daher identisch mit der Entwicklung des sozialen Organismus.

Die größere Einfachheit und Einsehbarkeit des soziologischen Erkenntnisprinzipes ist aber mit einer Schwierigkeit verbunden, welche für das naturwissenschaftliche Erkennen in neuerer Zeit als überwunden gelten kann. Die moderne Naturwissenschaft verdankt ihre großen Erfolge und die Erkenntnissicherheit ihrer Methoden der Tatsache, daß für den Naturwissenschaftler die objektive, vorurteilslose Seelenhaltung gegenüber den gegebenen oder durch das Experiment erzeugten natürlichen Tatsachen und Prozessen zur selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist. Er ist von keinen subjektiven Empfindungen und Gefühlen der Sympathie oder Antipathie beeinflußt. Gegenüber Gedanken als den Handlungsmotiven anderer Menschen, selbst wenn die Handlungen weit in der Geschichte zurückliegen, ist die Ausübung der wissenschaftlichen Tugend der Unbefangenheit viel schwieriger. Gedanken anderer im eigenen Denken in ihrer vollen Kraft und Bedeutung aufleben zu lassen, gleichsam das andere Selbst zur geistigen Erscheinung zu bringen, bedarf einer seelischen Fähigkeit, welche erst am Vorbilde des Naturwissenschaftlers bewußt geschult werden muß. Insofern kann die Naturwissenschaft eine Vorschule der Soziologie sein. Also nicht die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft sind auf die Erkenntnis des sozialen Organismus unverwandelt anwendbar, sondern die Erkenntnishaltung, welche die erste Voraussetzung dieser Ergebnisse ist.

Solche Gedanken eröffnen die Möglichkeit, in wirklichkeitsgemäßer Weise auch die Frage der Entwicklung des sozialen Organismus zu behandeln. Wenn der Mensch sich selbst das Gesetz seines Handelns dadurch gibt, daß er die Richtung seines Willens aus seinem Denken heraus bestimmt, so ist die zeitliche Entwicklung aller menschlichen Tatenzusammenhänge ein Ausdruck der geschichtlichen Entfaltung der Denktätigkeit. Das Denken hat erst in neuerer Zeit – seit dem 15. Jahrhundert, also mit dem Heraufkommen der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart – einen solchen Grad der Unabhängigkeit erlangt, daß man von der vollen Möglichkeit der Bestimmung des Wil-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 20]

lens durch Gedanken sprechen kann. Vorher wirkten in instinktiver Weise noch Kräfte, welche den Gedanken nicht in begrifflich-abstrakter, sondern in bildhaft-konkreter Form innerhalb des Bewußtseins in die Erscheinung treten ließen. Das Bild übt eine suggestive Wirkung durch eine Kraft aus, welche im Begriff erloschen ist. Die Willensfreiheit ist daher im Bereiche des Bilderbewußtseins eine geringere. Und je weiter man die Menschheitsgeschichte durch Übernahme der Bewußtseinsinhalte früherer Zeiten in das eigene Bewußtsein zurückverfolgt, um so kraftvoller erweist sich das bildhafte Denken in seiner suggestiven Wirkung auf den Willen der Menschen jener Zeiten. Man kommt in der Rückschau in Zeiten hinein – sie liegen vor der Antike –, in bezug auf welche überhaupt nicht mehr von einem denkenden, sondern nur noch von einem mythologischen Bewußtsein gesprochen werden kann. Um so begrenzter wird auch nach der Vergangenheit zu die menschliche Willensfreiheit und um so kraftvoller die Wirksamkeit der Intelligenz der Götter, welche im Bilde erscheinen und denen sich der Wille des Menschen unterwirft. Die äußeren Götterbilder, Kulte und Mythen sind religiös-künstlerische Gestaltungen eines inneren, bildhaften Erkenntnisinhaltes des Menschen. Die Erkenntnis hatte damals eine andere Form als heute. Ihr Inhalt war deshalb nicht weniger wahr. Der Mensch war in jenen Zeiten noch ein mehr oder weniger unfreies Medium für geistige Kräfte, welche durch ihn und für ihn und seine Zukunft den sozialen Organismus gestalteten.

Die Umwandlung des Bilderbewußtseins in das denkende Bewußtsein bedeutet eine entscheidende Etappe des Weges des Menschen zur Freiheit des Willens und zur Erreichung der Fähigkeit, ein freier, voll-bewußter Vermittler des gesellschaftsbildenden Geistes zu sein. Wenn der von der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart abhängige Soziologe auf den Bienenstock und den Ameisenhaufen als natürliche Vorbilder oder gar Vorläufer der Gesellschaftsbildung hinweist, so übersieht er ein Wesentliches. Der gesellschaftsbildende Geist wirkt in der Natur in solchen Fällen so, daß er das Individuum durch äußeren, gesetzmäßigen Zwang auf dem Wege über den instinktiven Willen in den gesellschaftlichen Zusammenhang hineinstellt. Ein solches

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 21]

Individuum verfügt als Teil des Ganzen über kein Denken, um die Idee des Ganzen, sei es bildhaft oder im Begriff, zu erfassen und sie durch seinen Willen in Form einer Sonderfunktion für das Ganze zu verwirklichen. Während für die Natur uneingeschränkt der alte Satz gilt: »Das Ganze kommt vor seinen Teilen«, gilt für die menschliche Gesellschaft die Wahrheit, daß jeder ihrer Teile das Ganze in individueller Form und bewußt repräsentiert. Dies ist nur möglich, wenn das Ganze in der Idee erfaßt wird, wie sie durch das Individuum tätig zur Erscheinung kommt. Das im Verlaufe seiner Geschichte entwickelte freie Verhältnis zur Ideenwelt ist es, welches es dem Menschen ermöglicht, ein bewußtes Organ des gesellschaftsbildenden Geistes zu werden. Die instinktive Gesellschaftsbildung, welche noch naturhafte Züge zeigt, hat in unserer Zeit aufgehört, im Sinne des Menschheitsfortschrittes zu wirken, ganz abgesehen davon, daß man sich die Impulsierung der menschlichen Instinkte anders vorzustellen hat als diejenige eines Ameisenhaufens. Instinktive Gesellschaftsbildung ist zu einem fortschrittsfeindlichen Element geworden.

Ist der soziale Organismus, sofern seine äußere Struktur in Betracht kommt, die Ausdrucksform menschlicher Bewußtseinsinhalte durch den Willen, so bedeutet das Fortschreiten der Bewußtseinsentwicklung in der Zeit zugleich das Stehen- und Zurückbleiben früherer Bewußtseinsstufen innerhalb des sozialen Gesamtraumes. Vergangene Gesellschaftsformen werden dadurch aufrechterhalten. Die Menschheit irgendeiner Geschichtsepoche manifestiert sich durch Rassen, Völker und Nationen, welche auf verschiedenen Stufen der Bewußtseinsentwicklung stehen. Dies bestimmt die Struktur der Gesamtmenschheit zu irgendeinem Zeitpunkt. Ein »Gesetz« im Sinne eines Naturgesetzes liegt dieser Erscheinung nicht zugrunde. Trotzdem zeigt eine in der Zeit stehengebliebene Gesellschaftsform typische Züge, welche in ihrem Zusammenhang und ihrer Wirkung mit der Notwendigkeit von Naturgesetzen verglichen werden können. Diese typischen, in der Zeit beharrenden Züge werden verständlich als durch den Willen verwirklichte Bewußtseinsinhalte weisheitsvoller religiöser und künstlerischer Art. Als Denk-, Kultus- und Lebensgewohnheiten, als Sitte, Brauch und Tradition bestimmen sie die betreffende Gesellschafts-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 22]

form. Als Bewußtseinsinhalte, welche sie einst waren, sind sie in das Unbewußte herabgesunken und müssen als das erkannt werden, was sie jetzt sind: Instinkte, welche mit der Notwendigkeit von Naturgesetzen zu wirken scheinen. Die Instinkte sind der zweite Faktor, welcher die Struktur des sozialen Organismus bestimmt Sie sind Ausdruck eines Willens, dessen ursprünglicher Ideengehalt wirkt, aber dem Bewußtsein verlorengegangen ist. Sie können nur richtig bewertet werden, wenn eine wirklichkeitsgemäße Soziologie auf die Bewußtseinsinhalte zurückgehen kann, welche ihnen zugrunde lagen, bevor sie zu Instinkten wurden.

Ein weiterer Faktor, welcher die Struktur eines sozialen Organismus mitbestimmt, ergibt sich der Anschauung, wenn auf das Zusammenspiel des fortgeschrittenen Bewußtseins einer jeweiligen Gegenwart mit der hineinragenden Vergangenheit hingesehen wird. Es ragen die Folgen eines früheren geschichtlichen Tatenzusammenhanges in die Gegenwart hinein. Dieser wirkt gleichfalls mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes. Wie die Natur bietet er die schicksalhaften, gewordenen äußeren Bedingungen dar, unter denen neue soziale Impulse des gesellschaftsbildenden Geistes die zeitgemäße Form finden müssen, um als Gedankeninhalte in den Willen überzugehen. Man kann sagen, daß durch solche Erneuerungsimpulse die Zukunft in die Gegenwart auf dem Wege über das menschliche Bewußtsein hineinragt.

Das bedeutsamste Beispiel für das notwendige Zusammenspiel des Werdenden mit dem Gewordenen stellt wohl die Tatsache der Arbeitsteilung in der neuzeitlichen Wirtschaft dar. Diese Arbeitsteilung, welche zur industriellen Wirtschaftsweise führte, ist ein Ergebnis der vergangenen Bewußtseinsentwicklung. Durch sie ist eine Situation entstanden, in welcher der einzelne als Produzent nur eine Teilfunktion für das Zustandekommen eines wirtschaftlichen Erzeugnisses ausübt. Diese Teilfunktion hat für ihn selbst keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Wert, wie das mit den Erzeugnissen in den vergangenen Zeiten der Selbstversorgung der Fall war. Heute steuert der Produzent das Ergebnis seiner Teilarbeit als seinen Anteil an der Gesamtproduktion bei. So kann er infolge der gewordenen Struktur der

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 23]

Wirtschaft praktisch nur für das Ganze arbeiten und nicht für sich selbst. Demgegenüber kann er seine eigenen wirtschaftlichen Bedürfnisse nur aus dem Ganzen der Produktion befriedigen. Einer kann nur für alle arbeiten, alle nur für einen. Die Struktur der neuzeitlichen Wirtschaft muß den Egoismus auf ihrem Gebiete ausschließen, wenn sie gesund sein soll. Dieses ist das »Soziale Hauptgesetz«, welches später in einem anderen Zusammenhang ausführlicher behandelt werden soll. Aber schon hieraus geht hervor, daß dieses Gesetz nicht, obwohl es mit der Ausschließlichkeit eines Naturgesetzes wirkt, wie ein solches einfach hingenommen werden kann. Dieses Gesetz muß nicht nur erkannt, sondern erfüllt werden. Das kann es aber nur, wenn der Mensch aus eigener Kraft die sittlichen Impulse entwickelt, durch die er seinen Egoismus überwindet. Er wird dann die Wirtschaft in einer Weise einrichten, daß auf ihrem Gebiete der Egoismus seinen Spielraum verliert, ohne daß dabei die individuelle Initiative geopfert zu werden braucht. Hierfür muß der Mensch neue Bewußtseinsinhalte anstreben, welche seinem freien Willen die zeitgemäße Richtung geben.

Eine wahre Soziologie kann für all dieses die erkenntnismäßigen Voraussetzungen bieten, wenn ihre Ergebnisse in angemessener Weise in die Erziehung und Selbsterziehung eingegliedert werden. In dem Maße, wie die Erkenntnis des sozialen Organismus in die Erziehung übergeht, wird diese geeignet, soziale Empfindungen hervorzurufen, an deren Wirksamkeit im praktischen Leben die Soziologie denjenigen Fortschritt der Zivilisation studieren könnte, den sie selbst aus der Erkenntnis des Notwendigen heraus inauguriert.

Studiert der Soziologe die Vergangenheit der gesellschaftlichen Entwicklung, so wird er seine Aufmerksamkeit, außer auf die sich wandelnden Bewußtseinsinhalte und Willensrichtungen, auch auf die jeweilige Gestalt der sozialen Empfindungen richten müssen. Neben dem Denken und Wollen ist das Fühlen des Menschen ein Glied seines seelischen Wesens. Durch das Fühlen leben sich Antipathie und Sympathie in halbbewußter Form aus. Es steht zwischen bewußtem Denken, oder dessen Vorformen, und unbewußtem Willen. Es ist ein Vermittler zwischen diesen beiden. Geistige Inhalte

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 24]

und im Leiblichen wirkende Willensantriebe werden im Fühlen zur individuellen Eigenart. Sie werden auf das Ich-Gefühl bezogen, das sich zum vollen Ich-Bewußtsein erhebt, wenn das Wahrheitsgefühl erlebt, wie das Ich sein eigenes Wesen gedanklich ergreift. Das Ich-Bewußtsein ist die Voraussetzung für das gesteigerte Erlebnis des Fühlens, sowohl durch die selbstlose Vereinigung von Gedanke und Willensimpuls im Erkenntnisakt in bezug auf das Seiende als auch im Motiv der freien Handlung in bezug auf das Werdende. Je schwächer das Ich-Bewußtsein in der Vergangenheit war – das Ich ist erst in der Jetztzeit dem gewöhnlichen Bewußtsein voll erreichbar –, um so stärker waren damals die bildhaften geistigen Inhalte. Sie waren von zwingender Natur, weil sich die Gefühle in Sympathie mit ihnen verbanden und sie auf den Willen als Impulse der guten Götter übertrugen. Entsprechend stark wurde die Antipathie als Furcht vor den bösen Göttern erlebt. Indem diese geistigen Inhalte zur Tradition wurden, verloren sie an Unmittelbarkeit und damit an sozialbildender Kraft. Sie verloren ihren gemeinschaftsbildenden, objektiven Wert unter neuen äußeren Lebensbedingungen der Menschen. Das Fühlen wandte sich von solchen Inhalten ab und einem Denken zu, welches an die Stelle der alten übersinnlichen Schauungen die sinnliche Wahrnehmung der Natur setzte. Die Begeisterung wandte sich der seit dem 15. Jahrhundert heraufgekommenen Naturwissenschaft zu, welcher außer der Beherrschung der Natur durch die Technik die Schulung zur Objektivität des Beobachtens und Denkens zu verdanken ist. Aber andererseits befreite die Naturwissenschaft auch den Egoismus von seinen alten geistbedingten Bindungen und öffnete die Tore für alle möglichen wissenschaftlichen Irrtümer.

Für den Soziologen sind egoistische Antriebe und wissenschaftliche Denkfehler in ihrer Wirkung auf das soziale Leben wichtigste Gegenstände seines Forschens. Er bedarf hierfür einer Erkenntnis der Ursachen der sozialen und antisozialen Empfindungen, eines Eindringens in das Wesen des Fühlens, das in Verworrenheit gerät, wenn das soziale Leben durch Egoismus und Irrtum in eine Mißgestaltung hineinkommt Diese wirkt auf den einzelnen Menschen zurück. Sein Ge-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 25]

fühl der Menschenwürde ist verletzt. Der Wille wird zu turbulenten Taten aufgestört. Die am Ausleben verhinderten Kräfte einer friedlichen Evolution entladen sich in einer gewaltsamen Revolution. Dadurch verkehren sie sich in ihr Gegenteil. Wo in einer Gesellschaft die Verbreitung des Gefühls der verletzten Menschenwürde wahrgenommen wird, da ist für den Soziologen das untrügliche Symptom für die Gefahr der Zerstörung der Lebensbedingungen des sozialen Organismus gegeben. Er hat den Ansatzpunkt für eine Diagnose der Krankheit des Sozialkörpers gefunden. Erst auf Grund der richtigen Diagnose kann er zur Auffindung einer wirksamen Therapie schreiten. Eine Sozialwissenschaft, welche nicht die Fähigkeit besitzt, soziale Heilkraft zu entwickeln, ist eine nutzlose, und dazu kostspielige, intellektuelle Spielerei.

So hat sich für uns, auf rein soziologischem Wege, das seelische Wesen des Menschen als ein denkendes, fühlendes und wollendes ergeben. Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen, und als ein solches stellt er sich in die Welt hinein.

Hier ist zu den früheren Ausführungen über die soziologische Methode eine ergänzende Bemerkung am Platze. Es wurde die Forderung gestellt, die emotionslose, objektive Seelenhaltung des Naturwissenschaftlers in die sozialwissenschaftliche Forschung zu übernehmen. Diese hat es in erster Linie mit der Erforschung von Gedanken als wirksam gewesenen oder gegenwärtig wirksamen Willensmotiven zu tun. Das Beobachtungsfeld sind Gedankenzusammenhänge und die Art, wie diese sich in Tatenzusammenhängen ausgewirkt haben und auswirken. Dazu kommt die Beobachtung sozialer und antisozialer Empfindungen und der Formen, in denen sich das Fühlen innerhalb des sozialen Zusammenhanges auslebt. Denken, Fühlen und Wollen werden aber zunächst nur der Selbstbeobachtung anschaubar. Erst nachdem die spezifischen Kräfte dieser, jedem Menschen eignenden Seelenfähigkeiten durch Studium des eigenen Wesens in das Bewußtsein gehoben sind, können sie zu Wahrnehmungsorganen für solche inneren Vorgänge des sozialen Lebens, welche seine äußere Form bestimmen, gemacht werden. Selbstbeobachtung führt durch sich selbst zur Weltbeobachtung.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 26]

Die äußeren Vorgänge, wie Geld- und Warenzirkulation, Nachrichten- und Verkehrswesen, Wahlen und alles Institutionelle, bestimmen das soziale Leben nicht als letzte Ursachen. Diese liegen in den inneren Vorgängen des Denkens, Fühlens und Wollens. Der Naturwissenschaftler hat aber unter der Einwirkung der positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts und infolge der einseitigen Übertragung der Prinzipien der Physik die Methode der Selbstbeobachtung als eine subjektive, und daher wissenschaftlich wertlose, ausgeschlossen. Der Begründer der neuzeitlichen Soziologie, Auguste Comte, hat nun im Sinne seiner positivistischen Philosophie das Ideal einer objektiven Gesellschaftslehre entwickelt, welche als »soziale Physik«, wie er sie nannte, die Selbstbeobachtung ausschließt. Unter diesem Ausschluß krankt somit die Soziologie seit ihrer Begründung. Es kann aber gar keine Frage sein, daß jeder Mensch, genau so wie der Arzt den eigenen physischen Organismus zum Studienobjekt machen kann, seinen eigenen Seelenorganismus objektiv zu beobachten und dessen Gesetzmäßigkeit zu erforschen vermag. Allerdings muß er sich für die Ausübung einer solchen Objektivität schulen. Der Mensch würde ja nicht einmal die Begriffe des Denkens, Fühlens und Wollens haben können, wenn er die spezifischen Eigentümlichkeiten dieser Seelenfähigkeiten nicht wenigstens ahnungsweise durch Selbstbeobachtung unterscheiden gelernt hätte. Zu der Natur des »Ich«, des Zentrums des Menschenwesens, gehört ja gerade die Fähigkeit, sich nicht nur der sinnlichen Außenwelt und der Ideenwelt objektiv gegenüberzustellen, sondern in der gleichen Haltung auch die eigene Innenwelt zu beobachten und zu erforschen. Dann zeigt sich, daß die Gesundheit des seelischen Organismus davon abhängt, daß alle drei inneren Funktionen in einer Harmonie zusammenwirken, welche nur das »Ich« selbst bewirken kann. Ist es zu schwach, und bestimmt ein unkontrollierter instinktiver Wille auf dem Wege über das Fühlen das Denken, so krankt dieses an der Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen, und ergeht sich in Illusionen. Diese sind ein Symptom für die Krankheit des Seelenlebens. Bestimmt dagegen eine abstrakte und automatenhafte Logik, gleichfalls unter der Vermittlung des Fühlens, den Willen, so wird dieser am Übel eines fremden Zwanges leiden. In

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 27]

einem solchen Falle stellt sich der Wille in fanatisch-rücksichtsloser Art in den Bereich der Tatenzusammenhänge hinein. Der Mensch wird zum Diener eines Wesens, dessen Absichten er nicht durchschaut.

Erst wenn der Soziologe auf Grund der objektiven Selbstbeobachtung zur Selbstkontrolle und Selbstverwandlung übend vorschreitet und sein »Ich« Denken, Fühlen und Wollen getrennt hält, um sie in freier Entscheidung, je nach der Lebenssituation, zueinander für die Erkenntnis oder für die Handlung in die rechte Beziehung zu setzen, kann er zur fruchtbaren Beobachtung der Wirksamkeit der drei Seelenfähigkeiten im sozialen Organismus übergehen. Dabei wird er finden, daß in früheren Zeiten dasjenige, was heute unwirksame Tradition von Weisheits-, Kunst- und Religionsinhalten geworden ist, als geistbestimmte Kultur- und Gesellschaftsform für einen harmonischen und sittlichen Zusammenhang des Willens-, Gefühls- und Denkelementes sorgte. Anders sind die harmonischen Daseinsformen alter Kulturen überhaupt nicht zu verstehen. Man denke z. B. an die kulturbestimmende Wirksamkeit der 10 Gebote oder an das Totenbuch der Ägypter. Im Hinblick auf die Gegenwart wird ein solcher Soziologe erkennen, daß die erreichte höhere Stufe des Ich-Bewußtseins vom Menschen eine aus dem eigenen Erkenntniswillen heraus herbeigeführte innere Verbindung mit den geistigen Kräften des Daseins erfordert. Die selbstbewirkte Harmonie von Denken, Fühlen und Wollen ist hierfür Voraussetzung.

In der Tatsache, daß die Zahl der Menschen, welche die geschilderte Stufe infolge Vernachlässigung ihrer entwicklungsgemäß vorhandenen höheren Anlagen nicht erreicht haben, so groß ist, muß die eigentliche Ursache des verhängnisvollen Zurückbleibens des kulturellen Lebens und der Rechtsordnung gegenüber dem Wirtschaftsleben gesehen werden. Die Erkrankung des sozialen Organismus der gegenwärtigen Menschheit stellt sich als eine Folge der Verworrenheit von Denken, Fühlen und Wollen der einzelnen Menschen dar. So stellt diese Gestalt der sozialen Frage die Soziologie vor ihre wahre Aufgabe, die Individualität zum Erwachen und zur bewußten Anwendung ihrer geistigen Kräfte für die Herbeiführung einer durch

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 28]

Verbreitung einer wahren Sozialerkenntnis erneuerten Sozialordnung zu veranlassen.

Diese Aufgabe verdichtet sich zu der Notwendigkeit einer Erkenntnis des individuellen Menschenwesens und der Art, wie sein Verhältnis zum sozialen Organismus war, heute ist und in Zukunft gestaltet werden muß. Für das Erarbeiten einer solchen Erkenntnis hat die anthroposophisch-orientierte Geisteswissenschaft die Methode entwickelt. Durch diese Methode wird zunächst erkannt, daß durch sein Denken der Mensch mit einer geistigen Welt in Verbindung steht, weil er in seiner denkenden Seele selbst Geist ist. Mit seinem Willen, der durch seine Leibesorganisation vermittelt wird, verwirklicht er die erkannten Geistesinhalte und gliedert diese durch seine Taten der Außenwelt ein. In seinem Fühlen lebt der Mensch seelisch in sich selbst und tritt sowohl mit der Außenwelt als auch mit der geistigen Welt in eine lebensvolle individuelle Beziehung. Der Mensch als Leib, Seele und Geist ist ein dreigliedriges Wesen.

Eine anthroposophisch-orientierte Soziologie kann den Menschen lehren, wie nur ein dreigliedriger sozialer Organismus die Bedingungen bieten kann, unter denen jeder, dem Gefühl seiner Menschenwürde gemäß, durch die Wirtschaft die Bedürfnisse seines Leibes befriedigt bekommt, sich seelisch durch eine Gleichheit der Rechte in der Gemeinschaft sicher fühlt und als Geist sich in einem freien Geistesleben individuell entfalten kann.

Aus der dreigliedrigen Konstitution des Menschen ergibt sich die Notwendigkeit der dreigliedrigen Konstitution des sozialen Organismus. Diese Notwendigkeit zur allgemeinen Einsicht zu bringen, ist die Hauptaufgabe der Soziologie, wenn sie dazu beitragen will, das soziale Leben der Gegenwart von dem lastenden Alpdruck der Friedlosigkeit und der Gefahr der vollständigen Vernichtung der Lebensbedingungen der Gesellschaft zu befreien.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 29]

ZWEITES KAPITEL

DER MENSCH

Der soziale Organismus ist das Ergebnis des menschlichen Verhaltens zur Natur, zum Geiste und zu den Nebenmenschen. So ist der Mensch der Schöpfer seines eigenen Daseinsbereiches, des sozialen Lebens. Der einzelne Mensch findet den Gesellschaftskörper als ein in der Vergangenheit Gewordenes bei der Geburt vor, wie er auch die Natur als ein Gewordenes vorfindet. Durch Erziehung und Selbsterziehung muß er erst die Reife erlangen, um eigene individuelle Leistungen zur Erhaltung und Entwicklung des sozialen Organismus beitragen zu können. Bevor der Mensch eine solche Entwicklungsstufe erreicht hat, nimmt er noch nicht an der bewußten Gestaltung des sozialen Lebens teil, sondern ist Empfänger der vorgefundenen Formen von Kultur, Rechtsordnung und Wirtschaft. Diese Formen, zu denen auch Sprache, Sitten, Gebräuche, Denkgewohnheiten, Religionsübung und Erziehungsmethoden gehören, wirken auf ihn ein, und er formt sich zunächst selbst, indem er die Wirkungen seiner natürlichen und menschlichen Umgebung seinem Seelenorganismus eingliedert. Auf diesem Wege strebt die Entwicklung des Menschen dem Punkt zu, an dem er fähig wird, eigene Gedanken schöpferisch zu erfassen, zu Motiven des Willens zu erheben und durch individuelle Handlungen in den Tatenzusammenhang des sozialen Daseins zu verweben. So webt er bewußt seinen geistigen Lebensfaden in den Geistorganismus des Sozialkörpers ein. Der Mensch gibt auf dieser Bewußtseinsstufe sich selbst das »Gesetz« als seinen Beitrag zum Zustandekommen der »Gesetzmäßigkeit« der menschlichen Gesellschaft. Darin sieht er seine Menschenwürde.

In dem am weitesten fortgeschrittenen Teil der Menschheit hat die Entwicklung des Bewußtseins eine Höhe erreicht, welche eine wahre Erkenntnis des Menschenwesens in neuer, zeitgemäßer Form fordert. Das Vorhandensein dieser Notwendigkeit wird um so deutlicher, je mehr eingesehen wird, daß Höhe des Bewußtseins und Höhe der Kul-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 30]

tur heute, im Gegensatz zu früheren Kulturepochen, nicht mehr im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen. Trotz des hohen Grades, welchen das Ich-Bewußtsein in der Gegenwart im Vergleich zu früheren Bewußtseinsstufen erreicht hat, ermangelt der Inhalt des Bewußtseins der sozialen Impulse, aus deren Verwirklichung eine neue Kultur entstehen könnte. Eine wahre Erkenntnis des Menschenwesens, als Vorbedingung für das Eingreifen solcher sozialen Impulse, fehlt. Eine Wissenschaft vom Menschen muß als Grundlage aller Wissenszweige ausgebildet werden, im besonderen der Soziologie, wenn diese einen praktischen Wert für die Weiterentwicklung des sozialen Organismus haben soll. Eine solche Soziologie ist keimhaft innerhalb des Umkreises der anthroposophisch-orientierten Geisteswissenschaft vorhanden. Diesen Keim zu entfalten ist die Aufgabe des Soziologen der Gegenwart.

Durch unsere bisherigen Ausführungen sind nur die Grundzüge der aus anthroposophischer Quelle stammenden Menschenkunde skizzenhaft angedeutet worden. Diese Grundzüge sollen jetzt unter Berücksichtigung des gesellschaftswissenschaftlichen Gesichtspunktes weiterentwickelt werden. Dann erst wird das Wissen um die wahre Menschennatur die Grundlage für eine Einsicht in die spezifischen Bedeutungen und Funktionen der sozialen Kräfte und Einrichtungen bieten. Ideen für die friedliche Umgestaltung der letzteren werden sich einstellen.

Erkennen kommt zustande, wenn zu einer Wahrnehmung der für diese in Betracht kommende Gedanke in einer Weise durch das Denken hinzugefügt wird, daß Wahrnehmung und Gedanke im Bewußtsein eine Einheit bilden. Dabei repräsentiert die Gedankenform die universelle, der Wahrnehmungsinhalt die individuelle Seite dieser Einheit. Durch die universelle Seite erscheint die Wahrnehmung als dem Ganzen der Ideenwelt eingegliedert, durch die individuelle erscheint die schöpferische Beziehung der Ideenwelt zur Wirklichkeit dem Bewußtsein. Die im und für das Bewußtsein im Erkenntnisakte hergestellte Einheit von Wesen und Erscheinung, als Polaritäten der Wirklichkeit, hat auch vor dem Erkennen immer bestanden. Doch haben diese zwei Seiten des Daseins während der geschichtlichen Ent-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 31]

wicklung des Ich-Bewußtseins die Form von Extremen angenommen, zwischen denen es anscheinend keine Brücke gibt. An Stelle der erlebten Erkenntnis der Einheit von Wesen und Erscheinung wurde die anscheinende Unversöhnlichkeit dieser beiden in Wirklichkeit zusammengehörigen Daseinsformen als unaufhebbarer Dualismus empfunden. Man war von dem offenbaren Gegensatz von Subjekt und Objekt fasziniert und sah nicht den Weg, welcher zu seiner Überwindung in der Erkenntnis führt.

Das Subjekt-Objekt-Erlebnis überschattete seit dem 15. Jahrhundert immer wirksamer alles andere Erleben. Der Mensch nahm sich selbst als einzelnes Subjekt wahr, welches der Wahrnehmung der Umwelt als einem universellen Ganzen sich in einer Weise gegenübergestellt fand, daß er glauben mußte, zwischen beiden keine Brücke schlagen zu können. Wir haben es mit dem Gegensatz von Ich und Welt zu tun, der um so stärker wirkte, als die Welt, im Unterschiede zu früheren Bewußtseinszuständen, vom wissenschaftlichen Bewußtsein immer mehr als geistentblößter objektiver Zusammenhang von Sinneserscheinungen aufgefaßt wurde. Demgegenüber empfand sich das Ich selbst mit wachsender Entschiedenheit als bloßen subjektiven Geist, welcher außerhalb seines eigenen Wesens für die objektive Welt keine Bedeutung haben kann. Infolge dieser Täuschung über die Natur seines eigenen Wesens verfiel das Ich der Versuchung, sich selbst als Wirkung äußerer physischer Ursachen aufzufassen, welche die physische Erscheinung des isolierten Menschenleibes hervorbringen. Die Funktionen des letzteren wurden so gedacht, daß sie, innerhalb seines eigenen sinnlich-begrenzten Bereiches, außer den Erscheinungen des Lebens auch diejenige des Seelischen und Geistigen hervorrufen. Das Ich identifizierte sich mit seiner äußeren Hülle, dem Leibe, und entwickelte zugleich, im empfundenen Gegensatz zu diesem, ein Selbstbewußtsein, welches sich notwendigerweise von der Welt abgeschnitten fühlen mußte. Der Gegensatz zwischen Ich und Welt wirkte positiv und die Entwicklung fördernd in bezug auf das Ich-Bewußtsein. Er wirkte negativ und die Entwicklung hemmend, sofern die Erkenntnis des tatsächlichen Zusammenhanges von Ich und Welt in Betracht kam.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 32]

Das Wesen des Denkens ist nur durch Selbstbeobachtung erfaßbar, denn es erscheint auf subjektivem Felde. Aber seine Wirklichkeit gehört, zusammen mit dem Subjekt, dem Weltganzen an. Das Denken wird zum Beobachtungsobjekt, dessen Eigenschaften und tatsächliche Zusammenhänge mit dem Weltganzen nur erkannt werden können, wenn es selbst zum Gegenstand des Denkens wird. In diesem Sonderfall richtet sich das Denken auf sein eigenes Wesen. Subjekt und Objekt fallen dabei in eine Einheit zusammen Es zeigt sich, daß beides Begriffe sind, die erst durch das Denken hervorgerufen werden, sobald der Mensch als einzelner sein Verhältnis zur Welt gedanklich zu bestimmen versucht. Deshalb repräsentiert das Denken eine Wirklichkeit, welche jenseits von objektiv und subjektiv liegt und diese beiden Daseinsformen mit umfaßt. Das Denken in seiner Beziehung zu einer niederen Entwicklungsstufe des Bewußtseins und in einer einseitigen Verbindung mit der leiblichen Organisation hat erst die Welt vom Ich trennen müssen, um durch seine spätere Beziehung zum vollkommenen Ich-Bewußtsein in die Lage zu kommen, Ich und Welt auf einer höheren Stufe im Erkenntnisakte wieder zu vereinigen. Die Welt erscheint dann gedanklich dem Ich mit der gleichen Geistigkeit begabt, wie sie zunächst nur im Ich selbst erlebt wird.

Damit ist der Weg angedeutet, auf dem die Selbstbeobachtung in die Weltbeobachtung übergeht. Das Ich, welches sich selbst wahrnimmt und sein Denken auf diese Wahrnehmung richtet, hebt dadurch seine eigene Idee ins Bewußtsein. Richtet das Ich das gleiche Denken auf die Wahrnehmung der Welt, so erfaßt es die zu den Welterscheinungen gehörigen Ideen. Der Zusammenhang dieser Ideen liegt der wahrnehmbaren Welt ebenso zugrunde, wie das das innere Leben zusammenfassende Ich der Wahrnehmung »Mensch« zugrunde liegt.

Hier muß nun betont werden, daß der Begriff »Wahrnehmung« im umfassendsten Sinne gemeint ist. Die durch die leiblichen Sinne vermittelte Wahrnehmung der Welt ist nur ein Sonderfall der Wahrnehmung in dem hier gemeinten umfassenden Sinne. In den Umkreis der bloßen Wahrnehmungen gehören auch objektiv angeschaute Instinkte, Triebe, Wünsche, Motive, Erinnerungen, Träume, Empfindungen, ja, sogar Illusionen, Halluzinationen und alles Übersinnliche,

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 33]

soweit es wahrgenommen wird. Solche Wahrnehmungselemente sind zusammenhanglos, solange sie nicht durch das Denken in die rechte Beziehung zu der ihnen zugrunde liegenden geistigen Wirklichkeit gesetzt werden. Auf das Wahrnehmungsobjekt »Mensch« soll hier zunächst insofern eingegangen werden, als es mit seinem physischen Teil auch demjenigen Ausschnitt der Wahrnehmungswelt angehört, welcher der Sinnesbeobachtung offensteht.

Der physische Leib des Menschen gehört der Außenwelt an, d. h. dieser Leib ist ein sinnlich-wahrnehmbares Beobachtungsobjekt. Es kann beobachtet werden, wie dieser Leib entsteht und vergeht, wie er sich ernährt, wie seine Organe mit der Außenwelt in Berührung stehen, und wie er sich in ihr bewegt. Der Zusammenhang all dieser Einzelwahrnehmungen, und ihr Bezug auf die Form des physischen Leibes, wird erst dem Denken klar. Ebenso kann durch die üblichen äußeren Methoden der Anatomie, Biologie und Physiologie die Struktur und der funktionelle Zusammenhang der Leibesorgane studiert und bis zu einem gewissen Grade erkannt werden. Eine Erweiterung dieser begrenzten Erkenntnis ist aber nur durch eine sinngemäße Weiterentwicklung der Erkenntnismethoden durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft möglich.

Schon die äußeren, auf Sinnesbeobachtung und unbefangenem Denken beruhenden wissenschaftlichen wenn rein phänomenologisch vorgegangen wird, können zu einer bestimmten Einsicht in die funktionelle Grundstruktur des menschlichen Organismus führen. Sie ist ganz offenbar eine dreigliedrige. Das Sinnes-Nervensystem unterscheidet sich in Struktur und Funktion deutlich von dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem, insofern beide im Sinne einer physiologischen Polarität einander gegenüberstehen und gegeneinander wirken. Zwischen diesen beiden Systemen, ihre Einseitigkeiten überwindend, vermittelt ein drittes: das rhythmische System, welches sich auf dem Wege über Atmung und Blutzirkulation betätigt. Eine wirklichkeitsgemäß vorgehende Physiologie wird finden, daß alle anderen Systeme, wie Knochen-, Drüsen-, Lymphsystem usw., ihr Dasein nur dem verschiedenartigen Zusammenwirken der drei Hauptsysteme verdanken, welche die Grundstruktur bilden.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 34]

Was so durch äußere Beobachtung gefunden werden kann, verlangt durch seine eigene Natur, mit den Ergebnissen der Selbstbeobachtung durch das Denken in sinnvolle Beziehung gesetzt zu werden und umgekehrt.

Auch die sich der Selbstbeobachtung offenbarende Innenwelt des Menschen ist eine dreigliedrige. Ihr liegt ein Zusammenwirken von Denken, Fühlen und Wollen zugrunde. Diese Tatsache drängt sich der Selbstbeobachtung schon an deren Beginn geradezu auf. In ihrem Fortgange wird gefunden, daß die drei Faktoren des Innenlebens in einer verschiedenartigen Beziehung zum gewöhnlichen Bewußtsein stehen. Der vollbewußten Tätigkeit des Denkens steht die unbewußte des Wollens gegenüber, während das Fühlen im Vergleich zum Denken und Wollen als halbbewußt bezeichnet werden kann. (Das Wollen als solches ist für das gewöhnliche Bewußtsein ein unbewußtes. Erst durch seine Verbindung mit dem Denken wird es bewußt.) Die drei seelischen Funktionen erscheinen andererseits der Selbstbeobachtung in einer deutlichen Beziehung zum Urphänomen der Selbstbeobachtung, zum Ich. Dieses offenbart sich durch diese Beziehungen in verschiedenen Zuständen seines Zusammenhanges mit der sinnlichen Außenwelt, der geistigen Welt und mit sich selbst. Wenn das Ich Denken, Fühlen und Wollen beherrscht und sie zueinander in die rechte Beziehung setzt, so ist das Innenleben des Menschen ein harmonisches Stehen zwischen Sinneswelt und Geisteswelt. Diese Stellung kommt durch die Art zum Ausdruck, wie der Mensch wirklichkeitsgemäß erkennt, handelt und sein seelisches Verhältnis zur sozialen und natürlichen Umwelt regelt.

Dies alles führt auf die Frage nach dem tatsächlichen Zusammenhang zwischen der seelischen und leiblichen Organisation des Menschen, ohne daß man die unzulängliche Hypothese eines psycho-physischen Parallelismus als Erklärungsgrund heranzieht. Dieser Theorie fehlt ja gerade die Einsicht in das Aufeinanderwirken der beiden Parallelen. Es ist ein Zusammenhang, welcher durch eine rein phänomenologische, hypothesenfreie Methode, durch sachgemäße Verbindung der Ergebnisse von denkender Selbst- und Weltbeobachtung zum Bewußtsein kommt. Er wird so zum Inhalt wahrer Menschenerkenntnis.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 35]

Sieht man auf die Beziehung des Denkens zur leiblichen Organisation, so wird klar, daß es in dem Sinnes-Nervensystem seine Stütze findet und durch dessen Hilfe Vorstellungscharakter annimmt. Sinn und Nerv dienen der Wahrnehmung, welche die Gelegenheit für die Betätigung des Denkens bietet, so daß durch dieses der zur Wahrnehmung gehörige Gedanke im Bewußtsein zur Erscheinung kommen kann. Das Sinnes-Nervensystem erzeugt nicht den Gedanken; es wirkt nicht als dessen Ursache, so kompliziert es in seiner Struktur und Funktion auch sein mag. Dieses System bietet nur den Anlaß und das Mittel, daß das Denken eingreifen und die das jeweilige Wahrnehmungsobjekt gestaltende Idee im Bewußtseinsfelde zur Erscheinung bringen kann. Man kann auch sagen, daß dank dem Vorhandensein des Sinnes-Nervensystems die Ideen als gestaltende Kräfte und in der Wahrnehmungswelt wirkend sich ihres eigenen Wesens im Menschen bewußt werden können, wenn sie dort gegenwärtig auf das gleiche Wesen des Denkens treffen, aus dem sie in der Vergangenheit ursprünglich selbst hervorgegangen sind.

Die seelische Kraft des Fühlens stützt sich dem Leibe zu auf das rhythmische System, d. h. auf Atemrhythmus und Blutzirkulation. Es bezieht die Erlebnisse an der sinnlichen wie auch an der geistigen Welt auf das Ich und macht diesem die Ausbildung eines individuellen Verhältnisses zu beiden Welten möglich. Das Fühlen ist vom Sinnes-Nervensystem nicht abhängig, wie die einseitig orientierte offizielle Wissenschaft noch immer glaubt, sondern es steht in einem direkten Zusammenhang mit den leiblichen Prozessen durch das rhythmische System. Doch da dieses in seiner Eigenfunktion auch das Nervensystem durchdringt, kann in dessen Sphäre das Fühlen die Wahrnehmungs- und Gedankeninhalte berühren, an denen es sich entzündet. Nach der anderen Seite hin durchdringt das rhythmische System das Stoffwechsel- und Gliedmaßensystem, und so empfängt das Fühlen auch von dorther Anregungen. Daß das rhythmische System die Gefühle, deren Träger es ist, ebensowenig erzeugt wie das Nervensystem die Gedanken, kann daran erkannt werden, daß Gefühle und Emotionen den normalen Atem- und Blutrhythmus, ihrer Intensität entsprechend, beeinflussen,

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 36]

Was die seelische Kraft des Wollens anlangt, so ist es gleichfalls der verhängnisvolle Irrtum einer einseitig orientierten Wissenschaft, die Verursachung des Wollens in das Nervensystem zu verlegen und den sogenannten »motorischen« Nerven zuzuordnen. Diese unterscheiden sich im wesentlichen nicht von den »sensitiven« Nerven, weil sie ebenso wie diese ausschließlich der Wahrnehmung dienen. Der Unterschied liegt nur in den Gebieten, auf denen die beiden Nervenarten ihren Wahrnehmungsobjekten begegnen. Die Funktion der »sensitiven« Nerven hängt mit dem äußeren Wahrnehmungsfelde zusammen, diejenige der »motorischen« mit dem inneren, welches z. B. durch die Vorgänge des Stoffwechsels dargeboten wird. Beiden gemeinsam ist eben das Wahrnehmen. Und ebensowenig wie Denken und Fühlen durch Leibesvorgänge »erzeugt« werden, wird es das Wollen. Im Gegenteil, das Wollen selbst ist schöpferische Ursache der außerhalb des gewöhnlichen Bewußtseins vor sich gehenden Gestaltung des leiblichen Organismus innerhalb der Stoffwechseltätigkeit. Und auch das Wollen wirkt in verschiedenen Bewußtseinsgraden, je nachdem es sich mit dem Ich-bestimmten Fühlen oder Denken verbindet, über das Gliedmaßensystem, soweit der Stoffwechsel in diesem tätig ist. Deshalb stützt sich das Wollen dem Leibe zu auf diese beiden Teilsysteme, welche sich so als zusammengehörige Polaritäten eines der drei spezifischen Systeme erweisen. Auch die beiden anderen Hauptsysteme zeigen in Atemrhythmus und Blutzirkulation wie in Sinnesorganen und Nerven sowohl eine Außen- als auch eine Innenseite. Unter diesen Voraussetzungen konnte Rudolf Steiner in seinem Werke »Von Seelenrätseln« zu der fundamentalen Feststellung kommen:

»Der Leib als Ganzes, nicht bloß die in ihm eingeschlossene Nerventätigkeit, ist die physische Grundlage des Seelenlebens. Und wie das letztere für das gewöhnliche Bewußtsein sich umschreiben läßt durch Vorstellen, Fühlen und Wollen, so das leibliche Leben durch Nerventätigkeit, rhythmisches Geschehen und Stoffwechselvorgänge.«

Denken, Fühlen und Wollen sind Fähigkeiten des übersinnlichen Menschenwesens, des Ich, welches nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Nur die Wirkungen dieser drei Kräfte sind innerhalb des Räumlich-Zeitlichen der Wahrnehmung den Sinnen zugänglich. Doch indem diese Wir-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 37]

kungen durch ein wirklichkeitsgemäßes Denken in der rechten Weise aufeinander bezogen werden, wird das Ich in seiner dreigliedrigen geistigen Konstitution übersinnlich anschaubar. Der inneren Anschauung ergibt sich hier auch die wahre Geistnatur der dem Ich eignenden drei universellen Kräfte. Weltbeobachtung geht hier durch sich selbst in eine objektive Selbstbeobachtung über.

Auf dieser Stufe der Erkenntnis des Menschenwesens stellt sich eine weitere Frage ein: Hat das Ich, als der im Sinnenleibe lebende übersinnliche Mensch, die Möglichkeit, seine drei Grundkräfte, unter Aufrechterhaltung des vollen Bewußtseins, von ihrer Fesselung durch den Leib zu befreien und ihnen die Richtung auf die geistige Welt zu geben, aus welcher sie stammen?

Die Bejahung dieser Frage würde bedeuten, daß der Mensch innerhalb der geistigen Welt selbst, d. h. nicht nur im Bereiche ihrer äußeren Manifestation, ein Erkennender, seine Beziehungen zu anderen geistigen Wesen Regelnder und ein Handelnder sein könnte. Das Wesen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft muß darin gesehen werden, daß diese Frage rückhaltlos bejaht werden kann. Es ist das eigentliche Kernstück der anthroposophischen Methode, durch dem modernen Menschen angemessene Seelenübungen der Konzentration und Meditation Denken, Fühlen und Wollen von ihrer Leibesgrundlage unabhängig zu machen. Die durch den Leib gewährte mittelbare Verbindung des Menschen mit der geistigen Welt wird dann durch eine unmittelbare ersetzt. Dabei ist diese Methode so gestaltet, daß das durch das Leben im räumlich-zeitlich begrenzten Leibe erworbene Ich-Bewußtsein in die überräumliche und überzeitliche geistige Wirklichkeit mitgenommen und dort aufrechterhalten werden kann. Dadurch hat das Ich zur Erfüllung seiner Aufgaben in der Sinneswelt die Möglichkeit, mit der gleichen Freiheit, mit welcher es sich loslöst, stets wieder in seine Leiblichkeit unterzutauchen.

Der Ansatzpunkt für eine solche Schulung muß in der Sphäre des Denkens gefunden werden. Dieses ist dadurch mit der Leiblichkeit verbunden, daß es seit dem ig. Jahrhundert daran gewöhnt ist, sich nur auf die Wahrnehmungen der Sinne zu richten. Seine Aufmerksamkeit ist gleichsam durch die Sinneswahrnehmungen und die auf

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 38]

letztere bezüglichen Denkresultate (Begriffe und Ideen) gefesselt. Die Aufmerksamkeit kann sich aber von dieser Fessel befreien und ihre Richtung ändern, indem sie das Denken selbst ins Auge faßt. Dadurch wird ein Ausnahmezustand hergestellt. Das Denken betritt ein Gebiet, welches nicht von den Wirkungen des physischen Leibes bestimmt ist und die Ideen formende Kraft des Denkens lebendig im Bewußtsein auftreten läßt. Es ist dies die gleiche Kraft, welche in dem auf die physische Wahrnehmung bezogenen Begriff abgelähmt, gleichsam erstorben ist. Sie wird in dem geschilderten Vorgang zur Auferstehung gebracht.

Im Fortschreiten mit solchen Übungen wird das Verhältnis des Übenden zu den Ideen ein anderes. Er hört auf, die Idee als ein bloßes inneres Abbild oder als abstrakte Zusammenfassung äußerer Wahrnehmungen zu betrachten. Er rückt die Bildhaftigkeit einer Idee, am besten einer solchen, welche keine gewohnten äußeren Vorgänge abbildet, in sein Bewußtsein. Einen solchen Bewußtseinsinhalt, den er sich selbst gegeben hat, meditiert er in strenger Konzentration. Im Wiederholen dieses Vorganges wird der Übende auf den Punkt kommen, an dem er wahrnimmt, daß ein solches Ideenbild in seiner Seele ein eigenes Leben entfaltet. Die Bildhaftigkeit wird zur Offenbarung der im Bilde zum Ausdruck kommenden Bildekräfte. Diese werden als die gleichen Bildekräfte erkannt, welche den physischen Leib als einen Organismus gestalten und seine lebendige Form aufrechterhalten. Man schaut innerhalb eines rein geistigen Geschehens den im physischen Leib wirkenden Ätherleib, wie in der Anthroposophie der individuelle Zusammenhang der Bildekräfte genannt wird. Damit ist auf dem Wege zu einer höheren Erkenntnis die Stufe der Imagination erreicht. Sie hat ihr Wesen in dem Ergebnis der Loslösung des Denkens vom Sinnes-Nervensystem.

Für die Loslösung des Fühlens von seiner leiblichen Grundlage muß die Seele ihre Kräfte verstärken. Dazu dienen Übungen, welche den vorher erworbenen bildhaften Inhalt des Bewußtseins unterdrücken. Die Bilder werden aus dem Bewußtsein entfernt und die bei ihrem Zustandekommen mitschwingenden und durch ihr Erscheinen erregten Empfindungen zum Gegenstande der Meditation gemacht. Solche

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 39]

Übungen führen zu dem Ergebnis, daß das Fühlen von seiner leiblichen Grundlage unabhängig wird und die Welt der Empfindungen sich dem Bewußtsein als ein zusammenhängender, übersinnlicher Organismus offenbart. Dieser wirkt sich im ätherischen und physischen Leibe des Menschen als »Astralleib« aus, welcher von innen her die Richtung und die Art bestimmt, in welcher der Ätherleib die spezifischen leiblichen Organe im Physischen ausgestaltet. Der vom vollen Ich-Bewußtsein durchdrungene Astral-Organismus wird zum Vermittler der Wahrnehmung einer noch höheren Sphäre der geistigen Welt. Auf dem Erkenntniswege ist damit die Stufe der »Inspiration« erreicht.

Aber selbst diese höhere Wahrnehmung ist noch mit einem Nachklang der Wirkungen verbunden, welche das Dasein im Leibe auf die Seele ausübt. Um auch diesen Nachklang zu überwinden, muß die Seele die Sphäre des Fühlens verlassen können, damit sie diejenige des reinen Willens betreten kann. Dazu dienen andere Übungen, welche den Willen in einer Weise verstärken, daß sich das »Ich« einem vollkommenen »Nichts« gegenübergestellt sieht. Die Austilgung eines jeglichen Bewußtseinsinhaltes macht das Ich selbst zum Nichts als Vorbedingung für ein geistiges Erlebnis, durch welches sich dieses leere Bewußtsein mit rein geistigem Willensinhalt erfüllt. Der aus dem Nichts aufsteigende Geistesinhalt offenbart sich als die eigentliche wahre Grundlage des universellen Weltenseins auf dieser Stufe, der Stufe der »Intuition«, auf welcher das Menschen-Ich seine Wesensgleichheit mit dem Welten-Ich erlebt. In dem »Nichts« ist das »All« gefunden. Der Wille ist von seiner physischen Bindung an das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem befreit und offenbart die diesem System zugrunde liegende und dem gewöhnlichen Bewußtsein unerkennbare »Idee«, mit welcher er in Wirklichkeit vom Urbeginn an verbunden ist. Diese Idee ist nur die andere Seite seines eigenen Wesens. Es ist die Idee des Menschen, die der physischen Gestalt, welche ein äußeres Bild dieser Idee ist, zugrunde liegt. Als »Ich« erscheint die kosmische Idee des Menschen, sein ureigenes Wesen, in dem Bewußtsein, das er seiner Verkörperung in einem physischen Leibe verdankt. Ohne ein Wissen um die Tatsache, daß der Mensch ein kosmisches Wesen

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 40]

ist, welches eine Mission auf dem irdischen Planeten zu erfüllen hat, läßt sich keine wirklichkeitsgemäße Soziologie begründen.

Aus dieser gedrängten Darstellung des Weges zur Erlangung höherer Erkenntnisse darf nicht geschlossen werden, daß die für seine drei Stufen notwendige Steigerung der seelischen Energie im direkten Verhältnis zu der Stärke der Verbindung steht, in welcher die drei Seelenkräfte sich mit ihrer Leibesgrundlage normalerweise vor dem Beschreiten des Pfades befinden. Für eine solche Auffassung würde das Wollen am innigsten, das Fühlen in geringerer Stärke und das Denken am losesten mit der Leiblichkeit verbunden sein. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Das Wesen des Willens ist nur lose mit dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem verbunden und kann deshalb leicht durch das Denken seine Bewegungsrichtung auf die Außenwelt hin empfangen. Doch daß das Ich sich im Bereiche des leibbefreiten Willens selbst ergreift, erfordert höchste geistige Kraft. Demgegenüber ist das Denken vor dem Betreten des Erkenntnispfades beim Menschen unserer Zeit auf das Innigste an das Sinnes-Nervensystem gebunden. Da es dadurch am wirksamsten sein Ich-Bewußtsein entwickeln kann, so kann es sein eigenes Wesen zunächst am leichtesten auf der ersten Stufe der übersinnlichen Wahrnehmung in der hier in Betracht kommenden Form ergreifen. Das Fühlen nimmt eine mittlere Stellung ein. Es wirkt nicht nur innerhalb der Leiblichkeit vermittelnd zwischen Denken und Wollen, sondern als Inspiration auch zwischen Imagination und Intuition in der Unabhängigkeit vom Leibe.

Die beschriebene Metamorphose des Denkens, Fühlens und Wollens eröffnet der Geistesforschung einen Einblick in Weltgebiete, in denen durch imaginative Erkenntnis die übersinnlichen Kräfte anschaulich werden, welche u. a. im Gesamtlebenslauf der Menschen gestaltend wirken. Die Inspiration schließt dem Bewußtsein die Anschauung des unsterblichen Menschenwesens auf, während die Intuition den Menschen als ein Wesen erleben läßt, welches sich nicht nur während eines Lebenslaufes, sondern infolge seines Durchganges durch viele Erdenleben entwickelt. Wiederverkörperung und Schicksal (Karma) werden als geistig-seelische Fundamentalgesetze des Daseins und der Entwicklung des Menschen erkannt. Die Tatsache der rein-geistigen

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 41]

Lebensläufe als kosmischer Intervalle zwischen den irdischen eröffnet durch die sich aus ihr ergebenden Beziehungen des irdischen Daseins zum Dasein der noch Ungeborenen und schon Gestorbenen einen vollkommen neuen Aspekt für eine Soziologie im geisteswissenschaftlichen Sinne. Eine umfassende Erkenntnis des sozialen Organismus ist nur unter der Bedingung möglich, daß ihm im weiteren Sinne die Reiche der Ungeborenen und der Toten im Sinne des Wiederverkörperungsgesetzes hinzugerechnet werden. Ohne diese Zuordnung würde er für die Wissenschaft nur ein willkürlicher und höchst unvollkommener Ausschnitt aus der Wirklichkeit sein, den nur ein materialistisches Denken für das Ganze halten kann.

Hiermit haben wir nur einige Grundzüge der Menschenwesenheit im Sinne der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft bis zu einem gewissen Punkte weiter ausgestaltet. Dieser gegebene Umriß einer wahren Menschenkunde dürfte genügen, um ihn für den Ausbau einer wirklichkeitsgemäßen Soziologie anzuwenden. Durch die Einbeziehung der Gesetze der Wiederverkörperung und des Schicksals wird z. B. ein ganz neues Licht auf die menschliche Evolution als ein zeitliches Ganzes geworfen. Man erkennt, wie man bei der Betrachtung der Evolution nicht nur die Erscheinung von ihrem Wesen zu unterscheiden hat, sondern beides auch von den Bedingungen, unter welchen das Wesen zur Erscheinung kommt. Die Natur, zusammen mit der gewordenen Gesellschaftsform, stellt nur den Zusammenhang von ganz bestimmten Bedingungen dar, unter welchen sich ein Menschenwesen verkörpert und dadurch zur Erscheinung kommt. Auch seine ihm aus der irdischen Vererbungslinie keimhaft dargebotene Lebensgrundlage gehört in den Bereich dieser äußeren Bedingungen. In diesem Bereich gestaltet sich das Wesen des Menschen zunächst leiblich, um dann durch geistig-seelische Eigenentwicklung in Anpassung an die jeweilige Gesellschaftsform schließlich selbst die inneren Bedingungen darzubieten, unter denen der Geist im denkenden Bewußtsein erscheinen kann. Dort vermag er in Freiheit die Erkenntnisimpulse zu übermitteln, welche sich als Willensmotive durch menschliche Handlungen dem sozialen Organismus einweben. Dieser empfängt hierdurch seine wahren Lebenskräfte.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 42]

In dieser Weise verändert der Mensch nicht nur die Bedingungen für die Wiederverkörperung kommender Generationen, sondern zugleich auch für seine eigene Wiederverkörperung, denn er gehört selbst der Zukunft an, wie er der Vergangenheit angehört. Dazu kommt, daß während der Intervalle zwischen den irdischen Lebensläufen der Mensch im universellen Zusammenhang mit der geistigen Welt an der Umgestaltung der irdischen Bedingungen vom Kosmos her geistig mitarbeitet, in dem Maße, wie er durch seine vergangenen Lebensläufe sich hierfür vorbereitet hat. Der Mensch ist also nicht nur aktiv an seiner eigenen inneren Evolution beteiligt, sondern auch an derjenigen der äußeren Bedingungen, unter denen sie schicksalsmäßig vor sich gehen muß. Beide Evolutionen sind nur zwei verschiedene Aspekte eines Entwicklungsganges. Dazu gesellt sich ein dritter Gesichtspunkt. Dieser ist gegeben durch die sich wandelnde Art, wie das sich wandelnde Wesen des Menschen unter sich wandelnden Bedingungen erscheint. Ohne volle Berücksichtigung aller drei Aspekte läßt sich keine Soziologie betreiben. Die geschichtliche Vergangenheit der Gesellschaft würde unverständlich und die Zukunft dunkel bleiben. Aus der Gegenwart ließen sich keine sozialen Impulse hervorrufen. Diese Einsichten drängen auch nach einer soziologischen Erweiterung des bisher nur auf die Formen des organischen Lebens bezogenen biogenetischen Grundgesetzes. Dieses besagt, daß die Keimesgeschichte die Stammesgeschichte in zeitlich zusammengedrängter und typischer Metamorphose wiederholt. Es ist aber von größter Bedeutung, daß bemerkt wird, wie beim Menschen die embryologische Wiederholung früherer Daseinszustände nicht mit der Geburt ihren Abschluß findet. Während der Mensch vor der Geburt frühere Naturformen wiederholt, um sie hinter sich zu lassen, so wiederholt er nach der Geburt diejenigen früheren Bewußtseinsformen, durch welche vergangene Geschichtsepochen und Kulturen bestimmt wurden. So nimmt der Mensch die Ergebnisse früherer Verkörperungen in die Gegenwart hinein, um sie in individueller Weise umzugestalten und zu einer neuen Grundlage für die Zukunft zu machen. Die Isolierung durch biogenetische Ausbildung einer eigenen Leiblichkeit wird vervollkommnet durch die psychogenetische Individualisierung einer isolier-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 43]

ten Seelenhaftigkeit, innerhalb welcher der Geist die Bedingungen für seine Erscheinung als Ich finden kann. Es ist ja nicht die Natur des Geistes, sich zu verbergen, sondern sich dort zu offenbaren, wo ihm die Bedingungen dazu geboten werden: in der Natur für seine mittelbare, in der Menschenseele für seine unmittelbare Offenbarung. Dabei muß berücksichtigt werden, daß erst nach Ablauf der ersten Hälfte seines irdischen Lebens, im Alter von 35 Jahren, der Mensch die seelischen Formen früherer Verkörperungen bzw. Kulturformen durchlaufen hat und erst dann die seelischen Bedingungen für die voll-bewußte Gegenwart des Geistes im eigenen Wesen bieten kann wenn er nicht auf einer Embryonalstufe seines geistig-seelischen Lebens stehen geblieben ist. Das biogenetische Grundgesetz verwandelt sich im Bereiche der menschlichen Gesellschaft in ein psychogenetisches, um zu einem pneumagenetischen aufzusteigen. Aber die Pneumagenesis ist keinem Gesetz mehr unterworfen. Das Gesetz selbst erfaßt sich hier im Wesen der Freiheit. Ohne Kenntnis dieser dreifältigen Genesis des Menschen, der leiblichen, seelischen und geistigen, kann die Soziologie wenig mit dem Entwicklungsgedanken in seiner Anwendung auf die Menschheitsgeschichte anfangen.

Wir haben jetzt diejenigen Gedanken zusammengetragen und in ihrem inneren Zusammenhang aufgedeckt, welche es uns ermöglichen, die spezifischen Kräfte und Einrichtungen des sozialen Organismus zu behandeln sowie die von ihm geforderten neuen Lebensbedingungen zu schildern.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 44]

DRITTES KAPITEL

MENSCH UND GESELLSCHAFT

Jede Gesellschaftsordnung spiegelt in ihrer Struktur, ihren Funktionen und Institutionen die Anschauung wider, welche sich die in ihrem Bereiche lebenden Menschen vom Menschenwesen und seiner Beziehung zur WeIt bilden. Die von der Mehrheit der Mitglieder einer Gemeinschaft bejahte Weltanschauung, welche in ihren wesentlichen Zügen auch der Erziehung zugrunde liegt, prägt sich in der Lebensform dieser Gemeinschaft aus. Wird die Weltanschauung weitergebildet, oder vollkommen umgestaltet, so können die Impulse hierfür nur von einzelnen Individualitäten ausgehen, deren Intuitionen zunächst von einer Minderheit aufgenommen werden. Von dem Maß der Energie und der Art des Handelns, d. h. von der moralischen Phantasie jedes einzelnen dieser Minderheit hängt es ab, ob und wann eine weiterentwickelte oder umgestaltete Weltanschauung das Gemeingut der ganzen Gemeinschaft wird und deren Daseinsform ändert. Daß die einseitig auf die Sinneswahrnehmung orientierte Wissenschaft nicht in der Lage ist, eine Erkenntnis von Mensch und Welt, wie sie unsere Zeit fordert, zu entwickeln, ist gezeigt worden. Unsere Zeit krankt deshalb an dem Mangel einer Erkenntnis geistiger Zusammenhänge. Gerade aus dem Grunde, weil die in den letzten Jahrhunderten gewonnene Erkenntnis des materiellen Geschehens so umfassend geworden ist und sich mit beinah automatischer Sicherheit und wachsender Geschwindigkeit ausdehnt, braucht sie eine Ergänzung durch ein Wissen um die geistige Seite des Geschehens. Ein solches Wissen muß auf einer entsprechenden Weiterentwicklung der anerkannten wissenschaftlichen Methoden beruhen und daher die gleiche innere Sicherheit des Erkenntnisweges bieten. Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft hat solche Methoden entwickelt. Ihre Ergebnisse sind dieser Schrift zugrunde gelegt.

Eines der Hauptergebnisse der anthroposophischen Geistesforschung, das zugleich den besten Ausgangspunkt für die Darstellung ihrer

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 45]

Grundzüge darbietet, ist die Erkenntnis, daß der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist. Seine drei Wesensglieder stehen nicht in äußerer Beziehung zueinander wie drei Teile einer Maschine, welche nach Maßgabe eines jenseits ihres Mechanismus im Menschenkopfe ausgedachten Gedankens funktioniert. Die drei Wesensglieder des Menschen haben sich real aus seiner ureigenen Idee, dem Ich, entfaltet und stehen in einer organischen Verbindung zueinander. Durch die richtige Erkenntnis dieser Beziehung kann der Mensch sein Ich als Einheit auf einer höheren Bewußtseinsstufe wiederfinden.

In diesem Sinne besteht der Mensch aus Leib, Seele und Geist. Der Leib ist durch die Schöpferkraft des Geistes während der natürlichen Evolution in einer Weise gestaltet worden, daß dieser sich innerhalb der Leibesorganisation als seelisches Innenleben zu entfalten und in individueller Form innerhalb der Seele als Menschen-Ich unmittelbar zu erleben vermag. Der Leib mit seinen Sinnen ist Wahrnehmungsorgan für die äußeren Phänomene. An diesen entwickelt die Seele ihren individuellen Empfindungsinhalt und erkennt der Geist seine allgemeinen Ideen wieder, welche den Erscheinungen zugrunde liegen. In ihrer dadurch erworbenen Beziehung zu dem seelischen Empfindungsinhalt erwerben die allgemeinen Ideen selbst einen individuellen, menschlichen Charakter. Andererseits ist der Geist Tätigkeitsorgan. Intuitionen, welche unmittelbar in der Welt des Geistes erfaßt werden, gestalten sich in der Seele zu sittlichen Antrieben und werden durch den Leib dem Weltganzen als Taten einverwoben. So nimmt die Seele eine vermittelnde Stellung zwischen Geist und Leib ein. Sie wirkt nach zwei entgegengesetzten Richtungen und läßt von diesen Richtungen her auf sich einwirken.

Diese Ur-Dreigliederung des Menschen kommt in seiner Gesamtorganisation in verschiedenen Formen zum Ausdruck. Wir haben bereits geschildert, wie objektive Selbstbeobachtung in dem Bereich des Seelischen die drei Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens feststellen muß. Demgegenüber muß die auf die Außenwelt gerichtete Beobachtung in der leiblichen Organisation das Sinnes-Nervensystem vom Gliedmaßen-Stoffwechselsystem und diese beiden wiederum vom rhythmischen System (Atemtätigkeit und Blutzirkulation)

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 46]

unterscheiden. Das richtige Aufeinanderbeziehen dieser Ergebnisse von Selbst- und Weltbeobachtung führt zu der Erkenntnis der Art, wie die drei Seelenkräfte mit den drei physiologischen Systemen des Leibes in Verbindung stehen. Die durch die anthroposophische Schulung bewirkte Selbstentwicklung der Seele gibt ihren drei Kräften die Richtung auf die geistige Welt, aus welcher sie stammen; sie erwerben die Fähigkeit, zu bewußten, freien Vermittlern zwischen geistiger Welt und Sinneswelt zu werden, sei es für die Erkenntnis der Wahrheit, sei es für das Handeln im Sinne dieser Wahrheit und damit für die geistige Erneuerung des sozialen Lebens.

Ein anderer Aspekt der universellen Dreigliedrigkeit des Menschenwesens ergibt sich dadurch, daß man von den drei Kräften der Seele sowie von den drei physiologischen Funktionen des Leibes absieht und den Blick auf die Struktur der Seele und des Leibes richtet. Man wird dann finden, daß beide Strukturen und ihr Zusammenhang nur erklärlich werden, wenn die Sinnesforschung durch übersinnliche Forschungsresultate ihre Ergänzung erhält. Zu dem sinnlich-wahrnehmbaren physischen Leibe, welcher den Naturgesetzen der mineralischen Welt unterliegt, kommt der Ätherleib, als Träger des äußeren formativ-organischen Lebens, wie es auch in der Pflanzenwelt wirkt, hinzu. Ein weiteres Glied der menschlichen Leiblichkeit ist der Astralleib, der Träger des inneren Lebens, welches auf äußere Einflüsse seelisch reagiert und auch der Tierwelt zukommt. Man kann also von drei Strukturen sprechen, einer physisch-mineralischen, einer lebendig-bildenden und einer seelisch-empfindenden. Alle drei Strukturen bilden in ihrem Zusammenwirken die Gesamtstruktur des Leibes. Doch wäre diese unvollkommen, wenn das funktionelle Zusammenwirken der drei Strukturen nicht von der vom Leibe zu unterscheidenden Seele bestimmt wäre. Die Seele vermittelt die Wirksamkeit des Geistes als Ich. Sie kann so den Leib als Hülle, Bild und Spiegel des Ich bilden. Die Frage, bis zu welchem Grade und in welcher Art das Tagesbewußtsein der Seele an ihrer leibbildenden und erhaltenden Tätigkeit beteiligt ist oder sein kann, soll hier unerörtert bleiben. Diese Frage würde auch auf die andere nach der leibabbauenden Tätigkeit der Seele führen. Hierauf soll bei einer späteren Gelegenheit eingegangen werden.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 47]

Wir haben bereits gefunden, wie die Funktionen der Seele (Denken, Fühlen und Wollen) von dem Ich entscheidend beeinflußt werden. Dadurch bildet sich auch die Struktur der Seele in ihrem Zusammenwirken mit der Leiblichkeit aus. Der Leib wirkt gleichsam auf die Seele zurück, welche sich seine mannigfaltigen Rückwirkungen aktiv eingliedert. Die Seelenstruktur ist, ebenso wie die Struktur der Leiblichkeit, ein Ergebnis einer früheren Stufe der Gesamtentwicklung der Menschheit. Auf dieser früheren Stufe der geschichtlichen Evolution ist aus dem Zusammenwirken der Seele mit dem Astralleib die Empfindungsseele entstanden.

Die Empfindungsseele hat ihr Wesen darin, daß die von außen, auf dem Wege über die Sinnesorgane, vermittelten Empfindungen von ihr auf die, nur im Innern erlebbare, keimhafte Empfindung des Ich bezogen werden. Der Geist kommt so in der Seele im Zusammenwirken mit dem Leibe, sofern dessen astralisches Glied mit Hilfe von Äther- und physischem Leib den Sinneseindrücken der Außenwelt ausgesetzt ist, auf dieser Stufe als Ich-Empfindung zum Bewußtsein. Die Seele erlebt dadurch keimhaft ihren geistigen Mittelpunkt und beginnt, sich in ihrem Bewußtsein sowohl von der sinnlichen Außenwelt als auch von der übersinnlichen Geisteswelt zu unterscheiden. Das Subjekt-Objekt-Erlebnis bereitet sich vor.

Eine spätere Stufe der seelischen Entwicklung wird durch ein enger gewordenes Zusammenwirken der Seele mit dem Ätherleib erreicht. Die Bildekräfte des letzteren kommen in Gedankenform und in ihrer universellen Beziehung zur Natur zum Bewußtsein. Die Ideen werden als schaffende Wesenheiten der Natur wahrgenommen. Das Ich erlebt sich zwar noch nicht als Schöpfer, doch schon als Empfänger von Gedanken und dadurch auf einer höheren Stufe des Ich-Bewußtseins. Das Subjekt-Objekt-Erlebnis ist stärker betont. Der im Zusammenhange mit dem Ich empfundene Gedankeninhalt ruft eine zweite Seelenstruktur hervor, welche die Anthroposophie als Verstandes- oder Gemütsseele bezeichnet.

Eine dritte Form des seelischen Lebens gestaltet sich durch seine im Laufe der weiteren Entwicklung erreichte enge Verbindung mit dem physischen Leibe. Der geistige Mittelpunkt des Menschen, das Ich,

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 48]

wird dadurch, daß sich die Seele immer rückhaltloser an die sinnlich-wahrnehmbare Außenwelt hingibt, auf das innigste mit dem physischen Leibe verbunden. An den Grenzen seiner Physis erwacht das Ich zum vollen Bewußtsein seiner Existenz und erfaßt diese, wenn es die im Bereiche der Verstandesseele entwickelte Gedankenkraft auf sich selbst richtet. Aber die Seele nimmt dabei auch wahr, daß sie ihre eigene Idee nicht bloß empfängt, sondern diese selbst aus dem Unbewußten tätig ins Bewußtsein ruft. Der in der Empfindungsseele lebende und in der Verstandesseele sich entfaltende Keim kommt auf der Stufe der Bewußtseinsseele zur Blüte. Dadurch nimmt die Gedankenwelt der Seele einen anderen Charakter an, weil sich die Empfindung des tätigen Hervorbringens dem gesamten Denkinhalt mitteilt und ihn in den Zusammenhang mit dem Ich stellt. Das Ich wird zum tätigen Quell und Mittelpunkt der Gedankenwelt und umfaßt zugleich diese mit seinem Bewußtsein. Auf diese Weise kommt die Bewußtseinsseele als dritte Seelenstruktur herauf. Sie ist das Ergebnis des Zusammenwirkens der drei seelischen Grundkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens, nicht nur untereinander, sondern auch mit den drei beschriebenen Formen der Leiblichkeit.

Vom Aspekt der Menschheit aus gesehen, sind Empfindungs-, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele Ergebnisse der geschichtlichen Evolution im Sinne des psycho-genetischen Grundgesetzes. Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft schildert diese Evolution, indem sie die Entfaltung der drei Seelenglieder als Geistimpulse von Kulturepochen darstellt. So z. B. ordnet sie die Verstandes- oder Gemütsseele der griechisch-römischen Epoche zu, die Empfindungsseele der ägyptisch-babylonisch-chaldäisdhen, während unsere Zeit seit dem is. Jahrhundert durch die Entfaltung der Bewußtseinsseele gekennzeichnet ist. In dieser Tatsache hat das Emporkommen der Wissenschaft, diese im modernen Sinne verstanden, seine innere, entwicklungsgeschichtliche Ursache.

Auf allen Gebieten des Lebens ist seit Ausgang des Mittelalters das Bestreben wahrnehmbar, das Unbekannte und Verborgene der Außenwelt sowie das Unbewußte und Instinktive der Innenwelt mit dem Denken zu erfassen, die Gesetze beider Welten zu erkennen, zum

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 49]

Inhalte des Bewußtseins und dadurch zur Grundlage der Wissenschaft zu machen. Doch ist dieses Denken in zwei Fundamental-Irrtümer verfallen, welche in dem vollkommen gewordenen, aber mißverstandenen Subjekt-Objekt-Erlebnis ihre Ursache haben. Der eine Irrtum besteht darin, daß das Denken nur denjenigen Vorstellungsinhalt, welchen es im Zusammenhang mit der sinnlich-wahrnehmbaren Außenwelt entwickelt, als wahr anerkennt. Der andere Irrtum des Denkens ist, daß es seine eigene Tätigkeit als durch ein kompliziertes Zusammenspiel berechenbarer materieller Stoffe und Kräfte verursacht denkt. Daß neuere wissenschaftliche Hypothesen den alten Materiebegriff fallen gelassen haben, hat die materialistische Denkweise nicht geändert und noch weniger die von dieser bestimmten Lebensgewohnheiten. Es ist aber gerade im Wesen der Bewußtseinsseele begründet, daß diese beiden Irrtümer, welche die gegenwärtige Mißgestalt des sozialen Organismus so entscheidend mitverursacht haben, überwunden werden. Wissenschaft gründet sich nicht nur auf die Erkenntnis von Wahrheiten, sondern auch auf die Überwindung liebgewordener Irrtümer, welche die Wahrheit verhindern, praktisch in das Leben einzugreifen und es umzugestalten.

Innerhalb des Bereiches der Selbstbeobachtung kann, wie gezeigt, das Denken sein eigenes Wesen als ein universell-geistiges erkennen und das an der Wahrnehmung der Außenwelt entwickelte Ich-Bewußtsein in höhere Daseinsgebiete hineintragen. Die Bewußtseinsseele gewinnt dadurch einen rein-geistigen Inhalt, in dessen Licht auch die Sinneswelt ihr wahres Wesen offenbart.

Auch der geistige Inhalt wird als ein dreigliedriger anschaulich, wenn auf seinem weiteren Entwicklungswege in der Richtung auf eine höhere Erkenntnis der Mensch diesen Inhalt mit wachsender Intensität und Klarheit erleben lernt. Durch das leibfreie, verwandelte Denken erlebt er den Gedanken als imaginative Ausdrucksform eines geistigen Wesens, des »Geistselbstes«. Das zur Inspiration erhobene Fühlen nimmt das wesenhafte Leben, welches zwischen den Gedanken waltet, und aus welchem heraus diese gestaltet werden, wahr. Hier wirkt der »Lebensgeist«, der Logos, von dem die Logik nur der kraftlose Schatten im Felde des gewöhnlichen Bewußtseins ist. Und auf einer dritten

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 50]

Stufe der übersinnlichen Wahrnehmung erscheint ein Wesenhaftes, welches im intuitiven Bewußtsein das Ganze der imaginativen Gedankenformen in ihren inspirativen Beziehungen erfaßt und in der anthroposophischen Terminologie »Geistesmensch« genannt wird. So ist der Mensch auch in bezug auf seinen Geist ein dreigliedriges Wesen, doch sind diese drei höheren – geistigen – Glieder gegenwärtig nur keimhaft veranlagt und stellen Ziele der Entwicklung dar, welche nach ihrer Verwirklichung im einzelnen Menschen erst in Zukunft die allgemeine Form der Kultur bestimmen werden.

Unsere gegenwärtige Kulturepoche hat es mit der Notwendigkeit zu tun, der wissenschaftlichen Betätigung der Bewußtseinsseele die Richtung auf eine Erkenntnis der geistigen Zusammenhänge zu geben. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der Mensch des Zeitalters der Bewußtseinsseele seine weitere Entwicklung nicht mehr dem Strom der Zeit passiv überlassen darf. Er muß diese Entwicklung aus vollem Bewußtsein heraus aktiv selbst bewirken. Wie andere neuzeitliche Wissensgebiete ist auch die Soziologie im 59. Jahrhundert aus dem Bestreben heraus entstanden, die unbewußt und instinktiv wirkenden Kräfte der fragwürdig gewordenen menschlichen Gesellschaft an einem Zweige der Wissenschaft für das Bewußtsein erkennbar zu machen. Mit was für einem negativen Erfolge die Soziologie infolge ihrer in einseitiger Art den naturwissenschaftlichen nachgebildeten und daher unzulänglichen Methoden bisher aufwarten konnte, ist bereits erwähnt worden.

Die von uns auf Grund geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse gegebene Darstellung des Menschenwesens drängt zu der Frage: »Muß nicht mit Notwendigkeit der gegenwärtige soziale Organismus als Ganzes irgendwie die geschilderten wahren Wesenszüge des Menschen widerspiegeln, selbst wenn der Mensch im Irrtum über sein eigenes Wesen und dasjenige der Welt befangen ist?« Durch die Verwirklichung des Irrtums kann der soziale Organismus geschädigt und schließlich zerstört werden. Aber solange dieser überhaupt existiert, muß er, außer den Wirkungen des Irrtums, noch Züge des wahren Menschenwesens aufweisen. Selbst in der Grimasse sind ja noch die ursprünglichen Züge des Menschenantlitzes trotz der Verzerrung

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 51]

erkennbar. Nach dem Vorangegangenen können dies nur Wesenszüge sein, welche Zeugnis dafür ablegen, daß auch dem sozialen Organismus eine dreigliedrige Struktur zugrunde liegt.

Der Mensch würde nicht lebensfähig sein, wenn seine gesellschaftliche Daseinsform nicht seinem dreigliedrigen Wesen wenigstens bis zu einem gewissen Grade entsprechen würde. Und eine Gesellschaft würde ihre Daseinsgrundlage verlieren, wenn in ihrem Umkreis der Einzelmensch nicht in genügendem Maße drei Grundinteressen, welche aus seiner eigenen dreigliedrigen Beschaffenheit erwachsen, betätigen könnte. Erst wenn wir auf diese voneinander vollkommen verschiedenen Grundinteressen sehen, können wir wahrnehmen, wie die Gesellschaft durch die Form ihrer Organisation auf die Forderung der Interessen antwortet, um sie zu befriedigen.

Infolge seiner Verkörperung in einem Leibe erwächst im Menschen der Wille, diesen Leib zu erhalten. (Der Fortpflanzungstrieb ist nur eine Abart des Selbsterhaltungstriebes, da er auf die Erhaltung der eigenen Form durch die Nachkommen zielt. Der Selbsterhaltungstrieb der Spezies wirkt hier über den Tod des Individuums hinaus.) Der Wille tritt hier mit der Kraft eines natürlichen Instinktes auf, welcher auf Befriedigung des Bedürfnisses nach Nahrung, Bekleidung und Behausung zielt. Doch ist die Art, wie der Mensch es befriedigt, nicht mit derjenigen zu vergleichen, welche im Tierreich beobachtbar ist. Die gesellschaftsbildenden Tierarten machen hiervon keine Ausnahme. Der Mensch stellt seine bewußten, Ich-bestimmten Geisteskräfte in den Dienst der Befriedigung seiner wirtschaftlichen Bedürfnisse. Er wandelt die Naturstoffe und -kräfte auf Grund seiner Naturerkenntnis, selbst erworbener oder überlieferter Erfahrung in einer Weise um, daß sie für ihn konsumfähig werden. Im Verlaufe seiner Entwicklung hat der Mensch in Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen eine Arbeitsteilung durchgeführt, welche als gemeinsame Produktion die Grundlage für eine Verteilung von Erzeugnissen bietet, die den gemeinsamen Bedarf decken soll. Aus dem Zusammenwirken der wirtschaftlichen Interessen der Einzelnen ist ein Wirtschaftsleben des Ganzen entstanden. Das Wirtschaftsleben in seiner Organisation und Funktion stellt ein Wesensglied des sozialen Organismus dar. Es muß von

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 52]

zwei anderen Wesensgliedern unterschieden werden, welche in vollkommen andersartigen Interessen urständen.

Außer seinem Interesse an der Erhaltung seines irdischen Leibes wirkt im Menschen ein Streben, welches unmittelbar aus seinem Geiste entspringt. Er empfindet seine Geistigkeit als ein Ewiges, das er deswegen nicht in einem bestimmten Zeitraum zu erhalten braucht, das er aber entwickeln will. Der Mensch strebt nach Erkenntnis, um im Bewußtsein die wahren Zusammenhänge der Erscheinungen und seine eigene Stellung im Weltganzen zu erleben. Aus solchen Erkenntnis-Erlebnissen entwickelt er seine Religion und veranschaulicht diese durch die Kunst (auch der Kultus ist künstlerische Darstellung), indem er das Sinnlich-Wahrnehmbare in einer Weise gestaltet, daß es als ein in das Reich des Übersinnlichen Emporgehobenes erscheint. Wir haben es hier mit dem kulturellen Interesse zu tun. Durch Wissenschaft, Kunst und Religion gestaltet der Mensch im Verein mit seinen Nebenmenschen ein anderes Glied des sozialen Organismus aus, das Kulturleben.

Eine dritte Art von Interessen ist vorhanden. Sie urständet im eigentlichen Seelischen. Sie wird von dem Bestreben impulsiert, mit anderen Menschen eine Gemeinschaft zu bilden, innerhalb welcher jeder einen seinem Gefühle der Menschenwürde entsprechenden Platz finden kann. Der Mensch als Seelenwesen entwickelt das Interesse, seine Beziehungen zu anderen Menschen, d. h. seine Rechte und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft durch eine der jeweiligen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsstufe des Ganzen dienende Rechtsordnung geregelt zu sehen. Das Rechtsleben, das sich organisatorisch im Staate ausdrückt, ist das dritte Glied des sozialen Organismus. Durch dieses übt der Geist seine eigentliche gesellschaftsbildende Tätigkeit in den rein-menschlichen Beziehungen aus.

Man muß also unterscheiden: die gesellschafts-impulsierende Tätigkeit des Geistes durch die Kultur, die gesellschaftsbildende durch das Recht, und die gesellschaftserhaltende durch die Wirtschaft.

In dem harmonischen Zusammenwirken von Kultur, Recht und Wirtschaft hat der soziale Organismus sein Leben und seine Gesundheit. Er erkrankt, sobald dieses richtige Verhältnis der drei Glieder gestört

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 53]

wird. Durch den sozialen Organismus bildet der im kulturellen Bereich sich offenbarende Menschengeist seinen universellen Leib, in dem er seelisch lebt und für welchen er in der Wirtschaftsbesorgung die irdischen Lebens- und Schaffensbedingungen aufrechterhält. So wie der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist, formt sich auch der soziale Organismus als ein solches. Außer den beschriebenen drei Gliedern wird man keine anderen finden können. Die Erkenntnis von der Dreigliederung des sozialen Organismus muß die Grundlage einer wirklichkeitsgemäßen Soziologie bilden, oder es wird keine Sozialwissenschaft geben, welche einen gesellschaftsbildenden Wert hat und das gesammelte Tatsachenmaterial in der rechten Weise für das Bewußtsein ordnen kann.

Auch in diesem Falle muß auf den methodischen Gesichtspunkt gesehen werden, von dem aus Ergebnisse der Selbstbeobachtung (Wahrnehmung der drei Grundinteressen) in einen sachgemäßen Zusammenhang mit der Weltbeobachtung (Wahrnehmung der Existenz der drei verschiedenen Organsysteme des sozialen Organismus) gebracht worden sind.

Blickt man unter dem Gesichtspunkt der geschichtlichen Entwicklung auf den sozialen Organismus, so zeigt sich, daß sich die drei verschiedenen Grundinteressen nicht immer in gleichmäßiger Stärke im Verhältnis zueinander betätigt haben. Seit dem 15. Jahrhundert, d. h. seit Beginn der Entfaltung der Bewußtseinsseele, sind die wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund getreten. Sie haben die Wissenschaft in der Form der »angewandten Wissenschaft« zu ihrer Dienerin gemacht und auch die Entwicklung des Rechtes von sich abhängig sein lassen. Geistesleben und Rechtsordnung können sich deshalb nicht aus ihren eigenen Bedingungen heraus entfalten. Andererseits ist durch die Arbeitsteilung der Einzelmensch in wirtschaftlicher Beziehung vollkommen von der Gesamtarbeitsleistung abhängig geworden. Sein eigenes Arbeitserzeugnis hat für ihn selbst keinen unmittelbaren Wert, sondern nur für andere. Der Weg des Rohstoffes bis zum konsumfähigen Produkt ist ein sehr langer geworden. Aber in geistiger Beziehung hat der Einzelmensch ein hohes Maß von Freiheit erworben; er ist grundsätzlich geistig unabhängig, wenn er sich auf das wahre

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 54]

Wesen seines Ich besinnt. (Daß die individuelle Freiheit infolge ihrer äußeren Unterdrückung, bewirkt durch ein mißleitetes Denken und Handeln, für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse so unwirksam geworden ist, spricht nicht gegen, sondern für die Tatsache des inneren Vorhandenseins der Freiheit.)

In früheren Zeiten war das anders. Je weiter man mit der Rückschau in die Vergangenheit zurückgeht, um so mehr wird man finden, daß das geistige Interesse stärker war als das Rechts- und Wirtschaftsinteresse. Den beiden letzteren wurde durch die Befriedigung der geistigen Interessen die Richtung ihres Wirkens gegeben. Dabei empfand sich der Mensch in mehr oder weniger geistig unselbständiger Art als Glied einer Blutsgemeinschaft, welche zugleich eine Geistgemeinschaft im Rahmen der Inspirationssphäre einer Stammes- oder Volksreligion darstellte. Das unentwickelte Ich-Bewußtsein war noch in den Schoß eines Kollektiv-Bewußtseins eingebettet. Man hat es hier mit einem entwicklungsbedingten Kollektivismus zu tun, welcher geschichtlich notwendigerweise den späteren Individualismus vorbereitete. Das Recht wurde noch begründet und verwaltet durch eine Macht, welche auf einer lebendigen Führertradition beruhte (Königtum, Priestertum und Adel in Verbindung mit Ahnenkult u. dgl.). Aber dieses war eine Macht, welche aus einer zeitgemäßen geistigen Quelle ihre Impulse und ihre Sanktion empfing. Ein solches geistig-orientiertes Kultur- und Rechtsleben durchdrang auch das Wirtschaftsleben, mochte dieses von noch so primitiver Art sein. Das Kulturleben hielt durch die von ihm inspirierte Rechtsordnung die wirtschaftlichen Interessen innerhalb allgemein anerkannter sittlicher Grenzen. Eine solche Wirtschaft beruhte vorzugsweise auf Selbstversorgung in engster Verbindung mit der Natur (Landwirtschaft, Jagd, Fischfang), so daß der einzelne wirtschaftende Mensch praktisch unabhängig war. Auch dort, wo die Verteilung der Erzeugnisse nach Maß und Art durch die traditionelle Gemeinschaftsform bestimmt wurde, war der Mensch in wirtschaftlicher Hinsicht vom Ganzen unabhängiger als der Mensch der Gegenwart. Seine »soziale Sicherheit« war ungleich größer.

Der Weg des Erzeugnisses von der Produktion zur Konsumtion war in den Zeiten der vorherrschenden Selbstversorgung ein sehr kurzer.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 55]

Es war der Weg von der Hand in den Mund. Dieser kurze Weg ist durch eine weltweite Warenzirkulation ersetzt worden, innerhalb welcher der Produzent kaum noch mit dem Konsumenten in Berührung kommt.

Man muß sehen, wie sich das Verhältnis der drei Grundinteressen zueinander und wie sich die Stärke ihrer Wirkung auf den gesamten sozialen Organismus grundlegend geändert hat. Daß das Geistesleben in früheren Zeiten inspirierend auf die Rechtsordnung und sittlich regulierend auf das Wirtschaftsleben wirkte, machte die Blüte und Einheitlichkeit der alten Kulturen möglich. In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, daß mit dem Römertum das Interesse an der Entwicklung der Rechtsordnung und der ihr dienenden Institution des Staates sich in einer Weise verstärkt hat, daß die rein-kulturellen und wirtschaftlichen Interessen in den Hintergrund traten und von dem Impuls des Ausbaues der staatlichen Organisation beherrscht wurden. Daß aber in neuerer Zeit die wirtschaftlichen Interessen das Recht bestimmen und das Geistesleben in ihren Dienst zwingen, entzieht dem sozialen Organismus seine eigentlichen kulturellen und rechtlichen Lebensgrundlagen. Die Einsicht muß sich Bahn brechen, daß der Mensch in Beziehung auf sein wahres Wesen seine schwach gewordenen geistig-kulturellen Interessen verstärken muß. Das wird ihn auch zur Erkenntnis des Wesens des sozialen Organismus führen und Wege finden lassen, auf denen Kulturleben, Rechtsordnung und Wirtschaft entsprechend der eigenen Natur dieser Lebensgebiete zeitgemäß entwickelt werden können. Nur so können sie im gegenseitigen Ausgleich ihrer verschiedenen Interessen zusammen die erneuerte Grundlage des sozialen Organismus der Gegenwart und der Zukunft bilden. Die durch die Geschichte veranlagte Dreigliederung der Gesellschaft kann nur dann praktisch als notwendige Sozialform verwirklicht werden, wenn sie in unserem Zeitalter der Bewußtseinsseele von einer genügenden Anzahl von Menschen als individuelle Aufgabe ergriffen wird. Die Idee der Dreigliederung muß durch das Denken als Intuition erfaßt und zum Motiv des Handelns werden. Sie kann eine soziale Tatsache nur von dem Platze aus werden, an den sich der einzelne durch sein Schicksal gestellt sieht.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 56]

Der Mensch hat seine Beziehung zur Gesellschaft im Laufe seiner Geschichte grundlegend geändert. Er brauchte die Gemeinschaft und das Erleben des durch sie wirkenden Geistes, um sein Ich-Bewußtsein im Mutterschoße des Kollektivbewußtseins keimhaft zu entwickeln. Heute braucht die Gemeinschaft die selbstbewußte Individualität, welche in sich den gemeinschaftsbildenden Geist erkennt und ihn der sozialen Umwelt in individueller Form vermittelt. Das Wesen der Gesellschaft ist heute im Menschen zu suchen. In früheren Zeiten mußte der Mensch sich selbst in der Gesellschaft finden, welche ihm durch ihre Kulturform die Wirklichkeit des Geistes gewährleistete. Aus der engen Verbundenheit mit einer Gruppe mußte sich der Mensch im Laufe der Geschichte geistig herauslösen, wie er sich auch von der Natur isolierte. Es erwuchs das Problem des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft. Dieser Gegensatz kann nicht dadurch überwunden werden, daß, unter Anwendung technischer Mittel, eine Gesellschaft in mechanistischer Weise konstruiert wird, welche sich das Individuum zwangsmäßig als willenloses Werkzeug eines nicht mehr zeitgemäßen, kollektivistischen Geistes eingliedert. Die Kräfte der Überbrückung des Gegensatzes müssen aus der exakt-moralischen Phantasie der freien Individualität hervorgehen. Die Individualität wird dadurch zum bewußten Vermittler des wahren gesellschaftsbildenden Zeitgeistes. Ihr lebendiges Beispiel muß erkennen lassen, daß die Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft in dem Augenblick anders aussieht, in dem der Mensch seine tatsächlichen Grundbeziehungen zum Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben ins Auge faßt. Damit würde die Überbrückung der Kluft ihren Anfang nehmen.

Durch die Erkenntnis der Art, wie sich im Verlaufe der Geschichte das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gestaltet hat und in der gegenseitigen Beziehung der drei sozialen Sphären zum Ausdruck kam, fällt ein neues Licht auf das Nebeneinanderexistieren von sozialen Organismen verschiedenen Entwicklungsgrades. Der soziale Raum der Menschheit umschließt Rassen, Völker und Nationen, welche in Aufrechterhaltung ihrer Traditionen auf verschiedenen Stufen der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 57]

stehengeblieben sind. Man kann es das Verhältnis des Individualismus zum echten Kollektivismus nennen. Aus dem Individualismus der abendländischen, fortgeschrittenen Völker ist im Zeichen der Bewußtseinsseele die moderne Naturwissenschaft und Technik hervorgegangen, die Demokratie und die industrialisierte Wirtschaft. Auf den von der Wirtschaft gebahnten Wegen haben sich die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, ihre Methoden und die parlamentarische Rechtsordnung über die Welt verbreitet. Dadurch sind westliche Lebensgewohnheiten auch von solchen Völkern angenommen worden, deren angestammte kulturelle Tradition und Rechtsordnung diesen Lebensgewohnheiten widersprechen. Man lebt dort noch in einer kollektivistischen Geistigkeit und muß die Ergebnisse einer individualistischen als fremde oder gar feindliche Elemente empfinden. Oder man eignet sich diese Ergebnisse zum Zwecke der Befreiung von politischer und wirtschaftlicher Unterdrückung in äußerlicher Weise an. Das wird man solange tun, als sich der westliche Individualismus nicht in einer veredelten Form zeigt. Erreichbar ist diese nur durch eine Überwindung des Egoismus, welcher jetzt noch als treibender Impuls des westlichen Wirtschaftslebens und der von ihm beeinflußten Politik wirkt.

Wenn der Westmensch auf dem angedeuteten anthroposophischen Wege seine Individualität auf die Höhe des Menschheitsgeistes erhebt, von welchem die zeitgemäßen gesellschaftsbildenden Kräfte ausgehen, so wird der Ostmensch hierin die Metamorphose seiner kollektivistischen Geistigkeit sehen, aus welcher einst seine heilige Tradition hervorgewachsen ist. Eine innere Verständigungsmöglichkeit zwischen Ost und West wird gegeben sein. Der Osten wird nicht mehr dem Irrtum verfallen, in einem geistlosen, intellektualistischen Kollektivismus etwas zu sehen, das dem östlichen Wesen entspricht und allein geeignet ist, ihn mit der weltumspannenden modernen Wirtschaft und Technik zu versöhnen. Wie der Soziologe im Lichte der Dreigliederungsidee auch für das entscheidende West-Ostproblem Wege zu dessen Lösung sehen kann, wird sich im Verlaufe unserer weiteren Ausführungen zeigen. Doch muß hier schon betont werden, daß es sich bei unserem Vergleich von Ost mit West nicht um ein einseitiges

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 58]

Werturteil über die Höhe der verglichenen Kulturen handelt, sondern nur um den Hinweis auf eine durch die Weltverhältnisse gegebene Veranschaulichung des Gegenüberstehens diametral entgegengesetzter Sozialformen. Diese zeigen das Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft auf verschiedenen Stufen der Entwicklung des Ich-Bewußtseins. Sie veranschaulichen die Art, wie die Vergangenheit zur Gegenwart in Beziehung steht, und fordern zur Erkenntnis dessen auf, was die Zukunft verlangt.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 59]

VIERTES KAPITEL

MENSCH UND WIRTSCHAFT

Die Kräfte, welche im sozialen Organismus wirken, finden sich auch im menschlichen. Deshalb zeigen beide Organismen gleiche Grundzüge. Beide sind dreigliedrig, doch unterscheiden sie sich wesentlich voneinander durch Ausgangspunkt, Willensrichtung und Ergebnis der gestaltenden Kräfte.

Die universellen Kräfte, welche den leiblichen Organismus des Menschen hervorbringen, beginnen mit der Bearbeitung der physischen Substanz im Augenblicke der Konzeption, wirken am kraftvollsten während der Embryonalentwicklung und setzen ihr Werk auch nach der Geburt fort, bis sie, nach Ausarbeitung der leiblichen, auch die seelische Organisation ausgestaltet haben. Bis dahin wirken sie zunächst vollkommen unbewußt für den Menschen, dann über seine niederen Bewußtseinsstufen des Wollens und Fühlens, um schließlich die seelische Organisation in Verbindung mit der leiblichen auf einen Punkt zu bringen, an welchem sie in Gedankenform im Innern erscheinen. Der auf diese Weise vom äußeren, kosmischen Umkreis in der Richtung auf einen irdischen Mittelpunkt den menschlichen Organismus gestaltende Geist erfaßt an diesem Punkte sich selbst in Ideenform, als Menschen-Ich. Die kosmischen Kräfte in ihrem Zusammenspiel mit den entgegenwirkenden irdischen gestalten von außen nach innen. Das Ergebnis ist der menschliche Organismus. Die Gestaltungskräfte des sozialen Organismus dagegen gehen vom Ich des Menschen aus. Sie wirken vom Mittelpunkt in den Umkreis. Durch den Zusammenklang der von den Einzelmenschen hervorgebrachten Ergebnisse ihres Denkens, Fühlens und Wollens bildet sich der Organismus der menschlichen Gesellschaft und wird in die Richtung seiner Entwicklung gebracht. Dieser Zusammenhang ist ein dem Karmagesetz, dem Gesetz des vom Menschen selbstgeschaffenen Schicksals, entsprechender, weil er aus menschlichen Taten, ihren Folgen und Nachwirkungen gewoben ist und die Grundlage für spätere Wieder-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 60]

verkörperungen der »Weber« in Verbindung mit der Naturgrundlage bietet. Man kann deshalb von einem in der Zeit wiederholten Durchgang des überzeitlichen kosmischen Menschengeistes durch irdische Verhältnisse auf dem Wege über den individuellen Erdenmenschen sprechen. Dieser erwacht dadurch im Laufe seiner Entwicklung zum Ich-Bewußtsein, welches er in die universelle Welt des Geistes hineintragen kann, und von dem aus er die Kräfte des Geistes dem sozialen Organismus als dessen Lebensimpulse zu vermitteln vermag.

So stellt sich der soziale Organismus der geisteswissenschaftlichen Betrachtung als ein neuer, allgemeiner Leib dar, durch dessen geschichtliche Weiterentwicklung das Ich zu einem neuen und verwandelten universellen Dasein im irdischen Bereich kommt. Dieses Dasein steht in einer eigenen Beziehung zur irdischen Natur und zur Geisteswelt. Beide erscheinen in ihm in einer neuen Form, welche den Keim eines neuen Kosmos bildet. Der soziale Organismus in seiner Eigenschaft als Leib eines neuen, keimenden Kosmos – die Metamorphose des alten Makrokosmos – ist noch unvollkommen. Ihn demjenigen Vollkommenheitsgrade zuzuführen, welchen in der geschichtlichen Dreigliederung seines physiologischen und Strukturzusammenhanges der Leib des individuellen Menschen aufweist, muß die soziale Aufgabe der Zukunft sein. Im Zeitalter der Bewußtseinsseele muß diese Aufgabe, auf deren Innewerden die Vergangenheit vorbereitete, mit vollem Ich-Bewußtsein in Angriff genommen werden. Der Individualität ist nicht nur ihre eigene, sondern auch die Entwicklung der Menschheit als Ganzes von jetzt in die Hand gegeben. Dies ist die Bedeutung unserer Zeit in der Kette der Kulturepochen.

Aus all diesem darf nicht geschlossen werden, daß das Bild des Zusammenwirkens des rhythmischen Systems mit dem Sinnes-Nervensystem und dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem im Sinne einer Analogie oder eines Vorbildes für die Erkenntnis und das Hervorbringen eines dreigliedrigen sozialen Organismus dienen soll. Ein solches Verfahren würde nur zu einer unsachgemäßen Analogiespielerei führen, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts durch jene Soziologen, welche sich »Organizisten« nannten, betrieben wurde. Diese glaubten auf dem rechten Wege zu einer Sozialerkenntnis zu sein, wenn sie die Funk-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 61]

tionen bestimmter menschlicher Organe (Gehirn und Nerven, Herz und Blutkreislauf, Magen usw.) mit Waren und Geldzirkulation, Konsumtion usw. äußerlich verglichen. Umgekehrt, jedoch nach dem gleichen Prinzip, verfährt eine materialistische Biologie und Physiologie, indem sie organische Prozesse durch Bilder veranschaulicht, welche den äußeren Vorgängen entnommen sind (Gehirn als Telefonzentrale, Magen als chemische Retorte usw.).

Das Arbeiten mit einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis, wie derjenigen von den drei physiologischen Systemen, muß für den Gesellschaftswissenschaftler auf etwas ganz anderes hinzielen. Er kann im Sinne des angedeuteten anthroposophischen Schulungspfades das Bild des lebendigen Zusammen- und Ineinanderwirkens der drei leiblichen Systeme zum Meditationsinhalt erheben. Eine solche Übungspraxis wird sein Denken in Fluß bringen und in einer Weise verwandeln, daß es für eine lebensvolle, imaginative Erfassung der im sozialen Organismus veranlagten drei Funktionssysteme (Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaft) ungleich geeigneter wird als es vorher war und sein konnte. Ein solcher Soziologe wird bemerken, daß ein in dieser Weise verwandeltes Denken dazu heranreift, auch die Grundlage für ein Wollen zu bieten, welches die Veranlagung dieser sozialen Funktionssysteme auf den zeitgemäßen Weg ihrer vollen organisatorischen und lebenspraktischen Verwirklichung zu bringen vermag. Diese wäre dann keine bloße Nachahmung der physiologischen Systeme, sondern eine schöpferische Neugestaltung der drei Glieder des sozialen Organismus auf Grund der Erkenntnis von dessen wahren Lebensbedingungen.

Im Sinne unserer früheren Ausführungen ist die »Physiologie« des sozialen Organismus eben eine ganz andere als diejenige des individuellen menschlichen. Sie ist geradezu eine entgegengesetzte. Das geht schon, um nur Eines zu nennen, daraus hervor, daß der leibliche Organismus des Menschen auf dem Wege über Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel durch Natursubstanzen ernährt wird, nachdem diese durch die Wirtschaft konsumfähig gemacht worden sind. Demgegenüber besteht die »Nahrung« des sozialen Organismus in Geistimpulsen, welche von der kulturellen Sphäre ausgehen. Ohne die Tätigkeit

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 62]

des Kulturlebens würde der soziale Leib, ohne diejenige der Wirtschaft müßte der menschliche Leib verhungern. Derjenige, dem diese Tatsache nicht sofort einleuchtet, weil er meint, daß ja auch der soziale Leib materiell verhungern muß, wenn die Einzelmenschen an Nahrungsmangel zugrunde gehen, der sei darauf hingewiesen, daß der Tod in jedem der beiden Fälle anders aussieht. Der soziale Organismus kann sterben, selbst wenn die Mehrzahl der Einzelmenschen genug zu essen hat, sich jedoch der gesellschaftsbildenden Kraft des Geistes verschließt. Das geistige Verhungern des sozialen Organismus ist das eigentliche soziologische Problem unserer Zeit.

Wir haben in diesem Kapitel die Eigenart und Aufgabe des wirtschaftlichen Gliedes des sozialen Organismus zu betrachten, soweit dies innerhalb eines Umrisses einer anthroposophisch-orientierten Soziologie in Betracht kommen kann. Die Darstellung einer Wirtschaftswissenschaft in allen ihren Sonderproblemen und deren Lösungsmöglichkeiten kann deshalb hier nicht beabsichtigt sein. Es wird sich nur um die Aufdeckung wesentlicher Grundzüge einer wirklichkeitsgemäßen Wirtschaftskunde im Rahmen der Soziologie handeln können. Im zweiten Teile dieser Schrift sind Beispiele für die fruchtbare Anwendung dieser Grundgedanken auf einige brennende Wirtschaftsprobleme der Gegenwart zu finden.

Die Vertreter der Naturwissenschaft haben sich daran gewöhnt, in Verbindung mit ihren auf das Berechenbare zielenden Methoden das Isolierungsverfahren im weitesten Maße anzuwenden. Man isoliert einzelne Phänomene der Sinnenwelt und untersucht sie bis dahin, wo man die willkürliche Grenze gezogen hat. Man zieht die Grenzen immer enger und kommt so schließlich auf kleinste, d. h. nicht mehr sinnlich-wahrnehmbare Entitäten, welche nur aus ihren materiellen Wirkungen innerhalb eines umfassenden materiellen Substratums erschlossen werden: die Atome. Mit Erstaunen hat man dabei entdeckt, daß die spezifischen Kraftverhältnisse innerhalb der Atome nicht auf noch kleinere materielle Einheiten deuten, sondern auf Entitäten von kosmischem Betragen, wenn man das so nennen darf (Neutron, Proton, Elektron usw. sind keine materiellen Einheiten mehr, sondern können nur als immaterielle Kraftformen vorgestellt werden, von

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 63]

denen ständig weitere entdeckt werden). So sind Physik und Chemie auf dem Wege, über das materiell Eingeschränkteste in das Reich des immateriell Umfassendsten hineinzukommen. Ein um so größeres Rätsel ist dadurch aufgegeben. Das Isolierungsverfahren hebt sich in seiner letzten Konsequenz selbst auf. In ähnlicher Weise hat sich der Biologe und Physiologe auf das isolierte Phänomen der Zelle in ihrer Eigenschaft als kleinste lebende Einheit des Materiellen gestützt, ohne dem Rätsel der lebendigen Gesamtgestalt des Organismus wesentlich näher gekommen zu sein.

Die Gesellschaftswissenschaften haben dieses Isolierungsverfahren auf ihrem Gebiete nachgeahmt, mit dem negativen Erfolg, daß sie über an sich notwendige Einzeluntersuchungen auf begrenztem Felde die eigentliche Gestalt des sozialen Organismus aus dem Auge verloren haben. Ebenso wie die Gestalt der Natur ging die Gestalt des sozialen Lebens unerkannt in dem Ameisenhaufen eines einzigartigen, aber geistig hilflosen Spezialistentums unter, dem der Ariadnefaden im Labyrinthe überraschender Einzelergebnisse und abstrakter Theorien verlorengegangen ist. Anthroposophisch-orientierte Geisteswissenschaft macht ebenso wie in bezug auf die Natur, so auch in bezug auf den sozialen Organismus zuerst diese Gesamtgestalt gedanklich lebendig. In ihrer soziologischen Richtung geht sie darauf zur Betrachtung einzelner Sozialgebiete über, ohne dabei die Art aus dem Auge zu verlieren, wie die anderen Sphären des sozialen Lebens auf das betreffende Sondergebiet einwirken.

Nur in solcher Weise kann das Sondergebiet der Wirtschaft wirklichkeitsgemäß behandelt werden. Wir wollen dabei von der Betrachtung des Wirtschaftslebens ausgehen, wie es gegenwärtig ist. Die Art, wie es sich historisch entwickelt hat, soll dabei vorläufig unberücksichtigt bleiben, weil es gerade hier zunächst darauf ankommt, eine Darstellungsweise zu finden, bei welcher der vorhandene Erlebnisinhalt eines jeden einzelnen berücksichtigt ist.

Die äußere Grundlage des Wirtschaftslebens ist die Natur, wie sie sich als Einheit aus Bodenbeschaffenheit, Bewässerungsverhältnissen, klimatischen Einflüssen usw. in Verbindung mit Mineralschätzen, Flora und Fauna zusammensetzt. Die Naturgrundlage, in welcher die

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 64]

Naturgesetze wirken, kann als untere Grenze der Wirtschaft bezeichnet werden. Sie hat auch eine obere Grenze, welche im Gegensatze zur Natur nicht gegeben ist, sondern vom Menschen hervorgebracht wird. Diese obere Grenze wird durch die Rechtsordnung mit ihren Gesetzen gebildet. Letztere sind von »oben« her für die wirtschaftenden Menschen ebenso maßgebend wie die Naturgesetze von »unten« her. Sie müssen sich nach diesen zwei Arten von Gesetzen richten. Mag das Zustandekommen der Staatsgesetze durch wirtschaftliche Notstände beeinflußt oder gar durch die Macht wirtschaftlicher Interessen erzwungen worden sein, so ist es doch offenbar, daß die Wirtschaftsbesorgung sich nur zwischen den angrenzenden Bereichen der Natur- und der Rechtsordnung unter Berücksichtigung beider abwickeln muß.

Für das Wirtschaftsleben, wie es heute ist und seit Ende des 19. Jahrhunderts einen weltumspannenden Charakter angenommen hat, kommt in Betracht, daß es als Weltwirtschaft die ganze Naturgrundlage in Anspruch nehmen muß. Doch sieht es sich an der Erfüllung dieses Anspruchs durch Einflüsse verhindert, welche außerhalb seines eigenen Bereiches ihre Quelle haben. Der Haupthinderungsgrund ist in der Tatsache zu sehen, daß die in den einzelnen Nationen entwickelten Rechtsverhältnisse sich noch nicht innerhalb eines allgemeinen internationalen Menschenrechtes soweit aneinander angepaßt haben, um der später heraufgekommenen Weltwirtschaft zu der globalen Naturgrundlage die nötige totale Rechtssicherheit zu bieten. Die Rechtsverhältnisse innerhalb des politischen Rahmens sich isolierender Nationen machen diese zu Wirtschaftseinheiten, welche nicht mehr zeitgemäß sind, so daß sie der Einheit der Weltwirtschaft widersprechen. Dieser Widerspruch ist eine der Hauptquellen internationaler Konflikte.

Hier soll vorläufig nur der Gesichtspunkt festgehalten werden, welcher durch das Vorhandensein der beiden Grenzen, der natürlichen und der institutionellen, gegeben ist, innerhalb welcher jeder Wirtschaftskörper, mag er von großer oder geringer Ausdehnung sein, sein Leben entfaltet. Dieses Leben kommt durch die Produktion von Waren, deren Zirkulation mit Hilfe des Geldes und durch deren Konsumtion zum

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 65]

Ausdruck. Mit dem Hinweis auf die dreigliedrige Funktion – Produktion, Zirkulation und Konsumtion – ist das Leben des Wirtschaftsorganismus umschrieben.

Von hier aus eröffnet sich sofort ein Ausblick auf die Art, wie die Wirtschaft mit dem geistig-kulturellen Gliede des sozialen Organismus verbunden ist. Das Geistesleben wirkt von der einen Seite über die Produktion, von der anderen über die Konsumtion auf die Wirtschaft ein. Im Geistesleben wirken Wissenschaft, Kunst und Religion zusammen, um über Erziehungs- und Unterrichtswesen sowie Kultus die individuellen Anlagen und sittlichen Kräfte zu Fähigkeiten auszubilden. Diese finden ihre Anwendungsgebiete entweder innerhalb des Geisteslebens unmittelbar oder mittelbar auf den Gebieten der Rechtsordnung und des Wirtschaftslebens, wo sie der Staatsverwaltung bzw. der Produktion dienen. Andererseits wirken das Maß und die Art der Erziehung, welche der Mensch genossen hat, und der Grad der Persönlichkeitskultur, welchen er durch Pflege seiner geistigen Interessen erringen konnte, bestimmend auf Maß und Art seiner wirtschaftlichen Bedürfnisse. Diese, wenn auch durch das Leben im Leibe angeregt, sind in ihrer Form gleichfalls ein Ausdruck des geistigen Wesens des Menschen. Hierher gehört auch die Tatsache, daß von der Art der Erziehung und Selbsterziehung neben der Entwicklung der individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse auch die Art der Arbeitsantriebe und die Stärke des sozialen Willens zur Beschränkung der eigenen Bedürfnisse abhängt. Es sind dies zwei weitere Faktoren, welche durch das Geistesleben wirksam werden und wesentlich auf die Gestaltung der Produktion und Konsumtion einwirken.

Wirkt die Rechtsordnung in der Richtung auf das Wirtschaftsleben, so wirkt sie in ihrer demokratischen Form, von welcher als der einzig zeitgemäßen allein hier zunächst die Rede ist, begrenzend. In bezug auf das Geistesleben wirkt die wahre Demokratie befreiend. Denn es muß zu den Rechten des Menschen des Bewußtseinsseelenzeitalters gehören, seine individuellen Anlagen in voller Freiheit zu Fähigkeiten und sittlicher Vervollkommnung zu entwickeln. Hierfür müssen ihm die Ausbildungsmöglichkeiten grundsätzlich offenstehen. Auf diese

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 66]

Weise wirkt das Rechtsleben auf dem Wege über das freie Geistesleben fördernd auch auf die Wirtschaft.

Von den drei Sphären der Wirtschaft sei zunächst die Produktion ins Auge gefaßt. Diese besteht in der Herstellung von Waren und der Ausführung wirtschaftlicher Dienstleistungen, welche im Austausch gegen Waren oder andere Dienstleistungen gleichfalls Warencharakter annehmen. Solche Waren und Dienstleistungen sind wirtschaftliche Werte, und es ist für den Soziologen von größter Wichtigkeit, die Faktoren klar zu erkennen, welche an der Wertbildung mitwirken. Diese Faktoren waren stets ein Streitobjekt theoretisierender Wirtschaftswissenschaftler. So behauptete man auf der einen Seite, daß die Natur der alleinige wertbildende Faktor ist. In der menschlichen Tätigkeit – so wird gesagt – setzt sich die wertbildende Kraft der Natur in gerader Linie fort. Eine andere Gruppe ordnete die Wertbildung einzig und allein der Betätigung des Menschen durch Kapital zu. Eine dritte konnte nur in der menschlichen Arbeit die Wirtschaftswerte schaffende Kraft sehen. Die aus solchen einseitigen Auffassungen hervorgehenden Theorien mußten selbst einseitig sein und haben durch ihre Verwirklichung auf dem Wege der üblichen und übel beratenen Partei- und Majorisierungspolitik unserer Zeit viel zu dem Heraufkommen des sozialen Chaos beigetragen, in welchem sich der Mensch jetzt vorfindet.

In Wirklichkeit sind auf der Produktionsseite der Wirtschaft sowohl Natur als auch Arbeit und Kapital für das Zustandekommen von Werten wirksam. Man hat es nicht mit einem wertbildenden Faktor, sondern mit drei Faktoren zu tun, welche zusammenwirken. Dieses Zusammenwirken geht innerhalb eines polarisch angeordneten Zusammenhanges vor sich. Auf der einen Seite wirken menschliche Arbeit und Naturgrundlage aufeinander, auf der anderen Kapital und Arbeit. In beiden Fällen entstehen Wirtschaftswerte, welche Objekte des gegenseitigen Austausches innerhalb des Warenkreislaufes sind und zu Verbrauchsgütern werden, sobald sie aus dem Warenkreislauf verschwinden.

Richtet sich die Arbeit auf die Natur, so wandelt sie Stoffe und Erzeugnisse der Natur in konsumfähige Wirtschaftserzeugnisse um.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 67]

Bereits der primitivste Arbeit-Natur-Zusammenhang, wie z. B. das Pflücken von Früchten und deren Transport an den Ort ihres Verbrauches, mag der Weg auch noch so kurz sein, bedeutet die Erzeugung eines echten Wirtschaftswertes, welcher im Austausch mit anderen Werten zur Ware wird. Im Rahmen der reinen Selbstversorgung entsteht keine Ware, sondern nur ein Wert für dessen Erzeuger. Es ist kein Wert für andere Menschen. Eine von der Beurteilung durch den Erzeuger unabhängige Bewertung des Erzeugnisses kann nicht stattfinden. Die Möglichkeit der Einschätzung von Wirtschaftswerten durch das selbständige Gegenüberstehen von Produzent und Konsument ist aber die eigentliche Grundlage der Warenzirkulation als Voraussetzung für eine zweckmäßige Organisation der Wirtschaft.

Solange sich die Arbeit auf eine solche Umformung von Naturerzeugnissen für die Befriedigung wirtschaftlicher Grundbedürfnisse, z. B. Nahrung, Kleidung und Behausung beschränkt, stellen die hervorgebrachten Wirtschaftswerte naturnahe Produkte dar. An dem Zustandekommen der letzteren haben der schöpferische Geist und die Arbeitskraft der Natur den weitaus größeren Anteil gegenüber der hierfür aufgebrachten Intelligenz und Arbeitsleistung des Menschen.

Dieses Bild des Schaffens von Wirtschaftswerten ändert sich wesentlich, wenn auf die entscheidende Tatsache hingewiesen wird, daß sich im Verlaufe der Geschichte und der Entwicklung des Ich-Bewußtseins die geistige Tätigkeit des Menschen immer mehr und mit wachsender sozialer Wirkung darauf richtete, die menschliche Arbeit in Sonderfunktionen aufzugliedern. Arbeitsteilung und zweckmäßige Verbindung der Arbeitsfunktionen durch die schöpferische Intelligenz des Menschen traten immer mehr in den Vordergrund des Wirtschaftslebens. Auch auf diese Weise entstehen austauschbare wirtschaftliche Werte, für deren Zustandekommen der Geist der Natur immer mehr in den Hintergrund und dafür die bewußte menschliche Intelligenz in ihrer organisatorischen Anwendung auf die Arbeit in den Vordergrund tritt. Hier wird die Natur eigentlich erst zum bloßen »Rohstoff«, welcher von der geistgelenkten Arbeit »verarbeitet« wird. Die

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 68]

so entstehenden Werte können als geistnahe Erzeugnisse bezeichnet werden.

Durch den Einblick in den Vorgang der Herstellung dieser geistnahen Erzeugnisse hat man das wahre Wesen der Kapitalwirksamkeit erfaßt. Eine Geldsumme, eine Bodenfläche, eine Menge von Produktionsmitteln und Rohstoffen und dgl. ist nicht schlechthin Kapital. Dagegen offenbart sich die wahre Kapitalfunktion durch die aktive Verbindung des menschlichen Geistes mit der durch ihn organisierten menschlichen Arbeit, welche von ihm an die genannten Mittel herangerufen wird. Die Arbeit wird durch den Geist in Bewegung versetzt. Geldsummen, welche für die Investierung bestimmt sind, Grund und Boden und sonstige Produktionsmittel werden durch diese Kapitalwirksamkeit erst in den funktionellen Zusammenhang der Wirtschaft hineingestellt. Außer der Tatsache, daß durch den menschlichen Geist der Zusammenhang der Arbeitsfunktionen für die Erzeugung von wirtschaftlichen Werten nach Maß, Art und Zeitersparnis in seiner Leistungsfähigkeit steigt, muß noch etwas anderes berücksichtigt werden. Die unter dem Drängen der fortschreitenden Erkenntnis des berechenbaren Teiles der Natur hervorgegangene angewandte Wissenschaft ersetzt mit wachsendem Erfolge die menschlichen Arbeitsfunktionen durch maschinelle. Durch vermehrte und intensivierte Kapitalwirksamkeit erreicht die Arbeitsteilung die Form der industriellen Produktionsweise. Der gegenwärtige hohe Stand der letzteren stellt schon den fast vollkommenen Ersatz aller körperlichen Arbeitsfunktionen durch Maschinenarbeit in Aussicht. Es bleiben fast nur noch geistige Funktionen übrig, deren Verrichtung den Körper nur zu einem immer mehr einschrumpfenden Minimum in Anspruch nimmt. Selbst in bezug auf seine geistigen Arbeitsfunktionen wird der Mensch durch die Maschine in wachsendem Maße entlastet. (Auf das hierdurch heraufkommende besondere Sozialproblem kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.) Man muß also bei der Wertbildung durch das Zusammenwirken von Kapital (Geist) und Arbeit in diese die durch die Maschine geleistete Arbeit einrechnen. Das eigentliche geistige Wesen des Kapitals tritt dadurch um so deutlicher hervor.

Angesichts der geistigen Tatsache der Kapitalwirksamkeit darf aber

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 69]

nicht aus dem Auge verloren werden, daß Umfang und Intensität der Produktion der »geistnahen« Werte von der hinreichenden Erzeugung der »naturnahen« abhängig ist. Nur diejenige Anzahl von Menschen kann auf der industriellen Seite der Wirtschaft tätig sein, die von der landwirtschaftlichen ernährt werden kann. Im Austausch von Industrieerzeugnissen gegen landwirtschaftliche hat man die lebensbedingende Grundlage des wirtschaftlichen Austausches, d.h. des Warenkreislaufes überhaupt, zu sehen. Erst nachdem diese Grundlage gesichert ist, ist auch der Austausch von reinen Industrieerzeugnissen untereinander ohne Schaden für das Ganze im großen Stile möglich. (Daß auch die Landwirtschaft heute in steigendem Maße in Nachbildung der Methoden des industriellen Großbetriebes arbeitet und immer mehr von dem Bestreben bestimmt wird, menschliche Arbeitskraft durch Maschinenleistung restlos zu ersetzen, stellt ein besonderes soziales Problem dar. Dadurch wird aber grundsätzlich das geschilderte Austauschverhältnis zwischen Industrie- und Landwirtschaftsprodukten nicht geändert, solange man nicht in der Lage ist, den Menschen durch synthetische Nahrungsmittel zu ernähren. Die Frage der Zweckmäßigkeit solcher synthetischen Nahrung, d. h. ob es ratsam ist, aus Steinen Brot zu machen, muß in diesem Zusammenhang unerörtert bleiben.)

Die Frage drängt sich auf, ob auch durch den Warenkreislauf selbst auf die Wertbildung ein zusätzlicher Einfluß ausgeübt wird, sobald ein Erzeugnis von diesem Kreislauf aufgenommen wird und dadurch zur Ware wird. Man könnte dann von wertverändernden Bedingungen im Unterschiede zu den wertebildenden Faktoren sprechen, wenn man auf rein begriffliche Bestimmungen besonderen Wert legt.

Bis die Ware an den Ort kommt, an welchem ihr Besitzer (Verkäufer) mit dem Verbraucher (Käufer) zusammentrifft, erhöht sich innerhalb des wirtschaftlichen Kreislaufes der Warenwert durch den erforderlichen Kapital- und Arbeitsaufwand für den Transport der Ware, ihre Lagerung und sonstige Weiterbehandlung. Die Ware trifft an diesem Orte auf die subjektive Bewertung durch ihren Verbraucher. Von der Stärke dieser Bewertung im Verhältnis zur Fähigkeit des Verbrauchers, einen der Forderung des Besitzers entsprechenden Gegenwert

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 70]

aufzubringen, hängt es ab, ob ein Werteaustausch zustande kommt oder nicht. Der Summe der objektiven Aufwendungen für die Produktion und für die Hinleitung an den Ort des Warenangebotes durch die Zirkulation steht die subjektive Bewertung durch die nachfragende Konsumtion gegenüber. Man hat es mit einem Spannungsverhältnis zu tun, welches gleichfalls auf die Wertbildung einwirkt. Doch darf dies nicht mit dem Begriff des »freien Marktes«, auf dem die Wertbemessung infolge des sogenannten Gesetzes von »Angebot und Nachfrage« sich automatisch regelt, vermischt werden. Über dieses »Gesetz« wird später einiges zu sagen sein. Im Augenblick kommt es nur darauf an, daß in dem geschilderten Spannungsverhältnis eine objektive Tatsache gesehen wird, welche zusammen mit den drei Produktionsfaktoren und dem durch den Kreislauf bedingten zusätzlichen Aufwand an der Bildung des Warenwertes teilnimmt.

Beim Übergang der Ware aus dem Kreislauf in den Verbrauch tritt die Entspannung ein. Der Prozeß der Entwertung durch den Verbrauch nimmt seinen Anfang. Das hier Geschilderte bezieht sich selbstverständlich auf Fertigerzeugnisse, welche von der eigentlichen Konsumtion endgültig übernommen werden. In den Gesamtkreislauf der Wirtschaft schieben sich die Austauschverhältnisse in bezug auf Rohstoffe, Halbfabrikate usw. ein. Es sind dies Verhältnisse, welche man der aufsteigenden Wertebildung auf der Produktionsseite zurechnen muß, doch wirkt auch hier die wertebildende Spannung innerhalb der Zirkulation sinngemäß mit, wenn man auch nicht von dem Beginn der Entwertung durch die endgültige Entspannung sprechen kann.

Als Mittel für den Warenaustausch dient das Geld. Dieses macht es möglich, die wirtschaftlichen Werte in den Preisen zum Ausdruck zu bringen. Das an sich Unberechenbare des Wertes wird zu einem Berechenbaren in Beziehung gesetzt und dadurch in einer auf Arbeitsteilung beruhenden Wirtschaft in dem Maße tauschfähig, wie es eine solche Wirtschaftsweise verlangt. Durch das Geld wird ein bestimmtes Wirtschaftsgebiet zu einer wirtschaftlichen Einheit. Die richtige Preisbildung hat eine richtige Wertbildung zu ihrer Voraussetzung. Richtige Preise sind das äußere Zeichen dafür, daß die Wirtschaft gesund

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 71]

ist. Das führt auf die Frage, in welchem Falle man überhaupt von richtigen Preisen sprechen kann. (Wir vermeiden die Bezeichnung »gerechter Preis«, weil sie, unter ganz anderen sozialen Bedingungen entstanden, auf die Philosophie des Mittelalters zurückgeht und von einer religiösen Ethik bestimmt ist. Letztere übt auf das moderne Wirtschaftsleben praktisch keinen Einfluß mehr aus, wenn auch aus religiösen Traditionen heraus gegen wirtschaftliche Übelstände angekämpft wird. Dieses Ankämpfen muß solange erfolglos bleiben, als man nicht gewillt ist, sich eine Erkenntnis des wahren Wesens der industriellen Wirtschaft, unabhängig von jeder Tradition, zu erarbeiten.)

Der Organismus der Wirtschaft ist ein gesunder, wenn ihre Produktionsseite durch Menge und Art der hervorgebrachten Waren und Leistungen die von der Konsumtionsseite her geltend gemachten wirtschaftlichen Bedürfnisse befriedigt. Waren und Leistungen kommen in einem solchen Falle in einer dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechenden Weise zur Verteilung. Alle Wirtschaftswerte tauschen sich in der richtigen Weise gegeneinander aus. Die durch das Mittel des Geldes von der Konsumtionsseite aufgebrachten Gegenwerte für Waren ermöglichen es der Produktion, in der Herstellung derselben ohne Stockung fortzufahren. Die Wirtschaft befindet sich dann in einem Gleichgewichtszustand. Die Preise sind »richtig«, weil sie es jedem einzelnen Konsumenten ermöglichen, mit seinem Arbeitseinkommen seinen berechtigten wirtschaftlichen Bedarf zu decken, und jedem Produzenten, mit der Warenerzeugung fortzufahren. Damit ist das Prinzip der Gesundheit des Wirtschaftslebens ausgesprochen. Bezieht man dieses Grundprinzip auf die einzelne Leistung und die dafür in Betracht kommende Gegenleistung, so gilt der fundamentale Satz:

»Jede wirtschaftliche Leistung fordert eine Gegenleistung, welche es dem Hervorbringer der ersteren ermöglicht, eine gleiche oder gleichwertige Leistung wieder hervorzubringen.«

Durch diesen Satz ist, wie sie Rudolf Steiner genannt hat, die »Urzelle« des modernen Wirtschaftslebens als dessen kleinste Einheit

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 72]

charakterisiert. Keine materielle, biologische Zelle ist gemeint, sondern eine sozial-dynamische, welche in ihrem Wesen und ihrer Funktion aber ebenso aus der ganzen Gestalt des gesunden sozialen Organismus heraus begriffen werden muß, wie die biologische Zelle nur im Zusammenhang mit dem ganzen Wesen des gesunden organischen Lebens heraus verstanden werden kann. Die Innehaltung des methodischen Prinzips, die Teile aus dem Ganzen heraus zu verstehen, hat deshalb veranlaßt, zunächst den gesunden sozialen Organismus in seiner allgemeinen Dreigliedrigkeit zu schildern. Darauf konnte die besondere Erscheinungsform derselben innerhalb der durch Naturgrundlage und Rechtsordnung begrenzten und vom Geistesleben beeinflußten Wirtschaftssphäre bis zum wahren »Urphänomen« der industriellen Wirtschaftsweise dargestellt werden, d. h. bis zur »Urzelle«. Die Soziologen ringen mit dem Problem der Wirtschaft und sinnen auf Mittel und Wege, um Geistesleben und Rechtsordnung in eine neue, wirklichkeitsgemäße Beziehung zu der weit vorausgeeilten und hypertrophisch gewordenen industriellen Wirtschaft zu setzen. Sie werden solange aneinander und an der Öffentlichkeit vorbeireden, als sie diesen Begriff der wirtschaftlichen Urzelle nicht ernst zu nehmen gewillt sind.

Die Bedeutung des Begriffs der Urzelle soll dadurch noch in ein besonderes Licht gesetzt werden, daß wir nun versuchen wollen, aus diesem Begriff heraus nochmals die Grundzüge der Wirtschaft in Verbindung mit dem sozialen Ganzen zu entwickeln. Dadurch wird die Grundlage gegeben sein, die wahren Ursachen der augenblicklichen Erkrankung und Zersetzung des sozialen Organismus vom Gesichtspunkte der Wirtschaft aus zu erkennen. Wie der Arzt zunächst als Physiologe, Psychologe und Pneumatologe den gesunden Organismus des Menschen erkennen muß, um eine Krankheit als Abweichung vom gesunden Zustand richtig einzuschätzen, so muß auch der Soziologe in bezug auf den sozialen Organismus verfahren.

Die »Urzelle«, innerhalb welcher sich wirtschaftlicher Wert und Gegenwert durch das Mittel der richtigen Preisbildung in einer Weise ausgleichen müssen, daß eine gleiche – oder gleichwertige – Leistung wieder hervorgebracht werden kann, ist ein Ausdruck des »sozialen

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 73]

Hauptgesetzes«*. Von diesem ist schon die Rede gewesen. Es ist kein Naturgesetz, doch wirkt es mit der Ausschließlichkeit eines solchen infolge der Schicksalslage, in welche sich die Menschheit durch Arbeitsteilung und Industrialisierung in Verbindung mit fortschreitender Mechanisierung der Wirtschaft gebracht hat. Tatsachen der Vergangenheit nehmen in ihrer Nachwirkung allgemeinen, gesetzmäßigen Charakter an in dem Ausmaße, wie sie das soziale Leben in seiner äußeren Form während eines gewissen Zeitraumes bestimmen.

Infolge der Wirkung des sozialen Hauptgesetzes kann die Einzelleistung der Befriedigung des eigenen Bedarfes ihres Hervorbringers nicht mehr dienen. Dieser kann sie nur als seinen Anteil an der Gesamtleistung beitragen, um aus den Ergebnissen der letzteren seine eigenen wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Er tauscht das Ergebnis seiner Teilfunktion gegen Waren aus, welche ihrerseits ein Ergebnis der gesamten wirtschaftlichen Produktion sind. Ein solcher Tausch geht in Wirklichkeit innerhalb eines übernationalen Wirtschaftskreislaufes vor sich. Aber ein ungestörter Austausch der Werte und ihre richtige Bemessung hängt von dem Grade ab, in welchem die Erkenntnis des sozialen Hauptgesetzes, d. h. für das Ganze zu arbeiten und nicht für sich selbst, zum individuellen Antrieb seiner praktischen Erfüllung wird. Dieser Antrieb selbst kann nicht aus dem Wirtschaftsleben hervorgehen, sondern muß auf der Wirkung beruhen, welche das außerhalb der Wirtschaft frei waltende Geistesleben auf die sittliche Entwicklung des einzelnen ausübt. Die auch in der Urzelle der Wirtschaft erforderliche sittliche Initiative geht von etwas Nicht-Wirtschaftlichem, dem Geistesleben, aus. Hier muß das Leben der Urzelle urständen.

Andererseits beruht die praktische Möglichkeit des richtigen Austausches von Leistung und Gegenleistung auf dem Vorhandensein einer Rechtsordnung. Diese muß die Voraussetzungen für den Ab-

* Rudolf Steiner, 1906 in Lucifer-Gnosis«: »Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, d. h., je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.«

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 74]

schluß von Arbeits- und Leistungsverträgen bieten und für die Sicherung menschlicher Arbeitsbedingungen in bezug auf Arbeitszeit, Arbeitsart, hygienische Vorkehrungen und dgl. Sorge tragen. Sie muß sowohl privates als auch zur produktiven Verwendung dienendes Eigentum schützen, kurz, sie muß die allgemeine Rechtssicherheit gewährleisten. Das Leben der wirtschaftlichen Urzelle hätte keine Entfaltungsmöglichkeit, wenn ihr nicht durch ein wahrhaft demokratisches Recht hierfür der Boden bereitet wäre. Rechtsordnung und Geistesleben müssen aus dem sozialen Umkreise in der rechten Art auf die Urzelle von außen einwirken, wenn diese nicht von innen her zu einem wuchernden Krankheitsherd für das Ganze werden soll. Sie würde dadurch ihre krankmachenden Einflüsse auch auf Rechts- und Geistesleben ausdehnen. Der soziale Organismus ist keiner geringeren Infektionsgefahr ausgesetzt als der menschliche in seiner Art. Wie für die Erhaltung der Gesundheit des menschlichen Organismus das beste Mittel die Prophylaxe ist, so ist es diese auch für den sozialen durch sinngemäße Harmonisierung seiner Kräfte.

Wir haben hier den Punkt gefunden, von dem aus den wahren Ursachen der Ungesundheit des gegenwärtigen sozialen Lebens unter dem Aspekte der Wirtschaft nachgegangen werden kann.

Der Austausch von wirtschaftlicher Leistung mit Gegenleistung innerhalb des Warenkreislaufes ist dadurch empfindlich gestört, daß sich untereinander und gegen Wirtschaftswerte auch solche Werte austauschen, welche selbst überhaupt keine Wirtschaftswerte sind, sondern nur scheinbare. Infolge des Nichterkennens des dreigliedrigen Wesens des sozialen Organismus wird gedankenlos die Möglichkeit aufrechterhalten, daß Verkauf und Kauf sich nicht nur auf echte Waren und wirtschaftliche Leistungen erstrecken, sondern auch auf Rechte. Das Recht nimmt dadurch selbst einen Warencharakter an, welcher seinem eigenen Wesen vollkommen widerspricht. Z. B. beruht der Besitz von Grund und Boden, d. h. eines Teiles der Naturgrundlage der Wirtschaft, auf einem Recht. Verkauft man den Grund und Boden in Ausübung eines traditionell gewordenen und den gegenwärtigen Lebensbedingungen nicht mehr entsprechenden Eigentumsrechtes, so verkauft man eigentlich nicht das Grundstück, sondern das

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 75]

Recht an seinem Besitz. Dieses Grundstück gehört nicht zu den konsumfähigen Waren, mit denen es der Warenkreislauf allein zu tun haben darf. In seiner eigentlichen wirtschaftlichen Bedeutung ist es Produktionsmittel und weiter nichts. Aber durch die nicht mehr zeitgemäße Möglichkeit, Rechte zu verkaufen, ja geradezu mit ihnen Handel zu treiben, ist der Grund und Boden zur Ware geworden. Als solche zirkuliert er als Fremdkörper und als gleichgewichtstörendes Element im Warenkreislauf. Auf diese Weise ist es möglich, daß der Grund und Boden mit rein wirtschaftlichen Leistungen »bezahlt« werden kann, ohne irgendeine Verpflichtung des Verkäufers zu Gegenleistungen. Durch das Ausgeben der Kaufsumme können wirtschaftliche Leistungen in Anspruch genommen werden, für welche keine Gegenleistungen von seiten des Verkäufers existieren. Wert-. und Preisbildung innerhalb des gesamten Produktions- und Kreislauforganismus werden durch unkontrollierbare Einflüsse gestört.

Vom Gesichtspunkte der Wirtschaft aus kann es sich ja nur darum handeln, daß das Recht am Grund und Boden nicht in beliebiger Weise verkauft, sondern in die freie Verfügung einer Person oder einer Personengruppe übertragen wird, welche den Boden in seiner Eigenschaft als Produktionsmittel am vorteilhaftesten für das Ganze verwalten kann. Rechte dürfen nur übertragen werden auf Grund zu übernehmender Pflichten und der anerkannten Fähigkeit, diese Pflichten zu erfüllen. Nur in diesem Sinne kann der Grund und Boden zum »Kapital« werden. Er verbindet sich dabei mit dem produktiven Menschengeist und wird als ein Teil des Urproduktionsmittels, der Natur, zum Kapital.

In bezug auf das Recht bilden die vom Menschen hergestellten Produktionsmittel keine Ausnahme gegenüber dem, was über den Grund und Boden in seiner Eigenschaft als natürliches Produktionsmittel gesagt wurde. Auch die produzierten Produktionsmittel sind infolge eines trotz veränderter Lebensbedingungen unverändert gebliebenen Eigentumsrechtes als austauschbare Waren in den wirtschaftlichen Kreislauf hineingeraten. So bedeuten sie ebenfalls ein störendes Element im gegenseitigen Austausch echter Warenwerte. Das Recht am Besitz produzierter Produktionsmittel wird verkauft, anstatt es auf

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 76]

diejenigen zu übertragen, welche die Produktionsmittel auf Grund ihrer Sachkunde in gemeinnütziger Weise verwalten können. Nur so würden sie zweckentsprechend in die Sphäre der Kapitalverwaltung aufgenommen werden. Kapitalverwaltung muß als rein-geistige Tätigkeit, die auf wirtschaftliche Aufgaben gerichtet ist, begriffen werden, die Übertragung von Kapital als eine Rechtsangelegenheit und die Kapitalakkumulation durch Ersparnisse als die wirtschaftliche Vorbereitung für solche zweckmäßigen Kapital-Übertragungen mit Hilfe geeigneter Institutionen.

Ebenfalls in den Bereich der wirtschaftlichen Scheinwerte gehört die menschliche Arbeit. Als einer der drei geschilderten Faktoren, der zusammen mit Kapital und Naturgrundlage die wirtschaftlichen Werte hervorbringt, ist die Arbeit an sich kein Wirtschaftswert. Dadurch, daß man sich im Laufe der letzten drei Jahrhunderte der industriellen Revolution daran gewöhnt hat, die menschliche Arbeit als Ware zu betrachten, ist der arbeitende Mensch selbst wie eine Ware in die wirtschaftliche Zirkulation hineingekommen. Das demokratische Recht hat den Menschen grundsätzlich davon befreit, Sklave, d. h. ein echter austauschbarer Wirtschaftswert zu sein wie in früheren Zeiten, aber praktisch ist er durch Kauf und Verkauf seiner Arbeitskraft mehr oder weniger Sklave geblieben. Der arbeitende Mensch selbst hat sich mit seinem wirtschaftlichen Denken an die Auffassung, daß die Arbeitskraft Warencharakter hat, gewöhnt. Sein Fühlen und Wollen revoltiert gegen diese Auffassung und brachte die Arbeiterbewegung hervor. Ihr wahrer Ursprung ist im Gefühl der verletzten Menschenwürde zu suchen und in dem Willen, diese wieder herzustellen. Von den mannigfachen Wegen, welche von der Arbeiterbewegung zur Erreichung dieses Zieles beschritten worden sind und noch beschritten werden, soll hier nicht die Rede sein. Hier soll nur geltend gemacht werden, daß Arbeit als Ware nur ein wirtschaftlicher Scheinwert sein kann und im Austausch mit echten Warenwerten die Warenzirkulation und richtige Preisbildung stören muß. Seine Arbeitskraft gehört zum Besitztum des individuellen Menschen; sie stellt den Inbegriff seiner potentiellen körperlichen, seelischen und geistigen Leistungsfähigkeit dar. An diesem Besitztum hat der Mensch ein unbestreit-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 77]

bares Recht, dessen Formulierung durch Verfassung und Gesetzgebung eines demokratischen Staates nicht genügt, wenn nicht Gestalt und Wirkungsweise der Wirtschaft die praktische Verwirklichung dieses Rechtes möglich macht und es verhindert, daß die Arbeit als Ware monopolisiert wird oder unter die Gewalt lebensfremder Kapitalumlagerungen kommt. Das Problem der menschlichen Arbeit und ihrer der Menschenwürde entsprechenden Eingliederung in den wirtschaftlichen Zusammenhang muß durch den von wirtschaftlichen Interessen unabhängigen Staat in einer Weise gelöst werden, daß die Arbeit aus dem wirtschaftlichen Kreislauf herausgenommen und lediglich als Produktionsfaktor wirksam wird.

Unter solchen rechtlichen Voraussetzungen würde im Sinne der gesunden Urzelle des Wirtschaftslebens nicht die Arbeit, sondern das einzelne Ergebnis der Arbeitsleistung sich mit der Gegenleistung richtig austauschen. Dann würde der durch das Recht geschützte individuelle Arbeitsvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die angemessene Aufteilung des Erlöses für einen Wirtschaftswert vorsehen, welcher gemeinschaftlich produziert worden ist. Die Höhe des individuellen Erlösanteiles ergibt sich aus der wirtschaftlichen Notwendigkeit, die Neu-Hervorbringung eines gleichen Leistungsanteiles zu gewährleisten. Dadurch würde die Arbeit den aufgezwungenen Warencharakter verlieren und ihre eigentliche menschliche Natur im Sinne eines demokratischen Rechtes in vollem Umfange wiedergewinnen und zur Wirksamkeit bringen.

Weitere korrumpierende Einflüsse auf den Warenkreislauf werden durch das Eindringen anderer wirtschaftlicher Scheinwerte ausgeübt. So z. B. können Ideen, Erfindungen, technische Verfahren usw. an sich keine Waren sein. Sie werden es aber unter den obwaltenden Bedingungen durch ihre Ausstattung mit dem Rechte der ausschließlichen Ausnutzung auf dem Wege über Patent-, Musterschutz und dgl. Solche Rechte sind im Sinne eines überholten, starren Eigentumsrechtes verkäuflich und werden dadurch zur Ware, ohne an sich Warencharakter zu haben. Deshalb müssen Formen gefunden werden, die es bedingen, daß derartige Rechte an diejenigen Personen oder Personengruppen übertragen werden, welche solche Ideen und Erfin-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 78]

dungen für die gesamte Wirtschaft fruchtbar machen. Der Gefahr, daß ein unverantwortliches und unkontrolliertes Verwirklichen von umwälzenden Erfindungen die Lebensbedingungen des Ganzen erschüttert, würde in dieser Weise zugleich am besten begegnet werden. Die Verwirklichung von Ideen und Erfindungen auf wirtschaftlichem Gebiet gehört in die Sphäre der geistig-orientierten Betätigung durch Kapital. Dabei wird man auch leicht die geeigneten Formen finden können, um die ursprünglichen Träger von Ideen und Erfindungen in einer dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechenden Weise zu entschädigen. Das würde für den Fall gelten, daß ihnen selbst nicht das erforderliche Produktionskapital zur Verfügung gestellt werden sollte oder daß sie hierauf verzichten.

Zur Ware sind auch Anteile der wirtschaftlichen Unternehmungen, Anleihezertifikate u. dgl., ja sogar Geldsorten geworden, alles Dinge, welche an sich keinen Waren-, sondern Rechtscharakter haben. Im Austausch mit echten Waren und untereinander müssen sie die gerechte Verteilung der Wirtschaftserzeugnisse und damit die Wert-und Preisbildung empfindlich stören.

Der gerechte Ausgleich von Leistung durch Gegenleistung wird um so unmöglicher gemacht, je zahlreicher und bedeutsamer die Rechte sind, welche auf dem Wege über ihren Verkauf an die Stelle echter Gegenleistungen treten. Für Rechte gibt es kein wirtschaftliches Maß, während sich echte Waren und wirtschaftliche Leistungen in ihrem Austausch durch das Maß des Geldes gegenseitig bewerten können. Der sittliche Wert eines Rechtes und der wirtschaftliche Wert einer Ware sind inkommensurable Größen. Deshalb muß beides von einander begrifflich und praktisch getrennt gehalten werden.

Es könnte den Anschein haben, als ob mit vorstehendem die sogenannte »kapitalistische Wirtschaftsordnung« in einer Weise geschildert worden ist, durch welche die Gedanken in die Richtung einer mehr oder weniger kollektivistischen Wirtschaftsweise gebracht werden. Wer unsere Ausführungen in einem solchen Sinne versteht, hat sie nicht verstanden. Was tatsächlich geschildert worden ist, sind die Lebensbedingungen einer industriellen Wirtschaftsweise und die Einflüsse, welche diesen Lebensbedingungen widersprechen und sie unter-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 79]

graben. Dadurch werden die Gedanken nicht in die Richtung einer Verteidigung oder gar Begründung einer kollektivistischen Wirtschaft gelenkt, sondern auf die sinnvolle Eingliederung der Wirtschaft in den sozialen Organismus in sachgemäßem Verhältnis zur Rechtsordnung und zum Geistesleben. Daß nur die individuelle Initiative der Sachkundigen mit dem Mittel des in genügendem Maße zur Verfügung gestellten Kapitales eine hinreichende Befriedigung des wirtschaftlichen Gesamtbedarfes bewirken kann, geht schon aus unserem Begriff des Kapitales selbst hervor. Dieser Kapitalbegriff ist nicht das Ergebnis eines kollektivistischen Denkens, sondern eines individualistischen, das allerdings in einem Individualismus urständet, welcher nicht dem Egoismus gleichgesetzt werden darf, sondern aus der Überwindung des letzteren hervorgeht. Sowenig wie unter der Wirkung eines egoistischen Antriebes eine wahre Wirtschaftswissenschaft sich bilden kann, vermag der Egoismus eine zeitgemäße Wirtschaftswirklichkeit aus sich hervorgehen zu lassen.

Daß der Staat als Verwalter der Menschenrechte nicht auch als kollektivistischer Beherrscher und Lenker des Wirtschaftens in Frage kommen kann, ist durch unsere Charakterisierung seiner ureigenen Aufgabe wohl deutlich geworden. Aber es muß auch verstanden werden, daß die wirtschaftlichen Interessen nur auf ihrem eigenen Gebiet berechtigt sind und sich nicht auf Staatsordnung und Geistesleben in zwingender Weise ausdehnen dürfen. Eine solche Wirksamkeit der wirtschaftlichen Interessen auf Gebieten, auf die sie nicht gehören, müßte den Staat weiter in den Sumpf der Bürokratisierung stoßen und das Geistesleben in den Abgrund einer geisttötenden, kulturlosen Kommerzialisierung und Industrialisierung. Das Geistesleben würde dadurch um so leichter die Propagandazentrale eines nur von nationalistischen und wirtschaftlichen Interessen bestimmten bürokratischen Einheitsstaates werden. Dieser müßte seine Tätigkeit schließlich vollkommen auf die Ausübung illusionärer Spiegelfechtereien, des Gewissenszwanges und der physischen Gewalt gründen.

Zu den verhängnisvollen Fehlern einer Kapitalbetätigung, welche in einseitiger Art verstanden und ausgeübt wird, gehört im Zeitalter der industriellen Wirtschaftsweise das starre Festhalten an der Praxis des

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 80]

freien Marktes und der freien Konkurrenz. Beides war noch im Zeitalter des Kommerzialismus wenn auch nicht richtig so doch technisch möglich. Der Kommerzialismus ist aber Ende des 19. Jahrhunderts durch den Industrialismus abgelöst worden, für den man nicht die kommerzialistischen Denk- und Lebensgewohnheiten straflos aufrecht erhalten darf. Im Zeitalter des machtvoll fortschreitenden und weltweiten Industrialismus des 20. Jahrhunderts sind »freier Markt« und »freie Konkurrenz« nur noch unzeitgemäße Verwirklichungen eines lebensfremden, illusionären Denkens oder Fiktionen, welche einer antisozialen Machtpolitik dienen.

Der freie Markt wird als Vorbedingung für eine richtige Preisbildung durch das automatische Spiel von Angebot und Nachfrage angesehen, die freie Konkurrenz als Vorbedingung für die gemeinnützige Auswirkung der individuellen Initiative. Trotz ihrer gemeinnützigen Wirkung soll diese Initiative, so meint man, aus dem Egoismus entspringen. Dabei hat man nicht beachtet oder absichtlich die allgemeine Aufmerksamkeit davon abgelenkt, daß auch alle jene wirtschaftlichen Scheinwerte, die wir geschildert haben, zu Handelsobjekten auf dem freien Markt und so auch zu Gegenständen der freien Konkurrenz geworden sind. Und es wird nicht gesehen oder anderen der Blick dafür umnebelt, wie die unter solchen Bedingungen wirkende Konzentrierung der Kapitalsmacht und Ausdehnung ihrer Marktbeherrschung das Feld der freien Konkurrenz – und demzufolge des freien Marktes – immer mehr einschränken muß. Dies hat zu Mißständen geführt, infolge welcher die kapitallose arbeitende Bevölkerung ihre Arbeitskraft als »Ware« mit dem Mittel der Gewerkschaftsorganisation konkurrenzlos monopolisiert und sie dadurch ebenfalls der Preisbildung durch den freien Markt entzieht. Auf dem Wege über politische Parteibildung wirkt sich dann die Wirtschaftsmacht beider Seiten durch das Eindringen egoistischer Wirtschaftsinteressen in die Rechtssphäre aus.

Am Ende einer solchen Entwicklung kann nur die Übernahme der Wirtschaft durch den Staat liegen. Dies muß so sein, weil die Wirtschaft infolge eines unwirklichkeitsgemäßen Denkens der wirtschaftenden Menschen darauf verzichtet, sich selbst aus ihren eigenen Le-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 81]

bensbedingungen heraus eine zeitgemäße Organisation zu geben. Diese Organisation muß eine solche sein, welche ihre Gesundheit nach außen durch Warenpreise kundgibt, die beim Produzenten die Produktion in Fluß halten und für welche die Konsumenten die Mittel aufbringen können. Eine solche vom Staate unabhängige Organisation muß durch sinnvolle Ausdehnung der Anwendung des Prinzips der Arbeitsteilung und Arbeitsverbindung in der Richtung seiner letzten Konsequenz gebildet werden. Sie liegt in der Begründung einer assoziativen Wirtschaft.

Der gleiche sachliche Grundsatz, welcher der Arbeitsgliederung innerhalb eines einzelnen Unternehmens die Richtung gibt, muß auf die Wirtschaft als ein organisches Ganzes ausgedehnt werden. Die Einzelunternehmen schließen sich mit anderen Unternehmungen unter sachlichen Gesichtspunkten zusammen. Solche sachlichen Gesichtspunkte können sein: Herstellung von Waren gleicher oder ähnlicher Art, Zulieferung von Zubehör, Teilerzeugnissen, Halbfabrikaten, Rohstoffen usw., Inanspruchnahme von Transporteinrichtungen, Nachrichtenwesen und Verkehrseinrichtungen; gemeinsames Interesse der Konsumenten bestimmter Waren; Verbindung mit dem Bankwesen und dem Geldverkehr; Zusammenschluß mit Unternehmen, welche der Verteilung dienen, wie Großhandel, Kleinhandel usw. Mit der Verfolgung einer ungesunden Monopolisierungstendenz hat dies alles nichts zu tun, wenn die geschilderten Voraussetzungen berücksichtigt werden. Im Gegenteil, das zweckmäßige Zusammenwirken von Assoziationen verhindert durch seine eigene Natur Monopol- und Trustbildung, ohne eine besondere Gesetzgebung hierfür zu benötigen, weil der Antrieb zur Monopolbildung fortfällt: die Preisbildung zum Zwecke der höchsten Kapitalverzinsung willkürlich zu bestimmen. Nur durch eine assoziative Gestaltung der Wirtschaft bis in ihre letzten Verzweigungen hinein ist die Möglichkeit einer sachlichen Zusammenarbeit innerhalb der Produktion und deren organischer Verbindung mit der Konsumtion gegeben. Dabei würde die Preisbildung innerhalb der Zirkulation nicht mehr dem Zufall des freien Marktes und dem Preisdruck durch die Konkurrenz ausgesetzt sein. Beides wäre durch wirtschaftliche Organe zu ersetzen, welche die Preisbil-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 82]

dung in verantwortlicher Zusammenarbeit mit den Produzenten-, Konsumenten- und Verteilungsassoziationen in die angedeutete Richtung bringen. Die Preisbildung wird dadurch zu einer verantwortlichen Bewußtseinsangelegenheit. Die Entwicklung der Wirtschaft hört auf, von ihrem Durchgang durch Krisen und von deren Intervallen abhängig zu sein. Sie wird abhängig von den menschlichen Bedürfnissen und den Fähigkeiten, diese zu befriedigen. Die Wirtschaft wird zur übersehbaren Angelegenheit der Vernunft des Menschen und seines sozialen Willens. An die Stelle der Sozialisierung der Produktionsmittel durch den Staat tritt die Sozialisierung des Willens durch die Individualität, welche das soziale Hauptgesetz nicht nur erkennt, sondern auch erfüllt.

Der ungesunde Impuls, nur zum Zwecke der Kapitalvermehrung zu produzieren, muß unter solchen Voraussetzungen seine Antriebskraft verlieren. Kapitalvermehrung wird Nebenerscheinung und hört auf, Ursache und Zweck der Produktion zu sein. Deshalb kann die Übertragung von Produktionsmitteln und von Investitionssummen nicht mehr von dem Impuls der Kapitalvermehrung bestimmt sein, weil dabei nur der Gesichtspunkt der Befriedigung des allgemeinen Bedarfes maßgebend ist. Dadurch nimmt auch der Kreditverkehr eine neue und gesunde Form an. Er wird auf gerechtfertigtem sozialem Vertrauen beruhen. Das Profitstreben wird seine Bedeutung verlieren müssen, weil der Profit sachlich nur seine Berechtigung im Zusammenhang mit dem freien Markt hat und dort das Erkennungszeichen für die Möglichkeit der rentablen Herstellung einer Ware bedeutet. Innerhalb der assoziativen Wirtschaft wird nicht die Möglichkeit des Profites, sondern die von den Konsumentenverbänden festgestellte Notwendigkeit, eine fehlende Warengattung zu produzieren, den Anlaß dazu geben, daß das für die Herstellung erforderliche Kapital eingesetzt wird. Innerhalb solcher Assoziationszusammenhänge können Defizite beim Verkauf notwendiger Erzeugnisse, für welche angemessene Preise nicht erzielbar sind, ohne Schwierigkeiten ausgeglichen werden.

Erst im Lichte der Idee der sozialen Dreigliederung erscheint das Wirtschaftsleben in seinem wahren Wesen. Die Assoziationen ermög-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 83]

lichen eine Urteilsbildung aus dem Schatze der vorhandenen Sachkunde heraus. Gemeint ist eine Urteilsbildung, welche ein Ergebnis des Zusammenflusses der vielen Einzelurteile der Sachkundigen ist. Zu der Teilung und Verbindung der Arbeit und der Verteilung ihrer Erzeugnisse im Sinne des sozialen Hauptgesetzes kommt das von den wechselnden Situationen bedingte freie Zusammenwirken der individuellen Erfahrungsurteile hinzu. Die Assoziation von wirtschaftlichen Interessen und Betätigungen bedeutet zugleich eine Assoziation von wirtschaftlichen Erfahrungsinhalten. Der Wirtschaftsorganismus bildet in dieser Weise etwas wie ein geistiges Organ aus: den »objektiven Gemeinsinn«, wie Rudolf Steiner dieses Organ nannte, welches das »laisser faire« ebenso wie den Sozialisierungswahn ersetzen muß.

Von anderen Gesichtspunkten aus wird die Wirtschaft in den Kapiteln über das Recht und das Geistesleben behandelt werden. Ergänzungen wird man im zweiten Teile dieser Schrift finden. In diesem Kapitel sollte nur geschildert werden, was zwischen Natur- und Rechtsordnung als Wirtschaftsglied des sozialen Organismus zu betrachten ist und aus seinem eigenen Wesen heraus nach einer zeitgemäßen Umwandlung und als Grundlage für diese nach einer umfassenden Sozialerkenntnis verlangt.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 84]

FÜNFTES KAPITEL

DER MENSCH UND SEIN RECHT

Von besonderer Wichtigkeit für die Soziologie ist die Berücksichtigung des Anteiles, welchen das Recht an der Gesellschaftsbildung und an der Erhaltung und Weiterentwicklung des sozialen Organismus hat. Ohne Rechtsordnung wäre dieser so wenig lebensfähig wie ein menschlicher Organismus, dem das rhythmische System der Atmung und des Blutkreislaufes fehlen würde. Und wie der Rhythmus sowohl Gliedmaßen-Stoffwechsel- als auch Sinnes-Nervensystem durchdringt, so erstreckt sich das sozial-ordnende Wesen des Rechtes bis in die feinsten Verzweigungen des Geistes- und des Wirtschaftslebens. Es schafft die allgemein-menschliche Grundlage dieser beiden Sozialsphären, ohne deren Eigenart zu bestimmen oder zu beeinflussen, wenn es seinem wahren Wesen treu bleiben will.

Ein einfaches Beispiel mag dazu dienen, den Weg zu einem tieferen Verständnis für das Wesen des Rechtes aufzuschließen. Ein Kunde betritt einen Verkaufsladen und ersteht einen Gegenstand. Käufer und Verkäufer begrüßen einander und tauschen zunächst einige freundliche Bemerkungen über etwas aus, was mit dem beabsichtigten Kauf-Verkauf-Vorgang gar nichts zu tun hat. Dieses ist ein Ausdruck einer geistig-kulturellen Beziehung, mag das Geäußerte auch noch so konventionell und belanglos erscheinen, wie z. B. eine Bemerkung über das Wetter. Der Kauf-Verkauf-Vorgang selbst dagegen ist ein wirtschaftlicher und ein Ausdruck der Tatsache, daß Käufer und Verkäufer, als Angehörige des Wirtschaftslebens, Leistung und Gegenleistung austauschen. Doch stehen beide noch in einer dritten Beziehung zueinander, indem sie der gleichen Rechtsordnung angehören. Sie stehen unter der gleichen Jurisdiktion. In einem solchen Falle, in welchem von den Beteiligten das Hauptinteresse auf den Austausch-Vorgang, d. h. auf ihre gegenseitige wirtschaftliche Beziehung gerichtet ist, kommen die geistige und die rechtliche Beziehung kaum zum Vorschein. In bezug auf den Rechtszusammenhang ändert sich das

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 85]

in dem Augenblick, da der eine der beiden Beteiligten glaubt, daß der andere seine Verpflichtungen nicht erfüllt hat, sei es durch Zahlung eines geringeren Geldbetrages als vereinbart, sei es durch Aushändigung einer Ware, welche der vereinbarten Qualität oder Quantität nicht entspricht. Die Tatsache, daß beide Beteiligte einer Rechtsordnung angehören, kommt durch die verletzte Rechtsempfindung zum Bewußtsein. Sie erinnern sich daran, daß Kauf-Verkauf nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein Rechtsvorgang ist. Dieser hat den Charakter eines Vertrages, welcher durch das Recht geschützt ist und für dessen Erfüllung der Staat im Falle eines Rechtsbruches zu sorgen hat.

Innerhalb des sozialen Lebens gibt es keinen Vorgang, an welchem diese drei Grundbeziehungen zum sozialen Organismus nicht irgendwie nachweisbar sind. Die Beziehung der beiden Geschlechter zueinander macht, um nur eines zu nennen, hiervon keine Ausnahme. Schon die elementarsten Paarungsinstinkte lassen sich durch die Form, in welcher sie seelisch im sozialen Dasein auftreten, auf geistige Impulse, wenn auch zunächst als unbewußte und veredelbare, zurückführen. Und daß die Ehe auch ihre rechtliche und wirtschaftliche Seite hat, braucht hier nicht besonders betont zu werden. Worauf es aber ankommt, ist die Notwendigkeit, daß der Soziologe bei Betrachtung der Gesellschaftsbildung die vollkommene Verschiedenartigkeit der drei sozialen Grundbeziehungen nicht aus dem Auge verliert, was für ein Spezialproblem er auch immer zu behandeln hat.

Die Anschauung der drei Grundbeziehungen des Menschen zum sozialen Organismus, wie sie durch unsere vorangegangenen Ausführungen zur Darstellung gekommen ist, bewahrt davor, in abstrakter Weise über das Wesen des Rechtes zu philosophieren. Man hat durch ein solches lebensfremdes Philosophieren das Zustandekommen des Rechtes entweder auf die geschichtlichen Entwicklungsformen der politischen Macht, oder des reinen Geistes in seiner irdischen Auswirkung oder aber der wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen versucht. Dadurch sollten die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse und das Wesen des modernen Rechtsstaates wissenschaftlich erklärt und Ideen für seine Weiterentwicklung gewonnen werden. Die verschieden-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 86]

artigen Auffassungen von der Natur des Menschen spielten bei solchen einseitigen Darstellungen der Entwicklung des Rechtes die entscheidende Rolle. Tatsächlich kommen im Sinne der Menschennatur, wie sie von uns im Sinne der Anthroposophie geschildert worden ist, alle drei Faktoren – der rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle – als relativ selbständige in Betracht. Die Metamorphose des Zusammenwirkens der drei Faktoren kann vom besonderen Gesichtspunkte der Rechts- und Staatsbildung auch innerhalb der geschichtlichen Entwicklung in fruchtbarster Weise verfolgt werden. Trotzdem soll der geschichtliche Aspekt zunächst außer Betracht bleiben. Er wird später um so besser verständlich sein, je vollkommener es uns vorher gelingt, eine Erkenntnis des wahren Wesens des Rechtes aus einer wirklichkeitsgemäßen Betrachtung der Gegenwart zu gewinnen.

Unsere unmittelbare Gegenwart gehört dem Zeitalter der Bewußtseinsseele an, welches im 15. Jahrhundert seinen Anfang genommen hat. Erst ein Viertel des ihr zugemessenen Zeitraumes ist von der Bewußtseinsseele durchschritten worden; sie steht daher gegenwärtig noch am Anfange ihrer Entwicklung. Seit dem Ausgange des Mittelalters hat das Ich-Bewußtsein einen Stärkegrad erreicht, welcher es ermöglichte, daß der zur denkenden Einzelpersönlichkeit erwachte Mensch des abendländischen Kulturkreises nicht nur die Wirtschaft aus ihrer traditionsgebundenen Zunft- und Ständeorganisation befreite, sondern auch das Geistesleben in bezug auf Wissenschaft, Kunst und Erziehung in entscheidendem Maße aus der Organisation der Kirche herauslöste. Zu gleicher Zeit entwickelte er den in England schon keimhaft vorhandenen Parlamentarismus als die technische Methode für die Begründung und Entwicklung der demokratischen Rechtsordnung und die Zusammenfassung der Volksangehörigen in einen Rechtsstaat. Die führenden abendländischen Völker, einschließlich des amerikanischen, legten den Weg der Umwandlung in Nationen und dieser in demokratische Rechtsstaaten in sehr kurzer Zeit zurück. Der demokratische Rechtsstaat ist in seinem Wesen dadurch charakterisiert, daß die ihrer selbst bewußt gewordenen Menschen in geistiger, rechtlicher und wirtschaftlicher Beziehung in den Vordergrund treten und für die Gestaltung des sozialen Organismus

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 87]

maßgebend werden. Die Individualität, welche immer schon der unbewußt-potentielle Mittelpunkt der Gemeinschaft war, wird nun in der Form der Persönlichkeit auch der bewußt-aktuelle Mittelpunkt des Ganzen.

Individualität und Persönlichkeit sind im Erkenntnislichte der Geisteswissenschaft nicht ein und dasselbe. Unter Individualität muß das ewige Wesen des Menschen, welches im Laufe der Entwicklung für seine Vervollkommnung durch eine Reihe von Erdenleben hindurch sich wiederverkörpert, verstanden werden. Die Persönlichkeit ist die karmagemäße zeitliche Ausdrucksform der Individualität während eines Erdenlebens, und diese gliedert sich die Lebensfrüchte jener ein; sie verleiht ihnen Ewigkeitswert. Diese Tatsache macht es der Geistesforschung möglich, durch geistgemäße Anschauung einer Individualität deren vergangene Lebensläufe als Vorbedingungen ihres im letzten Lebenslaufe sich gestaltenden Karmas zur übersinnlichen Erkenntnis zu bringen. Eine Individualität erscheint also im Laufe der Zeit in einer Reihe von Persönlichkeitsformen, durch welche ihr in früheren Inkarnationen vorbereitetes Karma ausgelebt und das Schicksal des nächsten Erdenlebens begründet wird.

Während der ersten keimhaften Entfaltung der Bewußtseinsseele bis zur Begründung der anthroposophisch-orientierten Geisteswissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Rudolf Steiner war diese Wahrheit von der tatsächlichen Beziehung der Persönlichkeit zur Individualität der öffentlichen Wissenschaft nicht bekannt. In der Entwicklung der drei Glieder des sozialen Organismus wurde nur der Einzelmensch als Persönlichkeit berücksichtigt, nicht das wahre Wesen der Individualität. Und da die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten sich nur langsam gegenüber den verfestigten Denkgewohnheiten durchsetzen können, ist heute die Nachwirkung des allerersten Stadiums der Entfaltung der Bewußtseinsseele für die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten maßgebend. Diese allgemeine Nachwirkung eines vergangenen Zustandes trotz eines im Stillen bereits vorhandenen Fortschritts ist die verhängnisvolle Ursache der gegenwärtigen Verworrenheit des sozialen Lebens. Dieses gilt ganz besonders von der heutigen Erscheinungsform der demokra-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 88]

tischen Rechtsordnung, welche in ihrem wahren, jetzt noch unentwickelten Wesen allein für das Zeitalter der Bewußtseinsseele in Betracht kommen kann. Das kann nicht anders sein, weil die Demokratie selbst ihr Dasein der gesellschaftsbildenden Kraft der Bewußtseinsseele verdankt. Demokratische Formen antiker Staatsgebilde sind nur Vorformen der Demokratie im neuzeitlichen Sinne. Man denke an den Ausschluß der arbeitenden Bevölkerung – der Sklaven – von der Mitarbeit an der Gestaltung der Rechtsordnung. Die neuzeitliche demokratische Rechtsordnung muß nur sinngemäß unter den veränderten wirtschaftlichen und zivilisatorischen Lebensbedingungen des 20. Jahrhunderts weitergebildet werden. Aber eine solche Weiterbildung ist nur unter der Bedingung möglich, daß der wesentliche Unterschied zwischen Persönlichkeit und Individualität im Sinne des Wiederverkörperungs- und Schicksalsgesetzes ebenso zum selbstverständlichen Inhalt der Allgemeinbildung wird wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

Die demokratische Rechtsordnung hat ihre Bedeutung darin, daß jeder mündige Mensch von jedem anderen mündigen Angehörigen seines Volkes erwartet, daß dieser sich ein Urteil zu bilden vermag über die rechte gegenseitige Beziehung aller Volksangehörigen und über die Art, wie für alle und dadurch auch für ihn selbst im Rahmen dieser Beziehungen die Menschenwürde am wirksamsten gewahrt bleibt. Die Mängel einer jeden Rechtsordnung werden stets durch das Gefühl der verletzten Menschenwürde bewußt. Wie das Dasein und der innere Zusammenhang der im Bereiche des Unbewußten arbeitenden Stoffwechsel-Organe erst dadurch gefühlsmäßig ihrem Eigner bewußt werden, daß dieses oder jenes Organ verletzt wird, so wird innerhalb des sozialen Organismus das Recht durch seine Verletzung gefühlsmäßig bewußt. Psychologisch gesehen, urständet das Recht nicht im Wollen oder Denken, sondern im Fühlen. Die durch das Fühlen vermittelte Rechtsempfindung kann zum Gegenstande der Selbstbeobachtung und damit auch des Denkens werden. In diesem Felde wird die halbbewußte Rechtsempfindung, welche durch das Gefühl der verletzten Menschenwürde aus der unbewußten Willenssphäre aufsteigt, zum Inhalte des Rechtsbewußtseins erhoben. Dieses

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 89]

vermag sich dann auf den äußeren sozialen Zusammenhang zu richten, um entsprechende Ideen für Maßnahmen (Gesetze usw.) zur Wiederherstellung der verletzten Menschenwürde zu finden. Also auch hier kommt das rechte Zusammenspiel von denkender Selbst-und Weltbeobachtung in Betracht.

Ein solches Rechtsbewußtsein kann sich entweder auf Grund eigener Erlebnisse infolge unwürdiger Behandlung oder infolge des Mitgefühls mit der allgemeinen sozialen Lage oder mit den besonderen Erfahrungen anderer ausbilden. Für die Demokratie kommt es auf die allgemeine Urteilsfähigkeit an als Grundlage für die Herstellung von Rechtsbeziehungen des Einzelwesens zum Ganzen im Sinne der Gleichheit vor dem Gesetze. Über das Gesetz selbst müssen sich die Mitglieder der Gemeinschaft oder deren gewählte Vertreter untereinander zwecks allgemeiner Sicherung der Menschenwürde verständigen. Das Verständigen über das Gesetz erwächst aus der seelischen Grundlage der sozialen Beziehungen, der gemeinsamen Sprache. Es ist das Ergebnis einer gemeinsamen Besprechung und der für diese geschaffenen Institution des Parlamentes. Das Wesen des demokratischen Rechtes – die Gleichheit –, gegründet auf die durch die Sprache geltend gemachte Urteilsfähigkeit eines jeden, tritt noch deutlicher hervor, wenn es mit der ganz anderen Art verglichen wird, welche durch Wirtschafts- und Geistesleben von der Betätigung der Urteilsfähigkeit durch die andersartige Natur dieser Gebiete verlangt wird.

Das Wirtschaftsleben kann das zu einer gegebenen Zeit vorhandene allgemeine Niveau der Urteilsfähigkeit nicht zur Grundlage für seine Organisation haben. Hier muß ein durchaus individuelles Urteil gelten, welches aus der Sachkunde und Erfahrung hervorwächst, wie sie nur die Früchte der Tätigkeit auf einem Spezialgebiete der Wirtschaft sein können. Hier kommen Niveauunterschiede in der Urteilsfähigkeit in Betracht. Die wirtschaftliche Produktion gliedert sich, wie geschildert, in Teilfunktionen, welche sich in Verantwortungskreisen von verschiedener Reichweite auswirken. Selbst die verantwortliche Verwaltung einer großen Kapitalsumme kann notwendigerweise nur ein Teilgebiet der Wirtschaft umfassen. Die Erfahrungsinhalte und

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 90]

Fähigkeiten der Verantwortlichen erweisen sich beim Vergleich solcher Verantwortungskomplexe in ihrer individuellen Natur. Das gilt auch für den Vergleich der unbedeutendsten Teilfunktionen. Deshalb können auch die individuellen Urteilsinhalte keine gleichen sein. Die Einführung eines demokratischen Gleichheitssystems in die Wirtschaft und seine Ausgestaltung innerhalb derselben ist nicht möglich, ohne zugleich der Wirtschaft die Lebensgrundlage zu entziehen. Es kann sich nur um das organische Zusammenwirken von individuellen Urteilen und Fähigkeiten, sowie um die Übertragung von produktiven Aufgaben auf der Grundlage von spezifischer Sachkunde und Erfahrung handeln.

Das Wesen der Wirtschaft ist nicht in der Gleichheit aller einzelnen vor dem Gesetze, sondern in der Brüderlichkeit des Zusammenwirkens der Träger ungleicher Funktionen wie auch in der Brüderlichkeit des Verteilens des gemeinsam erarbeiteten Sozialproduktes begründet. Weder die Zuteilung der wirtschaftlichen Arbeitsaufgaben noch die Verteilung der Erzeugnisse kann ohne Schaden für das Ganze nach dem Prinzip der Gleichheit vorgenommen werden. Die individuellen Bedürfnisse und die Art ihrer Befriedigung müssen nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv als Voraussetzung für die Erfüllung verschiedenartiger Aufgaben verschiedenartig sein. In dieser Notwendigkeit ist der Grund für die Unmöglichkeit einer Aufteilung des Sozialproduktes zu gleichen Teilen zu sehen. Der Geschäftsführer eines Unternehmens hat einen anderen berechtigten persönlichen Aufwand als der Arbeiter an der Maschine, dieser einen anderen als der Schreiber auf dem Kontorbock; der Leidende bedarf einer anderen Nahrung als der Gesunde, um arbeitsfähig zu bleiben usw. Im Hinblick auf die Gleichheit des Rechtes ist nur von dessen außerhalb der Wirtschaft liegendem Verwaltungsbereich aus darüber zu wachen, daß die innerhalb der Wirtschaft abgeschlossenen Arbeitsverträge nicht dem allgemeinen Urteil in bezug auf das Wesen der Menschenwürde widersprechen. Zu dieser gehört auch die Möglichkeit, einen zeitgemäßen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Die grundsätzliche Trennung von Rechts- und Wirtschaftsordnung würde die Wirkung haben, daß die durch Verfügung über Produktionsmittel oder durch Monopoli-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 91]

sierung der Arbeitskraft begründete Macht keinerlei Einfluß auf die Art der Arbeits- und Leistungsverträge haben kann. Daß ein solches Verhältnis der assoziativen Wirtschaft zur demokratischen Rechtsordnung dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechen würde, braucht nicht bewiesen zu werden. Die Idee dieses Verhältnisses empfängt von dem Rechtsempfinden unmittelbar ihre Sanktion. Wo dem nicht so ist, belügt sich der Mensch über seine eigenen Gefühle.

Ebensowenig wie die Wirtschaft kann das Geistesleben auf dem Prinzip der Gleichheit gegründet sein. Das Wesen der Kultur als Zusammenhang von Wissenschaft, Kunst und Religion ist die Freiheit. Würde man das Wirtschaftsleben für das Feld der Freiheit halten, so muß sie dort den Charakter unbrüderlicher, egoistischer Interessen annehmen, während sie innerhalb der Rechtsordnung zum Antrieb für politische Machtbestrebungen wird. Im Bereiche des Geisteslebens ist die Freiheit die Lebensluft des Menschen. Hier lernt er in Freiheit urteilen, indem er die Wahrheit sucht und erkennt; hier erlebt er den Ausdruck der Wahrheit als Schönheit in der freien Kunst; hier erhebt er sich im freien Willen zur Durchdringung mit dem Guten und dadurch zum kulturellen Schaffen. Sein höheres Selbst befreit sich von dem niederen und verwandelt es.

Im Geistesleben kommt es daher nicht auf die bloße Urteilsfähigkeit an, weder auf die allgemeine noch auf die individuelle, sondern auf die Individualität selbst in ihrem von wirtschaftlichen und Rechtsinteressen unabhängigen Schöpfertum. Durch ihre Auswirkung auf das soziale Ganze heben die freien Taten des kulturellen Lebens das allgemeine Rechtsbewußtsein in sittlicher Beziehung auf immer höhere Stufen und veredeln die wirtschaftlichen Interessen.

Die außerhalb der Kultursphäre auf dem Boden der Gleichheit sich entwickelnde Rechtsordnung muß das Recht eines jeden auf Erziehung und Teilnahme an den kulturellen Einrichtungen sichern. Die Art, wie erzogen und ausgebildet wird und sich kulturschöpferisch betätigt, muß sowohl in die Freiheit der Verwalter des Geisteslebens als auch die eigene gestellt sein. Ebenso sorgt die Rechtsordnung für den Schutz von Leben, Eigentum, Arbeits- und Leistungsverträgen usw. innerhalb des institutionellen Zusammenhanges des Geistes-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 92]

leben, wie sie es für die Wirtschaft in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Rechtsempfinden tut. Begründung und Verwaltung der kulturellen Institutionen ist eigenste Angelegenheit des Geisteslebens. Dieses gibt sich in dieser Beziehung seine Gesetze selbst. Seine Verwaltung, muß der Staatsverwaltung und der Verwaltung der Wirtschaft vollkommen selbständig gegenüberstehen.

Die Idee von der Dreigliederung rückt auch das Problem, inwieweit das Zusammenspiel von Minorität und Majorität an der Gestaltung der sozialen Verhältnisse mitwirken darf, in das Licht der Sozialerkenntnis. Entscheidungen auf Grund dieses Zusammenspieles sind nur auf dem politischen Gebiet der Begründung und Weiterentwicklung der Rechtsordnung in lebenspraktischem Sinne möglich. Wo dies nicht beachtet wird, trägt man politische Methoden in die Wirtschaft und in das Geistesleben hinein, zerstört beide und von dort aus auch die Demokratie. Die Wirkung eines solchen politischen Zusammenspieles ist innerhalb des wirtschaftlichen Gebietes schon aus dem Grunde entgegen dem Wesen der Wirtschaft, als Minorität und Majorität dort naturgegebene Größen sind. Diese kann man auch durch die geschickteste politische Agitation nicht ändern. Infolge der Zahl der an der wirtschaftlichen Produktion nicht Mitarbeitenden (Kinder, Greise, Kranke, Vertreter des reinen Geisteslebens und Staatsbeamte, welche unmittelbar keine konsumfähigen Wirtschaftsgüter herstellen) stellt die Summe der reinen Konsumenten gegenüber derjenigen der Produzenten immer die Majorität dar. Daß das politische Prinzip des Minorität-Majoritäts-Verhältnisses auch nicht in den Umkreis der produzierenden Minorität hineingetragen werden darf, ist schon gezeigt worden.

Noch weniger darf das politische Zusammenspiel von Minorität und Majorität in das Gebiet des Geisteslebens hineingetragen werden, um die Richtung seines Wirkens und seiner Entwicklung zu entscheiden. Hier ist das Verhältnis nicht, wie in der Wirtschaft, naturgegeben, sondern aus der höheren Geistnatur des Menschen heraus geistgeschaffen. Als ein solches wirkt es sich in der Weise aus, daß es in jedem einzelnen Menschen zu finden ist. Dieser steht als einzelne Individualität, d. h. als Minorität im Extrem, dem Universell-Geistigen (der

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 93]

»Majorität«) in dessen kultureller Offenbarung gegenüber. In dem Maße, wie die Individualität die Impulse des Geistes durch Erkenntnis zum Inhalte ihres Bewußtseins macht und zu Motiven des schöpferischen Handelns erhebt, stellt sie selbst etwas dar, was der Macht einer Majorität gleichkommt. Im inneren Zusammenspiel dieser individuellen »Minorität« und »Majorität«, welches außerhalb jeder parlamentarischen Technik steht, entwickelt sich der geistige Mensch. Er trifft in Freiheit seine eigenen Entscheidungen als Ergebnis seines »Gesprächs« mit dem Wesen der geistigen Welt in seinem eigenen Recht. Dieser Vorgang liegt jenseits des politischen Gebietes, innerhalb dessen der Mensch mit anderen Menschen sprechen und sich mit ihnen auf Grund des Minoritäts-Majoritätsprinzips über die Art der Geltendmachung gemeinsamer Interessen verständigen muß. Im Bereiche des Geisteslebens gleicht sich Minorität mit Majorität aus, weil diese in jedem Menschen als unberechenbare Größen vorhanden sind. Sie sind mit keinem irdischen Maßstab zu messen und im Sinne des Meßbaren gar nicht existent.

Getreu der gewählten Verfahrensweise ist auch für die Darstellung des Rechtswesens die Idee des gesunden dreigliedrigen Sozialkörpers zugrunde gelegt worden. Von diesem Hintergrunde hebt sich der Mißbrauch des Rechts, wie er in einer in ihrer Entwicklung stehengebliebenen Demokratie möglich ist, deutlich ab als eine der Hauptursachen der Korrumpierung des sozialen Lebens. Die Ansatzpunkte für eine zeitgemäße Weiterentwicklung der demokratischen Rechtsverhältnisse werden dadurch sichtbar. Auch wird hierdurch ein Licht auf die Versuche geworfen, welche von einer grundsätzlichen Verwerfung der Demokratie ausgehen und sich in der Richtung auf Begründung und Ausgestaltung einer kollektivistischen Staatsordnung bewegen. Eine solche kann nicht geistgemäß sein, weil sie dem Wesen der Bewußtseinsseele widerspricht. Die kollektivistische Staatsordnung macht die aktive Teilnahme des einzelnen an der Entwicklung der Rechtsordnung in Unabhängigkeit von seiner sonstigen Stellung und auf Grund seiner freien Urteilsbildung unmöglich.

Auch unter vorläufiger Nichtberücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung des Rechtes kann erkannt werden, daß im Mittelpunkte aller

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 94]

demokratischen Rechte und der sie festlegenden Staatsgesetze das Eigentumsrecht steht. Dieses hat sich seit der Adoptierung des römischen Rechtes durch die europäischen Völker, welche die neuzeitliche Demokratie begründet und unter Opferung von viel Blut und Energie entwickelt haben, grundsätzlich nicht geändert. Das Eigentumsrecht besagt, daß der Eigentümer einer Sache unabhängig von deren Größe, allgemeiner wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung mit seinem Eigentum nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Er ist berechtigt, alle anderen Menschen von der Einwirkung auf sein Eigentum und von der Nutznießung desselben auszuschließen. Es ist sein Privateigentum. Man muß den Eigentumsbegriff in einer solchen klaren Weise fassen und dabei davon absehen, daß die neuzeitlichen Lebensbedingungen zu einer gewissen, unbedingt notwendigen Einschränkung der antisozialen Auswirkung dieses Begriffes gedrängt haben. Das Enteignungsrecht – mit Entschädigungspflicht – des Staates, die wachsende Besteuerung des Eigentums, gewisse gesetzliche Verpflichtungen für seine Instandhaltung und Pflege sowie für hygienische Vorkehrungen gehören hierher. In seiner grundsätzlichen Bedeutung ist aber das zur festen demokratischen Tradition und Institution gewordene Privateigentum unangetastet geblieben. Sein starrer Rechtsbegriff entspricht jedoch nicht mehr den Lebensbedingungen einer Wirtschaft, welche jetzt durch den Industrialismus in ihrer Form und Funktion bestimmt ist.

Zu dem Grund und Boden als Produktionsmittel sind in steigendem Maße die produzierten Produktionsmittel gekommen. Beide Arten von Produktionsmitteln verbinden sich miteinander zur Kapitalgrundlage der neuzeitlichen Wirtschaft. Diese Kapitalgrundlage ist im Sinne der geltenden demokratischen Rechtsbegriffe, d. h. formal-juristisch, Privateigentum. Tatsächlich ist sie aber auch als Ganzes die Existenzgrundlage der gesamten Wirtschaft. Es kann keine Frage sein, daß das Wohl der Gesamtheit von der Sachkunde, Erfahrung und dem sozialen Willen der diese Produktionsmittel verwaltenden Eigentümer oder deren Beauftragten abhängt. Im Sinne dessen, was im vorigen Kapitel über das Wesen des Kapitals und seiner sozialen Wirksamkeit gesagt wurde, ist es klar, daß man hier nur von einem Verwaltungseigentum

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 95]

sprechen kann. Die zwingende Logik des arbeitsteiligen und industrialisierten Wirtschaftsprozesses verlangt es, daß dieses Verwaltungseigentum nur solange in der freien Verfügung der Bevollmächtigten bleiben darf, als sie es für die Herstellung benötigter Erzeugnisse wirksam verwalten. Anders läßt sich die Wirtschaft nicht auf den Weg ihrer notwendigen assoziativen Gestaltung bringen. Der neue Rechtsbegriff des Verwaltungseigentums nimmt das Wesen der Zeit in sich auf, insofern als die Dauer der Verfügung über Produktionsmittel von der Dauer der körperlichen und geistigen Fähigkeit des Inhabers des Rechtes, seine damit verbundenen Pflichten zu erfüllen, abhängig gemacht wird.

Einer der Hauptschäden der sogenannten »kapitalistischen Wirtschaftsweise« wäre ausgemerzt, wenn das Verwaltungseigentum und die Kreditgewährung nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Träger der wirtschaftlichen Sachkunde und Erfahrung sowie der Dauer von deren. Leistungsfähigkeit in Fluß kämen. Die individuelle Initiative für die Erzeugung der notwendigen Wirtschaftsgüter würde durch eine wirklichkeitsgemäße Metamorphose des Eigentumsbegriffes nicht nur nicht gelähmt, sondern in wirksamster Weise von inneren und äußeren Hemmungen befreit werden.

Zu dieser Metamorphose des Eigentumsbegriffes gehört nicht die Abschaffung des wahren Privateigentums, sondern seine Erhaltung, indem man es im Rahmen der Rechtsordnung vom Verwaltungseigentum streng unterscheidet. In das private Eigentum darf nur das übergehen, was jemand als Gegenleistung für seine individuelle Arbeitsleistung erhält. Es versteht sich von selbst, daß es zu den Bedingungen eines wahrhaft sozialen Lebens gehört, solche Gegenleistungen in einer Weise zu bemessen, welche Ersparnisse zum Zwecke größerer Anschaffungen bzw. deren Abgeltung, gestattet. Auch das Recht zum Gebrauch und zur Nutznießung von Grundstücken, von berechtigten Zinsen für verliehene Geldsummen usw. braucht durch diesen Begriff des Privateigentums nicht angetastet zu werden, ebensowenig wie das Recht zur Übertragung des Eigentums auf andere. Das Privateigentum wird aber so in seiner Wirksamkeit in einer Weise begrenzt, wie sie in sozialer Hinsicht notwendig ist.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 96]

Auch hier kann das Kriterium für eine solche Metamorphose des Eigentumsbegriffes nur die Befriedigung des allgemeinen Rechtsempfindens sein. Dieses verlangt, daß die vorhandene Potenzialität der Wirtschaft (Naturgrundlage, Arbeit und Kapital in ihrem Zusammenwirken) im Interesse des Ganzen fruchtbar gemacht wird. Eine kollektivistische Wirtschaft als Dienerin des absoluten Machthabers »Staat«, welcher seine Verwaltung auch auf das Geistesleben erstreckt, ist hierzu nicht in der Lage, denn sein »Recht« beruht nur auf seiner äußeren Macht. Dagegen muß die relative Macht des demokratischen Staates auf ein Recht gegründet sein, welches, sofern Verfügungsrechte in Betracht kommen, durch den Willen und die Fähigkeit der Inhaber dieser Rechte zur Erfüllung von übernommenen Pflichten gerechtfertigt ist.

In diesen Zusammenhang gehören auch die Rechte zur produktiven Ausnutzung von technischen Ideen, Erfindungen und dgl. Diese Rechte fallen nicht unter den Begriff des Privateigentums, sondern unter denjenigen des Verwaltungseigentums, nicht nur, weil solche geistige Errungenschaften eine allgemein-wirtschaftliche Bedeutung haben, sondern ohne Mithilfe des ganzen sozialen Lebens gar nicht hätten zustande kommen können. Geistige Errungenschaften widersprechen durch ihre eigene Natur der Gewohnheit, sie auf die Dauer privates Eigentum sein zu lassen. Daß die Entschädigung und Erhaltung ihrer Träger dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechen muß und unter den Ausbau der Rechte zum Schutze »geistigen Eigentums« (besser: »geistiger Leistungen«) fallen, versteht sich von selbst. Für einen solchen Ausbau wird man das Rechte treffen, wenn man ebenso wie dem Grund und Boden und den Produktionsmitteln diesen Leistungen den Warencharakter nähme. Sie dürfen für ihre Ausnutzung nur Rechtscharakter haben.

Am verhängnisvollsten hat sich der juristische Begriff des Privateigentums, die Menschenwürde verletzend, auf die menschliche Arbeitskraft ausgewirkt. Die Ausdehnung der privaten Macht über die Produktionsmittel in Verbindung mit der Illusion des freien Marktes und der freien Konkurrenz hat die Arbeit zur Ware gemacht. Das hat zu Zuständen geführt, unter denen diejenigen, welche keinen Anteil am

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 97]

Besitze der Produktionsmittel haben, auf dem Wege über wirtschaftliche Arbeiterorganisation und politische Parteibildung für eine Verbesserung dieser Zustände kämpfen. Der Kampf wird mit falschen Mitteln geführt; sein Ergebnis muß das Gegenteil dessen sein, was man erwünscht. Das Ziel des Kampfes darf nicht der Genuß des »vollen Arbeitsertrages« oder der Ersatz der demokratischen Rechtsordnung durch eine kollektivistische sein bzw. die Erreichung des einen durch das andere. Das Ziel muß eine von der Wirtschaft unabhängige Rechtsordnung sein, welche es wirksam verhindert, daß der private Besitz von Produktionsmitteln oder die Monopolisierung von Arbeitskräften als wirtschaftliches oder politisches Machtmittel eingesetzt wird. Der kontraktliche Anteil am Erlös des gemeinsamen Arbeitsergebnisses wird um so besser gesichert sein, als eine politisch unabhängige assoziative Wirtschaft durch eine von wirtschaftlichen Interessen freie Rechtsordnung geschützt wird. Das entspricht dem allgemeinen demokratischen Rechtsempfinden, weil so der Abschluß von Leistungsverträgen vor der Einflußnahme durch Machtmittel geschützt ist. Durch Anwendung solcher Machtmittel wird auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Kontraktschließung das Gefühl der Menschenwürde verletzt, wobei der Druck stets den Gegendruck verstärken muß. Es handelt sich hier nicht darum, Gruppen, die sich zur Geltendmachung ihrer berechtigten wirtschaftlichen Interessen unter gegebenen Verhältnissen zusammenschließen, ihre Machtmittel aus der Hand zu nehmen, sondern darum, einen Weg zu finden, diese Verhältnisse im sozialen Sinne aus der Einsicht heraus zu ändern. Der Einsatz der Macht wird dann unnötig und verliert überhaupt seine Bedeutung. Die Anlässe für gewaltsame Revolutionen werden fortgeschafft und der friedlichen Evolution wird der Weg bereitet.

Sollten die unter der Wirkung der Mängel der unentwickelten Demokratie entstandenen egoistischen Machttendenzen des sich organisatorisch zusammenschließenden Privateigentums weiter wachsen, so kann als Ergebnis schließlich nur ein lebensfremder Kollektivismus herauskommen. Keine individualistische Wirtschaftstheorie kann hiergegen einen Schutz bieten, weil sich das Leben nicht um abstrakte Theorien kümmert. Ein solcher wirtschaftlicher Kollektivismus würde

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 98]

durch Eroberung des Staates sich auch das Geistesleben restlos eingliedern. Genau dasselbe würde das Ergebnis einer Revolution der Gegenseite sein, welche sowieso einer kollektivistischen Weltanschauung huldigt. Monopol der Arbeitskraft und Monopol der Produktionsmittel stehen sich innerhalb der unentwickelten Demokratie in einer Weise kämpfend gegenüber, daß bei dem Sieg des einen notwendigerweise die gleiche antisoziale Ordnung herauskommen muß wie bei dem Sieg des anderen. Nur die Begründung eines dreigliedrigen sozialen Organismus kann das Heil bringen.

Ein privater Wirtschaftssektor neben einem staatlichen kann innerhalb einer Nationalwirtschaft ebensowenig auf die Dauer bestehen, wie er es im Raume der Weltwirtschaft vermag. Jeder der beiden Sektoren muß den Willen zur Ausdehnung und zum Widerstand gegen den anderen haben. Das muß die Allgemeininteressen bis zur Untergrabung der Lebensmöglichkeit des Ganzen schädigen. Zwei falsche Prinzipien können durch ihre übelberatene Verkoppelung kein richtiges und gesundes Prinzip gebären, sondern das soziale Leben nur mit einer Mißgestalt begaben, welche allein durch die Dreigliederung korrigierbar ist.

Damit ist auch hier der übernationale, allgemein-menschliche Aspekt erreicht, welcher den gesamten Ausführungen dieser Schrift zugrunde liegt. Der demokratische Impuls als solcher ist kein nationaler, weil das Wesen des Rechtes sich im Bereiche nationaler Grenzen so wenig erschöpft wie das Gefühl der Menschenwürde nur von dem Gefühl, einem bestimmten Volke anzugehören, völlig befriedigt werden kann. Doch hat sich die Demokratie unter den geschichtlichen Bedingungen der Vergangenheit seit den Tagen Athens und Roms bis zum Ende des z9. Jahrhunderts zunächst im Schoße bestimmter Nationen entwickeln müssen. Seit dieser Zeit hat aber die industrielle Wirtschaftsweise und der mit ihr verbundene Weltverkehr alle Angehörigen der Erdenbevölkerung, sowohl Konsumenten als auch Produzenten, zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengeschweißt. Diese wirtschaftliche Einheit ruht auf einer globalen Naturgrundlage und fordert eine demokratische, internationale Rechtsordnung. Dabei muß für die praktische Wirksamkeit der Eigenart nationaler Jurisdiktionen

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 99]

unter der Bedingung Raum gelassen werden, daß diese sich sinngemäß einem allgemeinen Menschengrundrecht anpassen. So können politische Grenzen aufrecht erhalten bleiben, sofern sie für den Schutz sozialberechtigter wirtschaftlicher und kultureller Interessen im Rahmen einer solchen, dem Ganzen angepaßten, individuellen Rechtsordnung nötig sind. Den Charakter starrer Wirtschafts- und Nationalgrenzen werden sie verlieren. Dagegen gewinnen sie mehr den Charakter rein zolltechnischer und kulturschützender Grenzen, ohne die Entwicklung eines erstrebenswerten Freihandels und des freien Austausches von wahren Kulturgütern zu hindern.

Ein solches übernationales Menschenrecht würde die Demokratie in eine von der Zeit geforderte Anthropokratie verwandeln. Im Rahmen der in neuerer Zeit beliebten machtpolitischen Bündnisse, welche kaum mehr sind als die juristische Konstituierung der Einflußsphären der um die Weltherrschaft rivalisierenden mächtigsten Nationen, hat die Demokratie im Sinne der Herrschaft eines freien Volkes über sich selbst keine wesentliche Bedeutung mehr. Würde diese Demokratie in der von uns angedeuteten Richtung weiterentwickelt werden und den Namen einer Menschenherrschaft (Anthropokratie) verdienen, so würden machtpolitische Bündnisse überflüssig sein, weil die Teilnahme am Kampfe um die Weltherrschaft nicht mehr zu den Aufgaben einer Nation zählen könnte. Das nötige internationale Recht wird dann nicht auf der Macht eines äußeren Siegers beruhen, denn einen solchen wird es nicht geben. Es wird sich aus der Verwirklichung einer übernationalen sozialen Dreigliederung des Menschheitsorganismus ergeben. Doch schließt dies nicht aus, daß sich einzelne Nationen unabhängig von anderen auf den Weg der Dreigliederung begeben, an dessen Ende der übernationale soziale Organismus liegt, welcher der ganzen Menschheit die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung würdiger Lebensbedingungen sichert.

Eine demokratische Nation, welche sich auf den Weg der Anthropokratie begibt, braucht vorhandene Rechtsinstitutionen nicht umzustürzen. Sie wird diese aber im angedeuteten anthropokratischen Sinne verwandeln und dadurch den ihnen ursprünglich zugrunde liegenden demokratischen Impuls zur ungehinderten Entfaltung bringen. So

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 100]

kann z. B. leicht dafür gesorgt werden, daß getrennte gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalten nicht aufeinander unter dem Prinzip von »Check und Balance«, wie es in den Vereinigten Staaten genannt wird, wirken. Die Mutter dieses Prinzipes ist die Furcht vor dem diktatorischen Usurpator, der Vater das Mißtrauen gegenüber der Menschennatur. Für den Soziologen offenbart sich hierdurch ein Kardinalproblem.

Wo ein wahrhaft freies Geistesleben durch eine dem Menschenwesen entsprechende Erziehung für eine Gestaltung des sozialen Lebens aus rein kulturellen Impulsen heraus sorgt, muß das allgemeine Vertrauen in die sittlichen Kräfte der Individualität wachsen. Das Mißtrauen gegenüber der Menschennatur muß sinken, die Furcht vor dem Bösen weichen. Das Böse wird durch das sinnvolle Aufeinanderwirken der Institutionen des Geistes-, Rechts- und Wirtschaftslebens sein Betätigungsfeld verlieren, welches durch den Sumpf der Verworrenheit des sozialen Lebens als Vermischung der verschiedenartigen menschlichen Grundinteressen gebildet wird. Das Böse wird zum Gegenstand der Verwandlung durch den ethischen Individualismus. »Check und Balance« werden dann im sozialen Organismus mit dem gleichen Erfolge wirken wie im menschlichen. Ebenso wie die beiden durch die Eigenart ihrer Funktion entgegengesetzten Systeme des Sinnes-Nerven- und des Gliedmaßen-Stoffwechselvorganges sich durch Vermittlung des rhythmischen Systems in gesunder Weise ausgleichen, so gleicht die Rechtsordnung in ihrer vermittelnden Stellung zwischen einseitigen geistigen und hypertrophierten wirtschaftlichen Interessen aus. Der Rechtsstaat könnte diese Aufgabe nicht vollbringen, wenn er als Verwalter der Rechtsordnung das Prinzip von »Check und Balance« in seine eigene Sphäre verlegen würde. Hier liegt die wahre Ursache seines bisherigen Mißerfolges. Er selbst, als ein Ganzes, muß der aktive Mittelpunkt des sozialen Gleichgewichtes sein. Denn das wahre Wesen des Rechtes besteht in seiner Eigenschaft, ein Gleichgewichtsbewirker und Harmonisierer innerhalb der sozialen Widersprüche zu sein. Das gleiche Recht aller ist für die Aufrechterhaltung der Menschenwürde in Wahrheit das Herz des sozialen Organismus, seine Sonne.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 101]

SECHSTES KAPITEL

MENSCH UND KULTUR

Das Wesen der Kultur entzieht sich, wie alles Geistige, der scharfen begrifflichen Definition. Es kann aber in seinen charakteristischen Zügen so beschrieben werden, daß es als geistiges Wesen in seinen mannigfaltigen Ausdrucksformen zu erkennen ist.

Kultur tritt stets im Zusammenhang mit der Gesellschaftsbildung auf, doch ist sie weder bloße Begleiterscheinung noch äußeres Ergebnis dieser Gesellschaftsbildung. Unabhängig von den Ergebnissen der Geistesforschung hat die neuere Archäologie in Verbindung mit anderen Zweigen der Kulturforschung nachgewiesen, daß, je weiter in der Kulturgeschichte zurückgegangen wird, um so gewisser sich die kulturelle Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft als die Ursache der Gesellschaftsbildung ausweist, und nicht etwas bloß als deren Wirkung. Dies gilt nicht nur von jenen hochentwickelten Kulturen, welche von der Wissenschaft Zeiträumen zugeordnet werden, die viele Tausende von Jahren vor der Antike liegen, sondern auch für die noch vorhandenen Reste ältester Völkerschaften. Sofern diese sich ihre Kultur erhalten haben, sind sie, wenn auch meistens in dekadenter Form, die lebendigen Zeugen einer fernen Vergangenheit. Mögen die früheren Kulturen im Vergleich mit späteren in ihrem religiösen Leben, ihrer künstlerischen Betätigungsform und ihrem traditionellen Weisheitsgut noch so primitiv erscheinen: diese Grundkräfte des kulturellen Daseins durchdringen die ganze Gemeinschaft bis in die feinsten Verzweigungen sowohl ihrer Rechtsordnung als auch ihrer Wirtschaftsbesorgung. Stets sind es religiöse Erlebnisse, welche den Inhalt des Weisheitsgutes und die kultische Form der Kunst bestimmen. Wo der ursprüngliche Zusammenhang von Religion, Weisheit und künstlerischer Gestaltung zur uralten Tradition geworden ist, behalten diese Erlebnisse oder ihr traditioneller Niederschlag doch ihre gesellschaftserhaltende Kraft in genügendem Maße, solange diese Tradition das Lebenselement des Ganzen bleibt.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 102]

Jede Kulturform, mag sie durch Archäologie und Kulturgeschichte festgestellt sein oder als Ergebnis der Anthropologie und Völkerkunde nach Erforschung der Lebensgewohnheiten noch vorhandener Überbleibsel alter Völkerschaften berichtet werden, bezeugt dem Soziologen in äußerer Art das Vorhandensein eines inneren Zusammenhanges. Dieser besagt, daß sich in einer spezifischen Kulturform eine ganz bestimmte innere Beziehung der Menschenseele zum Geiste auf dem sozialen Felde zum Ausdruck bringt. Wenn eine Anzahl von Menschen gleiche Erlebnisse im Bereiche des Geistigen hat und diese »kultiviert«, so ist der Anfang einer Gemeinschaftsbildung gegeben. Allerdings muß berücksichtigt werden, daß der Mensch früherer Zeiten – und um so kraftvoller je weiter diese Zeiten zurückliegen - die geistigen Kräfte als schöpferische erlebte, welche seinen eigenen Organismus als einen Mikrokosmos aus dem Makrokosmos aufbauen. Deshalb nahmen Menschen gleichen Blutes den schöpferischen Geist im Sinne der Erlebnisse ihres Stammvaters wahr. Die seelische Verbindung des Ahnen mit dem kosmischen Geiste, aus welchem der Mikrokosmos, der leibliche Organismus, hervorging, lebte durch das gemeinsame Blut in der Generationenfolge fort. Blutsgemeinschaft war zugleich Geistgemeinschaft und Kulturgrundlage. (Das biblische Wort von den Kindern, welche aus dem »Schoße Abrahams« stammen, deutet noch in einer verhältnismäßig späten Zeit auf einen solchen Blutszusammenhang hin, der zugleich geistiger Art ist.) Die Kultur- und Gesellschaftsform im sozialen Raum blieb in lebendiger Beziehung zu ihrem Begründer in der Zeit.

Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft stellt diese Tatsachen in einen umfassenden Erkenntniszusammenhang hinein. Schon die Einsicht, daß der Mensch ein Wesen ist, das sich in Leib, Seele und Geist gliedert, läßt die Geschichte der Menschheit in einem ganz neuen Lichte erscheinen. In diesem Lichte erweist sich die zeitliche Evolution der Menschheit als eine fortschreitende Metamorphose des Verhältnisses von Leib, Seele und Geist zueinander; sie wird verursacht durch die sich ändernde Art, in welcher die drei menschlichen Wesensglieder aufeinander wirken. Indem sich bestimmte Stufen dieser Entwicklung in Menschengruppen auswirkten, empfanden diese

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 103]

ihre gemeinsame Kulturform als die geistige Grundlage ihres Daseins. Ist das Verhältnis ein solches, daß die schöpferische, leibaufbauende Tätigkeit des Geistes von der Seele in den Kräften des Blutes im Zusammenhang mit den weisheitsvollen Vorgängen des Stoffwechsels hellseherisch wahrgenommen wird, so erscheinen die Kulturen großer Menschengruppen gleicher Abstammung als Rassenkulturen.

In den Rassenkulturen hat man die erste Differenzierung der allgemeinen Erdenmenschheit in der Richtung auf die Herbeiführung des Ich-Bewußtseins zu sehen. Der allgemeine Menschheitsgeist erscheint als Ich in der Kulturform der ganzen Rasse, welche physiologisch noch auf das intimste mit dem ihr zugeordneten Teil der Erdennatur und deren besonderen Beziehung zum kosmischen Umkreis (Sternenwelt) verbunden ist.

Mit der fortschreitenden Entwicklung ändert sich das Verhältnis der Seele zum Leibe und zum Geiste. Das Erleben der geistigen Impulse auf dem Wege über Stoffwechsel und Blut tritt zurück, während der Rhythmus desAtems als Träger geistiger Kräfte in den Vordergrund des Bewußtseins kommt. Infolgedessen drückt sich die gemeinsame Kulturform einer Menschengruppe, welche ihren inneren Zusammenhang in dieser Art von Erlebnissen findet, hauptsächlich durch die geistgemäße Weiterbildung der gemeinsamen Sprache aus. Auf diese Weise werden die Rassenkulturen zur Grundlage der sich aus ihnen herausdifferenzierenden Volkskulturen, wie vordem eine allgemeine Ur-Erdenmenschheit den Boden für die Herausgestaltung der Rassen darbot. Im Umkreise ihrer Volkskultur hat die Seele gegenüber der Leiblichkeit, und damit auch gegenüber dem leibaufbauenden Schöpfergeiste, einen höheren Grad der Selbständigkeit erreicht. Sie hat einen weiteren Schritt auf dem Wege getan, der zum Ich-Bewußtsein führt. Das Menschen-Ich erlebt sich als Glied des Volks-Ich. Doch wirkt auf dieser geschichtlichen Stufe das Blut, also die gemeinsame Abstammung und die mit ihr verbundene religiöse, künstlerische und weisheitserfüllte Überlieferung, noch mit starker Kraft auf die Gestaltung der Kulturform ein.

Ein weiterer Fortschritt in der Entwicklung des Verhältnisses von Leib, Seele und Geist in der Richtung zum Ich-Bewußtsein wird da-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 104]

durch bewirkt, daß die Seele sich für ihre geistigen Erlebnisse mehr auf das Sinnes-Nervensystem als auf rhythmisches und Stoffwechsel-System stützt. Die durch die beiden letzteren Systeme vermittelte Geistigkeit spricht noch kraftvoll mit. Aber die lebens- und weisheitsvolle Bildhaftigkeit der geistigen Erlebnisse wird immer mehr herab-gelähmt. Der Geist nähert sich der Form des Gedankens und wird als solcher in der Seele zum Bewußtseins-Inhalt. Zu der schöpferischen Erscheinungsform des Geistes in der blutgebundenen Willenssphäre und der harmonisierenden in der Sphäre des sprachverbundenen Fühlens kommt nun seine sich durch das Denken offenbarende Gestalt. Aus der Individualität des Volkes beginnt sich die Individualität des Einzelmenschen herauszuheben. Der Mensch steigt zu der Fähigkeit auf, das Wesen seines Volkes durch die Sprache in Ideenform zum Ausdruck zu bringen. Auf dem Wege über das Gedankliche seiner Rede wird er von den anderen Volksangehörigen verstanden. Die Logik des Seienden und Seinsollenden wird mit Hilfe von Rhetorik und Dialektik in Rede und Gegenrede zur Anschauung gebracht. Es entwickelt sich ein nationales Bewußtsein. Die Nation tritt auf den Plan der Weltgeschichte und bringt die nationale Kulturform hervor. Innerhalb der Nation gewinnt die Individualität, welche aus dem denkenden Geiste heraus durch die Kultur des Wortes gemeinschaftsbildend wirkt, eine ungleich höhere Bedeutung als der Einzelmensch sie einst hatte, als traumhaft fühlendes Glied seines Volkes und dumpf wollendes seiner Rasse. Der Geist findet sich selbst im Bewußtsein der denkenden Seele, welche aber noch unter der Nachwirkung ihres rein rassenmäßigen und volkhaften kulturellen Daseins steht. Auf der Stufe der Volk-Nation hat das Denken noch den Charakter eines übersinnlichen Organs für die Wahrnehmung der geistigen Welt, aus welcher die Wahrnehmungsobjekte für die Sinne, also auch der menschliche Leib, hervorgegangen sind. Die Ideen werden noch nicht als Eigenerzeugnisse der Seele erlebt, sondern als Erscheinungsformen der Götter-Weisheit bzw. als Opfergaben, welche die Götter auf dem Altar des menschlichen Bewußtseins niederlegen. Das Denken ist Vermittler religiöser Erlebnisse, die Weisheit der Welt Gegenstand der menschlichen Liebe. Die Philosophie wird geboren. In Platos »Repu-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 105]

blik« wird sie als geistige Quelle der gesellschaftsbildenden Kräfte der Nation dargestellt.

Der letzte Sprung im Bereiche der Metamorphose der geschichtlichen Vergangenheit, soweit das Verhältnis von Leib, Seele und Geist in Betracht kommt, wurde getan, als die Seele aufhörte, Ideen als objektive geistige Wesen zu erleben, wie dieses im alten Hellas und noch in der übernationalen Kultursphäre des aristotelisch-alexandrinischen Hellenismus der Fall war. Die griechische Philosophie, die Blüte der antiken Geisteskultur, hatte ihre Wurzel in diesem Erlebnis, das seine Nachwirkung, unabhängig von Volks- und Rassenkräften, bis in das Mittelalter hinein erstreckte.

Die Kultur des Mittelalters ging aus der Ausbreitung des dem Christentum zugrunde liegenden Geistimpulses und der Art seiner Aufnahme durch die abendländischen Völker hervor. Dieser übernationale, allgemein-menschliche Impuls lebte zunächst als geistiger Inhalt der Glaubenskraft in den Gemütstiefen, wirkte sich im Denken als weitere Erhöhung des Ich-Bewußtseins aus und gab dem Wollen einen starken sozialen Antrieb zu einer übernationalen Gemeinschaftsbildung nach dem Vorbild des römischen Reiches unter der geistigen Führung der Kirche und der weltlichen des Kaisers. Unter dem sich entwickelnden Gegensatz zwischen geistiger und weltlicher Macht entfaltete sich die mittelalterliche Kultur; dieser Gegensatz wurde vom politischen Gebiet aus auch in das wirtschaftliche und geistige Gebiet hineingetragen.

Unter der Nachwirkung der griechischen Philosophie, im besonderen der aristotelischen, wurde das Denken zwar der Verteidiger der göttlichen Vernunft der Glaubensinhalte und der gemeinschaftsbildenden Mission der Kirche, doch wurde es mit seinen Ergebnissen auch zum Gegenstand der philosophischen Selbstbetrachtung. Die sich selbst beobachtende Seele empfand sich immer weniger als die Empfängerin von Gedanken und immer mehr als deren selbständige Hervorbringerin. Dadurch erklomm das Ich zwar eine höhere Stufe des Bewußtseins, aber die schicksalentscheidenden Fragen nach dem wahren Wesen der Gedankeninhalte und der Beziehung der in der Denktätigkeit erlebten inneren Wirklichkeit zu der Wirklichkeit der äußeren Welt

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 106]

mußten aufgeworfen werden. Das Subjekt-Objekterlebnis bildete sich heraus. Die geistige Entwicklung am Ende des Mittelalters machte die Meinung, daß die Seele der subjektive Produzent von Gedanken sei, welche nur subjektiven, also keinen allgemein geistigen Erkenntniswert haben können, zur vorherrschenden. Im Streite der Realisten, welche die geistige Wesenhaftigkeit der Gedanken und der Vernunft bejahten, und der Nominalisten, welche sie verneinten, siegten die Nominalisten. Die Gedanken wurden zu Namen, d. h. zu abstrakten Begriffen, welche in äußerlicher, klassifizierender Art die Erscheinungen der Außenwelt für das Bewußtsein zusammenfassen und selbst kein ursprüngliches, schöpferisches Leben haben. Der schöpferische Geist wurde als ein dem gewöhnlichen Bewußtsein Unerreichbares in den Bereich des Glaubens verwiesen, seine Anschauung von gnade-voller Offenbarung abhängig gemacht. Die denkende Seele wandte sich der äußeren Sinnesnatur zu und empfand ihr so erarbeitetes Wissen als ein Subjektives, das Wesen des Geistes als ein Objektives, aber der Erkenntnis nicht Erreichbares. Die geistige Strömung des Realismus wirkte jedoch unter der Oberfläche des sozialen Lebens weiter. Erst durch die anthroposophische Welt- und Menschenerkenntnis ist diese geistige Strömung in ihrer zeitgemäßen Metamorphose in die Gralsschale des vollen Ich-Bewußtseins eingeflossen.

Vom Ausgang des Mittelalters an erlebt der Mensch das eigene Ich als seinen seelischen Mittelpunkt und sich selbst als bewußt zwischen Geist und Leib stehend, doch ohne die wahre Beziehung zwischen beiden zu erkennen. Die leibgestaltenden Kräfte haben im Laufe der Geschichte den Weg über das Wollen, Fühlen und Denken in das Innere des Menschen genommen, und indem sie von dort in den Umkreis des sozialen Lebens strahlen, werden sie zu kulturschöpferischen Impulsen.

Seit Ende des Mittelalters hat der Mensch, nicht zum wenigsten durch den Einfluß der neuzeitlichen Naturwissenschaft, es gelernt, sich auch seinem Volke und seiner Nation als Individualität gegenüber zu stellen. Hieraus erfloß der Antrieb, dem Staate eine Organisation zu geben, welche um der Persönlichkeit halber da ist und nicht umgekehrt wie in älteren Zeiten. Die Bewußtseinsseele begann ihre Zivilisation

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 107]

mit Hilfe der angewandten Wissenschaft vorzugsweise auf wirtschaftlichem Gebiete zu entfalten. Durch anthroposophische Welt- und Menschenerkenntnis, welche die naturwissenschaftlichen Ergebnisse in ihren geistigen Zusammenhängen erfaßt, hat die Bewußtseinsseele die Möglichkeit gewonnen, ihr eigenes Wesen zu ergreifen. Erst dadurch ist es ihr auch möglich geworden, ihre Zivilisationsform in eine wahre Kultur zu überführen. In der Form der Bewußtseinsseele wird das Ich in einer neuen, d. h. selbstbewußten und freien Beziehung zum Geiste und zum Leibe die schöpferische Quelle einer neuen Kultur.

Auf die mannigfaltigen anderen Aspekte, von denen aus die Anthroposophie die Entwicklung und Verwirklichung der aus dem Geiste stammenden Kulturimpulse betrachtet, kann hier nicht eingegangen werden. Solche Aspekte ergeben sich z. B. aus den Tatsachen der Wiederverkörperung, d. h. des Durchgangs der Menschenseele nicht nur durch eine Reihe von Erdenleben, sondern auch durch kosmisch-geistige Daseinsstufen zwischen den Erdenleben und der Aufnahme neuer Kulturimpulse während dieser rein-geistigen Intervalle. Über die sich unter diesen Gesichtspunkten aufzeigenden Einzelergebnisse der geistigen Anschauung unterrichtet das Lebenswerk Rudolf Steiners. In diesem Umriß einer Soziologie soll nur der Gesichtspunkt geltend gemacht werden, daß wahre Kultur nur durch die Anschauung der Beziehung der Menschenseele zum Geiste als Quelle der Gesellschaftsbildung verständlich wird. Dabei ist der mikrokosmische Leib für die Seele der Vermittler für die Anschauung der makrokosmischen schöpferischen Geistkräfte bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Seele reif wird, den Geist unmittelbar anzuschauen, indem sie ihr Ich als Geist-keim bewußt entwickelt. Hierdurch schafft sie zugleich die inneren Vorbedingungen für eine neue Kulturform.

Für die Soziologie ist in diesem Zusammenhange die Antwort auf die Frage entscheidend: »Unter welchen sozialen Bedingungen kann sich diese kulturschaffende Beziehung der Individualität zum Geiste am besten entfalten und sich am kraftvollsten als gesellschaftsbildende Kraft auf das Ganze auswirken?«

In den früheren Kapiteln ist gezeigt worden, daß während der ersten Jahrhunderte ihrer keimhaften Entfaltung die Bewußtseinsseele keine

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 108]

wahre Kultur, sondern nur eine industrielle Zivilisation hervorbringen konnte. Diese verdankt der wissenschaftlichen Betätigung der Bewußtseinsseele ihr Dasein. Dabei beschränkte sich die Wissenschaft auf die Erkenntnis des Sinnlich-Wahrnehmbaren der Natur und brachte als angewandtes Wissen die Technologie hervor. Reine Forschung um der Wahrheit selbst willen ohne Rücksicht auf ihren wirtschaftlichen Nutzen trat in den Hintergrund der Interessen. Die Kunst, von ihrem geistigen Quell losgelöst, wurde zum Ausdruck subjektiver Seelenregungen und des persönlichen Geschmackes, Religion zur privaten Glaubenssache, die mit der Erkenntnis nichts zu tun haben darf. Wissenschaft, Kunst und Religion hatten aufgehört, eine organische, geistige Einheit und geistige Grundlage des Lebens zu sein. Als bestimmende gesellschaftsbildende Macht trat dafür die angewandte Naturwissenschaft, alles andere überschattend, hervor. Sie machte den wirtschaftlichen Sektor des sozialen Lebens zum alles beherrschenden. Die geistigen und politischen Interessen wurden in den Wirbel der wirtschaftlichen hineingezogen, welcher seinen Antrieb vom Egoismus empfing. Politisches und kulturelles Leben wurden mehr und mehr zu einem ideologischen Überbau des Wirtschaftslebens, in welchem die alleinige wahre Grundlage des Daseins gesehen wurde. Die theoretische Gleichheit gegenüber dem Rechte mußte für die Lebenspraxis verloren gehen. Der errungenen inneren Freiheit im Geiste wurden nicht die Mittel für ihre Auswirkung als gesellschaftsbildende Kraft zur Verfügung gestellt. Die Freiheit nur im Innern der Menschenseele zu pflegen genügt nicht. Auch im Umkreise des sozialen Lebens muß ihr Raum gegeben werden. Dazu bedarf sie der Mittel. Ohne diese können sich die individuellen geistigen Impulse nicht in Freiheit kulturschaffend auswirken.

Das Hauptmittel für ein solches freies Wirken des Geistes auf dem sozialen Felde ist das Geld. Man muß erkennen, daß von der geist-gemäßen Verwendung des Geldes die Möglichkeit der Begründung und Entwicklung der Bewußtseinsseelenkultur abhängt. Durch diesen Hinweis auf die unerläßliche Vorbedingung einer neuen Kultur gewinnt die Soziologie eine Einsicht in das zentrale Problem unserer Zeit.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 109]

Die Feststellung, daß das Geld das Mittel für das Wirken des freien Geistes auf sozialem Felde ist, kann zunächst schockieren. Doch soll eine nähere Betrachtung des Wesens des Geldes die Richtigkeit dieser Feststellung erweisen.

Das Wesen des Geldes darf nicht in seiner Substanz, sondern muß in seiner Funktion gesucht werden. Diese ist nicht eine einfache, sozusagen auf einer einzigen horizontalen Ebene wirkende. Sie ist eine dreigliedrige Funktion, welche auf drei verschiedenen, übereinander-gelagerten sozialen Ebenen sich abspielt, die miteinander in einem lebensvollen Zusammenhang stehen. Die Betrachtung der Geldfunktion liefert ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Tatsache, daß sich die Dreigliederung des sozialen Organismus bis in die feinsten Verzweigungen des sozialen Lebens erstreckt.

Auf seiner untersten Zirkulationsebene dient das Geld als Tauschmittel und Wertmesser. Seine Entstehung hat man sich so vorzustellen, daß der ursprüngliche direkte Austausch von Erzeugnissen infolge Wachsens der Zahl der Warengattungen zu umständlich wurde. Ein indirekter Austausch, bewirkt durch Einschaltung eines Tauschmittels in den Warenkreislauf, trat an die Stelle des direkten. Als Tauschmittel konnte jede beliebige Ware dienen, welche allgemein begehrt war, also einen anerkannten Wert hatte. Eine solche Ware wurde in einer bestimmten Teilmenge und für eine gewisse Zeit von dem direkten Tausch-Zusammenhang abgegliedert, um als Tauschmittel und Wertmesser wieder der Zirkulation eingegliedert zu werden. Dadurch nahm eine solche Ware den Charakter des Geldes an.

So entwickelte sich aus dem Tausch der Kauf-Verkaufvorgang, wie er bis zum heutigen Tage die eigentliche Grundlage der wirtschaftlichen Zirkulation ist. Im Hinblick auf seine diesen Vorgang ermöglichende Funktion kann man das Geld »Kaufgeld« nennen. Für das Wesen dieser Funktion ist es gleichgültig, welcher Art die dem Gelde zugrunde liegende Warensubstanz ursprünglich je nach der Eigenart des in Betracht kommenden Wirtschaftsgebietes war, d. h. ob man hierfür Salz, Tee, Muscheln, Tabak oder irgendein Metall wie Silber oder Gold wählte. Daß im Verlaufe der wirtschaftlichen Entwicklung die Substanz des Geldes durch Papierscheine, d. h. Schuldverschrei-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 110]

bungen der Geldausgabestelle, vertreten wurde, ändert nichts an dem Wesen seiner Funktion als »Kaufgeld« auf der untersten Zirkulationsebene der Wirtschaft. Hierdurch wurde nur die Anpassungsfähigkeit des Kaufgeldes an die wachsende Kompliziertheit des Wirtschaftsprozesses erhöht und alle Wirtschaftswerte wurden in immer wirkungsvollerer Weise in den Bereich der geldmäßigen Berechenbarkeit gebracht.

Vom kulturellen Gesichtspunkt aus ist von besonderer Wichtigkeit ein Umstand, welchem in der Regel kaum Beachtung geschenkt wird. Es wird nicht genügend beachtet, daß das Kaufgeld es seinem Besitzer gestattet, aus der Zirkulation diejenigen Waren herauszuziehen, welche seinen individuellen Bedürfnissen am besten dienen. Das Kaufgeld gewährt dem Konsumenten die Wahlfreiheit in bezug auf die zum Verkauf dargebotenen oder im Rahmen der vorhandenen Produktionsmittel herstellbaren Waren. Da Maß und Art der individueIlen Bedürfnisse nicht nur von der Beziehung der Seele zum Leiblichen, sondern bei steigender persönlicher Kultur immer mehr von ihrer Beziehung zum Geiste abhängen, so gewährt der Besitz von Kaufgeld die Freiheit, die geistigen Kräfte schon auf dieser Stufe innerhalb des sozialen Lebens in individueller Art wirksam zu machen. Der Mensch als Konsument gewinnt so die Freiheit, den Gang der Produktion in geringerem oder größerem Maße je nach seiner »Kaufkraft« mitzubestimmen. Im engeren wirtschaftlichen Sinne wird der soziale Wert des Kaufgeldes durch Menge und Güte der dafür eintauschbaren Waren bestimmt, im rechtlichen Sinne durch seine allgemeine, vom Staate anerkannte Übertragungsfähigkeit, im umfassenden kulturellen Sinne aber durch die Persönlichkeit des Konsumenten. Auf diesen kulturellen Sinn kommt es hier an.

Die Tatsache, daß das Geld das technische Mittel zur Verwirklichung des freien Geistes auf dem Gebiete des sozialen Lebens ist, kommt noch klarer zum Vorschein, wenn die zweite Funktion des Geldes ins Auge gefaßt wird. Diese ist auf einer höheren sozialen Ebene wirksam und hat damit zu tun, daß Geld ausgeliehen werden kann. Dadurch wird es zum »Leihgeld«. Als solches ist es technisches Mittel für den Kredit.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 111]

Das moderne Kreditwesen hat seinen Ursprung in der seit dem Ausgang des Mittelalters gepflogenen und wachsenden Praxis, Geldsummen leihweise an Persönlichkeiten zu übertragen und diese im Vertrauen auf ihre individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen neue Produktionszweige begründen und vorhandene leistungsfähiger machen zu lassen. Der Kredit beruht auf dem Vertrauen, daß solche Persönlichkeiten die Arbeit durch den Geist im Zusammenhang mit den Produktionsmitteln für die Umwandlung von Naturstoffen in verbrauchsfähige Ware wirksam organisieren werden. Je wirksamer diese geistige Organisationskraft ist, um so größer müssen Menge, Zahl der Arten und Güte der zirkulierenden Waren sein. Im Verhältnis dazu muß auch die Menge des Kaufgeldes und seine Umlaufsgeschwindigkeit wachsen. Die Kreditnehmer werden zu Schuldnern, die Kreditgeber zu Gläubigern. Die Kreditsummen werden durch ihren Einsatz erst zum Investitionskapital und darauf infolge ihrer Umwandlung in Produktionsmittel zum Produktionskapital. Ohne das Kreditwesen ist die neuzeitliche industrielle Wirtschaftsweise undenkbar. Hier ist der entwicklungsbedingte Ursprung des »Kapitalismus« zu suchen. Der Ursprung der üblen antisozialen Begleiterscheinungen des Kapitalismus liegt ganz woanders, nämlich im Egoismus, welcher eine unverwandelte Vorstufe des wahren Individualismus ist, und im Irrtum über das wahre Wesen des sozialen Organismus. Der Ursprung des Kapitalismus liegt also in den Notwendigkeiten der neuzeitlichen Wirtschaft, der Ursprung seiner antisozialen Begleiterscheinungen in der Unzulänglichkeit der Menschennatur, welche aber durch das Aufnehmen geistiger Impulse veredelt werden kann. Die Durchführung der Dreigliederung des sozialen Organismus würde praktische Einrichtungen hervorbringen, welche es verhindern, daß sich die Mängel der Menschennatur in so verhängnisvoller Weise auswirken können, wie sie es heute tun.

Vom Gesichtspunkt der Geldfunktion kann der Kapitalismus nur verstanden werden, wenn man zu sehen vermag, daß sich das Leihgeld aus der Kaufgeldzirkulation herauslöst und dadurch in einen eigenen und andersartigen Kreislauf hineinkommt. Hier erhält es einen vollkommen anderen sozialen Wert im Vergleich mit demjeni-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 112]

gen des Kaufgeldes. Das Leihgeld zirkuliert in dem Vertrauenskreise von Gläubigern und Schuldnern und ist für die letzteren das technische Mittel zur Geltendmachung ihrer freien Initiative auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Produktion. Seine Akkumulation als nicht ausgegebenes Kaufgeld kommt durch Ersparnisse zustande und bedeutet eine rein wirtschaftliche Angelegenheit. Die Übertragung des Leihgeldes auf den Schuldner ist ein Rechtsakt. Seine Verwaltung muß eine rein-geistige Angelegenheit mit wirtschaftlicher Wirkung sein. Die Art dieser Verwaltung hängt von den individuellen Fähigkeiten ab, welche der Schuldner innerhalb des Geisteslebens durch seine Erziehung und Ausbildung erworben hat. Auch die praktische Wirtschaftserfahrung des Schuldners gehört zu den rein geistigen Faktoren seines Lebens. Die Bedeutung eines freien Geisteslebens, auch für die wirtschaftliche Produktion, wird deutlich.

Eine dritte Funktion des Geldes ist in kultureller Hinsicht die bedeutsamste, weil sie die wirtschaftliche Grundlage bietet, auf welcher sich das Geistesleben in voller Freiheit der individuellen Initiative kulturschöpferisch zu betätigen vermag. Das Geld dient nicht nur als technisches Mittel des Austausches von wirtschaftlichen Erzeugnissen und des Kreditwesens, sondern auch unmittelbar der Erhaltung und Weiterentwicklung der Tätigkeiten und Institutionen des Geisteslebens. In dieser Funktion ist das Geld »Schenkungsgeld«. Der Tatsache, daß Schenkung in Geldform eine spezifische Geldfunktion ist, und zwar in kultureller Hinsicht die wichtigste, ist von der Sozialwissenschaft überhaupt keine Aufmerksamkeit gewidmet worden. Erst Rudolf Steiner hat diese Tatsache aufgedeckt.

Im Zusammenhang mit der Loslösung des Leihgeldes aus dem Kaufgeldkreislauf muß auch gesehen werden, wie auch das Schenkungsgeld auf einer Loslösung aus der Zirkulation beruht. Das Geld dient dann weder der Befriedigung desjenigen, welcher es als Gegenleistung für wirtschaftliche Leistungen erhielt, noch der Kreditgewährung, sondern der Bedarfsdeckung solcher Menschen, welche selbst keine wirtschaftlichen Gegenleistungen zu bieten haben. Die weitaus größte Zahl der Angehörigen eines Gemeinwesens sind reine Konsumenten, welche nicht an der Produktion von Wirtschaftswerten tätig teil-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 113]

nehmen. Entweder sie können nicht teilnehmen, weil sie zu den Kindern, Greisen und Kranken zählen, oder es wird ihnen die Teilnahme an der Produktion erspart, wie es bei den Trägern des Geisteslebens der Fall ist, weil man von diesen keine wirtschaftliche, sondern eine rein kulturelle Tätigkeit erwartet. Auf diese besondere Kategorie der auf wissenschaftlichem, künstlerischem oder religiösem Gebiete Tätigen, welche wie alle anderen reinen Konsumenten auf dem Wege über das Schenkungsgeld ihren Anteil an dem Sozialprodukt erhalten, sei jetzt die Aufmerksamkeit gerichtet.

Solche Kulturträger schaffen soziale, doch keine wirtschaftlichen, d. h. konsumfähigen, Werte. Es sind geistige Werte, welche nicht schlechthin mit Wirtschaftswerten verglichen werden können, weil sie nicht unmittelbar der Erhaltung des Leibes dienen, sondern der Bildung der Seele und diese die Beziehung zum Geiste erleben lassen, aus welchem sie selbst stammt. Kulturelle Leistungen wirken sich nur mittelbar im Laufe der Zeit wirtschaftsfördernd aus, nachdem sie seelisch-geistig absorbiert worden sind, ein Vorgang, der nicht mit der Konsumtion von Wirtschaftsgütern gleichgestellt werden darf.

In dem Maße, wie die Gesamtheit der wirtschaftlich produzierenden Menschen aus ihren geistigen Interessen heraus einen Teil der ihr gebührenden Gegenleistung für die Erhaltung und Förderung eines freien Geisteslebens opfert, werden dem Geiste die wirtschaftlichen Bedingungen für seine Erscheinung als Kultur dargeboten. In dieser Opferung findet das Wirtschaftsleben seinen tieferen Sinn und seine höhere Aufgabe auf dem Gebiete der Gesellschaftsbildung. Durch Finanzierung der Erziehung und Ausbildung der Individualität in Wissenschaft, Kunst und Religion macht das Wirtschaftsleben das freie Einfließen der gesellschaftsbildenden Kräfte möglich. Solche Geistesimpulse sind die wahre Nahrung des sozialen Organismus, wie das Aufnehmen von konsumfähig gemachten Naturstoffen die Ernährung des menschlichen Organismus bedeutet.

Das Geld muß auf dieser Stufe seiner Funktion, wo es der kulturellen Wertebildung dient, seinen ursprünglichen wirtschaftlichen Wert verlieren. Nachdem es von den Trägern des Geisteslebens ausgegeben worden ist, darf es nicht in den Kauf- oder Leihgeld-Kreislauf zurück-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 114]

fließen. Dagegen muß das Schenkungsgeld durch geeignete Institutionen aus dem Verkehr gezogen und durch neues Kaufgeld nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und in Beobachtung der richtigen Wert- und Preisbildung ersetzt werden. Dies gilt selbstverständlich auch für das Schenkungsgeld, welches den übrigen erwähnten Kategorien von reinen Konsumenten zufließt.

Aus all diesem ergibt sich die Notwendigkeit, die drei Geldfunktionen auch technisch-organisatorisch innerhalb des gesamten Geldverkehrs voll zu berücksichtigen. Es muß dies in einer Weise geschehen, daß das Geldwesen unter die volle Kontrolle der Bewußtseinskräfte kommt, wenn es nicht weiter seine kulturzerstörende und das soziale Leben zersetzende Wirkung ausüben soll. Eine solche Organisation des Geldwesens, durch welche es zum Diener des sozialen Lebens wird, anstatt dessen kulturfeindlicher Tyrann zu bleiben, ist nur auf dem Boden der sozialen Dreigliederung möglich. Näheres hierüber ist aus den Schriften Rudolf Steiners zur sozialen Frage zu entnehmen. Der Verfasser dieser Schrift hat das Geldwesen im Sinne der Rolle, die es in den kulturellen Zusammenhängen spielt, in seiner Schrift: »The Economic Essentials of the Cultural Life«* eingehender behandelt. (Von einer wirtschaftswissenschaftlichen Durchführung einer Darstellung der gegliederten Geldfunktion und ihrer Bedeutung für die Begründung einer assoziativen Wirtschaft muß hier abgesehen werden.) Hier soll nur geltend gemacht werden, daß das Geld der Individualität die Möglichkeit der wirksamen Verwirklichung der Willensfreiheit im Tatenzusammenhang des sozialen Lebens gewährt. Die Wirklichkeit der Freiheit innerhalb der menschlichen Seele selbst kann es nicht vermitteln. Das ist Sache der Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstverwandlung.

Die Fruchtbarmachung der Einsicht in die Geldfunktionen würde die Betätigung durch Kapital in den wahren geistig-kulturellen Zusammenhang aufnehmen. Nur innerhalb eines freien Geisteslebens kann die Entwicklung einer unabhängigen Urteilsbildung ihren Boden finden. Diese auf der Einheit von Sachkunde und Sittlichkeit gegründete

* Anthroposophic Press, New York, 1945. (Originalfassung: »Die wirtschaftlichen Grundlagen des Kulturlebens«.)

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 115]

Beurteilungsfähigkeit müßte in der Richtung auf die Auswahl von Kreditnehmern wirken, damit diesen Kapitalsummen zum Zwecke der Förderung der wirtschaftlichen Produktion übertragen werden können. Die Kapitalverwaltung wird dadurch, ihrem wahren Wesen als geistiger Betätigung entsprechend, zu einer Angelegenheit des kulturellen Lebens.

Auch die Staatsverwaltung muß finanziert werden. Die Leistung des Staatsbeamten ist keine wirtschaftliche. Ebenso wie die auf rein geistigem Gebiete Tätigen aus dem Überschuß der Wirtschaftswerte erhalten werden müssen, ist dies auch für die Staatsbeamten erforderlich. Der Unterschied liegt nur in den verschiedenen Wegen, welche die Überschüsse nehmen. Derjenige Teil der Überschüsse, welcher dem Geistesleben zufließt, wird seinen Weg über die Kulturgesinnung eines jeden einzelnen oder individueller Gruppen nehmen müssen. Der andere Teil, durch welchen der Staat finanziert wird, muß auf dem Wege über Steuern kommen, deren Höhe der Staat nach dem Maße seines Bedarfes und der Gesamtleistungsfähigkeit der Wirtschaft festsetzt.

Zu den Symptomen der gegenwärtigen Krankheit des sozialen Organismus gehört es, daß die Macht des Geldes, ob sie nun in den Händen weniger Großkapitalisten bzw. weniger Privat-Korporationen oder in der Hand eines kollektivistischen Staates konzentriert ist, im umgekehrten Verhältnis zum Maße der kulturschöpferischen Leistungsfähigkeit des Geisteslebens steht. Die menschenverbindende, aus der Kraft der individuellen Freiheit gespeiste Kultur muß in dem Grade sinken, als die Kräfte der schöpferischen Individualität unter die Macht des Geldes, d. h. des wirtschaftlichen Zwanges, kommen. Doch in dem Maße, wie das Geld das Mittel der Individualität zur freien Verwirklichung des Geistes auf sozialem Gebiet wird, indem es aufhört Selbstzweck zu sein, muß das allgemeine Kulturniveau steigen.

Das Kulturproblem ist zu einem Geldproblem geworden. Es ist nur lösbar, wenn eine wirklichkeitsgemäße Soziologie den im Gelde heute wirksamen menschheitsfeindlichen Geist erkennbar macht und die praktischen Wege weist, welche zu einer Kulturgesinnung führen, aus der heraus die Macht des Geldes dem wahren Menschheitsgeist selbst-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 116]

los dient. Nur einer geistigen Anschauung kann es gelingen, durch den Geldschleier hindurch, welcher alle Werte als vergängliche Wirtschaftswerte erscheinen läßt, das wahre Wesen der ewigen Kulturwerte zu erkennen und zur sozialen Geltung zu bringen. Die Frucht der vergangenen Kulturentwicklung ist das abstrakte wissenschaftliche Denken, das alles Unberechenbar-Qualitative der Natur durch einseitige Beziehung auf das Berechenbare für das Bewußtsein tötet. Die Frucht der vergangenen Wirtschaftsentwicklung ist das Geld, welches auch die nicht-wirtschaftlichen Werte in das Netz der wirtschaftlichen Berechenbarkeit einfängt und dem geistigen Tode überliefert. Die Belebung des Denkens durch Anschauung seiner geistigen Wirklichkeit kann zu einem geistdurchdrungenen Wollen führen, durch welches auch das Geld ein Diener des Geistes und dadurch ein Kulturfaktor wird. Als Gebender und Nehmender wird der Mensch dann eine Beziehung zur Kultur offenbaren, welche er verloren hat, aber heute auf neuer Bewußtseinsebene wiedergewinnen muß. Die Dreigliederung des sozialen Organismus ist der einzige zeitgemäße Weg zu diesem Ziel.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 117]

SIEBENTES KAPITEL

DIE MENSCHHEIT

Die Gesellschaftswissenschaft darf bei der Erforschung der gemeinschaftsbildenden Kräfte nicht die Erscheinung des Christentums übersehen. Es ist in die Freiheit eines jeden einzelnen gestellt, das Christentum, soweit es eine auf Dokumenten beruhende Lehre vom Wesen, Ursprung und Schicksal der Menschheit ist, in positivem Sinne zu bewerten oder als nicht der wahren Wirklichkeit des Daseins entsprechend abzulehnen. Die objektive geistige Wirkung des Christentums auf die Gestaltung des sozialen Lebens der Menschheit wird durch solche subjektiven Urteile nicht berührt. Auf diese Gestaltung kommt es aber der Soziologie an. Die Wirkung ist eine historische Tatsache von solchem Ausmaß, daß sie bei jedem Versuch der Begründung einer Soziologie berücksichtigt werden muß. Dies erscheint um so notwendiger, als die soziale Wirkung des Geschehnisses auf Golgatha nicht nur im Denken, Fühlen und Wollen derjenigen zu erkennen ist, welche darin den Mittelpunkt der irdischen Entwicklung sehen, sondern weil die Wirkung auch durch das Verhalten der geschichtlichen und gegenwärtigen Gegner der christlichen Bewegung zur Erscheinung kommt. Selbst die Gleichgültigen fanden – und finden – sich in soziale Verhältnisse hineingestellt, welche die grundlegende Beeinflussung durch diese Bewegung auf allen Gebieten des Lebens zeigen.

Schon beim oberflächlichen Vergleich des Christentums mit den anderen Weltreligionen (Buddhismus und Islam) fällt es auf, daß es durch Vereinigung der geistigen Inhalte des Juden-, Griechen- und Römertums zur Bildungsgrundlage der abendländischen Kultur wurde. Islam und Buddhismus üben dabei nur modifizierende, wenn auch wichtige Einflüsse aus. Jüdische Überlieferung der prä-antiken Natur- und Weltgeschichte, griechische Philosophie und römisches Recht – Bildungsgrundlagen, in denen die gesamte Weisheit des Morgenlandes sich niedergeschlagen hat – wurden durch ihre organische Verschmelzung im Christentum zu bedeutsamen Kräften der Gesellschafts-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 118]

bildung des Abendlandes. Aus der abendländischen Kultur erwuchs unsere industrielle Zivilisation. Deshalb kann man diese sogar von einem äußeren Gesichtspunkt als eine der Hauptwirkungen des Christentums und zugleich als das Hauptproblem der gegenwärtigen Gesellschaftsbildung ansehen.

Von einem geistigen Gesichtspunkt, wie ein solcher sich einer anthroposophisch-orientierten Gesellschaftswissenschaft ergibt, tritt dieser Sachverhalt ungleich deutlicher hervor.

Es ist von großer Bedeutung, daß wahrgenommen wird, wie das Hervorwachsen der industriellen Zivilisation zwar nicht ohne das geschichtliche Wirken des Christentums verstanden werden kann, diese Zivilisation sich aber von den christlichen Prinzipien entfernt hat. Doch muß auch gesehen werden, daß, je mehr die industrielle Zivilisation sich von diesen christlichen Prinzipien entfernte, sie auch um so deutlicher eine Gestalt annahm, welche nach ihnen als den wahren sozialen Lebensbedingungen verlangt. So ergibt sich das Erstaunliche, daß der gegenwärtig kranke soziale Organismus seine Heilung von der Verwirklichung von gesundenden Ideen erwartet, welche sich dem sozialwissenschaftlichen, auf die Gegenwart bezüglichen Denken ergeben und dabei, aus ihrer eigenen Natur heraus, mit den christlichen Impulsen übereinstimmen Das bedeutet aber offenbar, daß der christliche Grundimpuls in der Gegenwart als geistige Tatsache durch unbefangenes wissenschaftliches Denken in Verbindung mit gewissenhafter Beobachtung ohne Rücksicht auf die Glaubensüberlieferung und die Dokumente gefunden werden kann. Zugleich wird der Wahrheitsgehalt der Überlieferung verständlich und auf der höheren geschichtlichen Ebene der Bewußtseinsseele geistig erneuert.

Unsere gesamte bisherige Darstellung der sozialen Probleme war an den Phänomenen entwickelt, wie sie sich der objektiven Innen- und Außenbeobachtung zeigen. Die wissenschaftlichen Ideen für die Lösung dieser Probleme müssen als christliche Impulse erkannt werden, welche ein Schielen nach der traditionellen Seite des äußeren Christentums hin nicht erforderlich machen. Von diesem Gesichtspunkt aus, welcher von der Sache selbst gefordert wird, soll nochmals auf die Idee der sozialen Dreigliederung eingegangen werden, um sie in der

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 119]

Richtung zum Erfassen des Wesens der Menschheit weiterzuentwickeln.

Ein deutlich wahrnehmbarer Wesenszug der industriellen Zivilisation ist ihr Streben nach Erreichung eines übernationalen, weltweiten Umfangs. Die Weltwirtschaft mit ihrem Verkehrs-, Transport- und Nachrichtenwesen kann keine national-politischen Grenzen dulden. Die Investierung von Kapital als notwendige Voraussetzung für geistige Wirksamkeit auf der Produktionsseite der Wirtschaft, wenn auch noch nicht in ihrem Wesen voll erkannt und verwirklicht, ist grundsätzlich eine übernationale. Durch diese Wirksamkeit organisiert der Geist die Arbeit über die ganze Erde hin und wandelt deren Natur um. Die Konsumtion schöpft die Mittel zur Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse aus dem Sozialprodukt der ganzen arbeitenden Menschheit. Auf dem Gebiet der Weltwirtschaft wirkt das soziale Hauptgesetz, welches in schicksalsmäßiger Weise den Egoismus auf der Produktionsseite praktisch, wenn auch noch unerkannt, ausschließt, weil der einzelne Mensch seine Teilarbeit nur im Dienste des Ganzen leisten kann und den Gegenwert aus dem Ganzen beziehen muß. Die Verteilung der Arbeit muß im Verhältnis zur Verteilung des Gesamtproduktes stehen, die Wirksamkeit der drei Geldfunktionen, wie gezeigt, im angemessenen Verhältnis zu den geistigen Interessen, gekrönt durch die Opferung des Schenkungsgeldes für Erhaltung und Entwicklung der Kultur.

Das Wirtschaftsleben der technischen Zivilisation, wie es sich bereits der äußeren Beobachtung darstellt, fordert die Idee der Brüderlichkeit. Diese hat ihren einzigen und wahren Sinn in der Tatsache, daß alle Menschen, unabhängig von ihrer blutsmäßigen zeitlichen Abstammung, aus dem gleichen überzeitlichen und väterlichen Geiste ihren Ursprung genommen haben. Aber gerade dieses ist der grundlegende geistige Impuls des Christentums. (»Ich und der Vater sind eins.«) Dieser Impuls entsteht neu als Idee aus der denkenden Anschauung des neuzeitlichen Wirtschaftslebens und der Erkenntnis des sozialen Hauptgesetzes. Aus der Betrachtung der Tierheit läßt sich kein wahres Bild vom Ursprung der Menschheit entwickeln. Im Bereiche der Tierheit kommt das soziale Hauptgesetz nicht zur Wirkung. Der

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 120]

Wolf fährt fort, die Lämmer zu fressen. Er selbst produziert keine Lämmer, um sie entsprechend der Arbeitsleistung unter den Wölfen zu verteilen.

Der objektiven Selbstbeobachtung ergibt sich die Idee der Brüderlichkeit auch von innen her. Sie wird in dem individuellen Anteil am Ganzen gefunden, welchen jeder Mensch in seinem Leibe besitzt, dessen Grundsubstanz aus dem gleichen umfassenden und alles durchdringenden Geiste stammt. Man kann ihn den väterlichen Geist nennen, weil er der Menschheit vorangeht und ihre Grundlage bildet. Der Selbstbeobachtung zeigt sich dieser Geist als Wille. Durch den Willen wird die Idee der Brüderlichkeit, d. h. des sozialen Hauptgesetzes, zum Ideal. Nur aus der Erkenntnis dieses Gesetzes heraus kann es in Freiheit verwirklicht werden. Auf diese Weise kommt der christliche Grundimpuls unmittelbar von innen her zur ideellen Erscheinung, ohne Hinblick auf die Überlieferung, doch in voller Übereinstimmung mit ihrem Inhalt. In seinem Willen findet der Mensch das gemeinsame brüderliche Leben.

Ein anderer Wesenszug unserer industriellen Zivilisation ist das offenbare Streben ihres Geisteslebens nach Annahme einer übernationalen Form. Die neuzeitliche Wissenschaft ist der bestimmende Kern des Geisteslebens. Überall auf der Erde gelten die physikalischen und mathematischen Gesetze. Diese Gesetze konnten nur durch die volle Freiheit des menschlichen Denkens erkannt werden. Das Wesen der Freiheit des Geistes im Denken ist ein allgemein-menschliches und übernationales. Im Erkenntnisakte ist die Freiheit unmittelbar als Geist der Wahrheit erlebbar. Die denkende Weltbetrachtung, welche das Denken selbst den Welterscheinungen hinzurechnet, lehrt dies. Anthroposophie hat die methodische Selbstbeobachtung hinzugefügt und dadurch die allgemein-menschliche Erkenntnis der Wahrheit auf das organische, psychische und geistige Leben ausgedehnt. Der Entwicklungsgang der Wahrheit von der kosmischen zur individuellen Intelligenz und das Erscheinen ihres Geistes im Ich-Bewußtsein wird durch das Denken erfaßt. Indem der Mensch den Schritt tut, welcher das Denken selbst in die Beobachtung des Denkens rückt und Subjekt und Objekt als Einheit erscheinen läßt, erkennt er sich als den Träger der

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 121]

wahren Wirklichkeit. Auch diese Erkenntnis ist unabhängig von dem Inhalte der christlichen Tradition. Der Mensch findet in seinem Denken die Wahrheit als Wirklichkeit des Ich.

Als drittes kann beobachtet werden, daß sich die Rechtsordnung über die ganze Menschheit ausdehnen will. Völkerbund, Vereinigte Nationen und Vereinigungen zur Herbeiführung einer Weltregierung sind unbeholfene Versuche in dieser Richtung. Die weltumfassenden Wirksamkeiten des Wirtschafts- und Geisteslebens verlangen, auf dem Boden der Gleichheit der einzelnen gegenüber dem Menschheitsgeiste, nach einem übernationalen Recht, welches die wirtschaftlichen Interessen in sittlichen Grenzen hält und die geistigen befreit. Das wahre Wesen des Rechtes bändigt das Tier im Menschen, den Egoismus, auf dem Gebiete der Wirtschaft und verwandelt den Tod des Geistes, die begriffliche Abstraktion und Berechenbarkeit, in das Leben seiner freien Kultivierung.

So wird das Recht zum wesenhaften Mittel der Kultur und der Wirtschaft durch das Ich, das sein Selbstgefühl überwindet und sich in der einen Richtung durch das Wahrheitsgefühl, in der anderen durch das Mitleidsgefühl betätigt. Der Rhythmus zwischen Wahrheit und Mitleid ist der Weg des Ich zwischen der Welt des Denkens und derjenigen des Wollens. Es ist der Weg des Ausgleichs, der Harmonisierung zweier Extreme durch das Fühlen. Äußere Beobachtung der Rechtsentwicklung und innere des Fühlens führen zu der Erkenntnis des allgemein-menschlichen Weges im christlichen Sinne. Abermals ist hierfür die religiöse Tradition nicht die Ursache, sondern nur eine der geschichtlichen Wirkungen solcher universellen Impulse.

Das Wort: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« tönt heute unmittelbar aus der dreigliedrigen wahren Gestalt der Gesamtmenschheit heraus. Es müssen nur erst die geistigen Ohren wachsen, welche dieses Wort hören.

Man kann sich dem Wesen der Menschheit auch von anderen Richtungen her nähern. Die grundlegende Erkenntnis am Ende des Weges muß immer die gleiche bleiben. Eine Annäherung soll noch von einem solchen anderen Ausgangspunkt versucht werden, um das bereits Gesagte zu verdeutlichen.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 122]

Innerhalb des Geisteslebens ist im Verlaufe des Heraufkommens der neuzeitlichen Naturwissenschaft eine Spaltung eingetreten. Das Wissen beschränkte sich immer mehr auf das Sinnlich-Wahrnehmbare und Berechenbare. Dabei wurde die Menschenseele mit ihren Empfindungen ausgeschaltet, und sie kann sich selbst nicht mehr in dem von der Wissenschaft erzeugten Weltbilde finden. Andererseits endete die Wissenschaft infolge des geschilderten Isolierungsverfahrens im Spezialistentum. Die Wissenschaft wurde in »Interessensphären« aufgeteilt, ein Vorgang, welcher an die Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Wirtschaft erinnert. Wenn sie nicht dem gleichen Felde angehören, so verstehen die Fachleute einander nicht mehr. Jedes Fach hat seine eigene Sprache. Bei dem Bemühen um die Ausbildung einer eng-begrenzten Fachlogik ist der allgemeine Logos, das »Wort«, ausgeschlossen worden. Die Spezialisten sind sich nur in einem Punkte einig: der Logos ist aus dem Gebiet des Wissens zu entfernen und als »Unberechenbares« in das Reich des Glaubens zu verweisen. So ist die übernationale Ausdehnung der neuzeitlichen Wissenschaft zwar auf die Logik des berechenbaren Naturverlaufes, jedoch nicht auf den in diesem und in der Geschichte wirkenden schöpferischen und unberechenbaren Logos gegründet.

Dabei wird die Kunst zur Angelegenheit des privaten Geschmackes, und es ist ihr überlassen, entweder ihre Impulse aus der Betrachtung der wissenschaftlichen Inhalte oder derjenigen des Glaubens oder aber aus einer unorganischen Mischung beider zu beziehen. Die Kunst hat aufgehört, die schöne Offenbarung der verborgenen Wahrheit zu sein.

Der Glaube, soweit das Christuswesen in Betracht kommt, bietet in der Zersplitterung das Gegenbild des wissenschaftlichen Spezialistentums. Der Christus steht im zweifelhaften Licht vieler verschiedener Glaubensanschauungen, von denen jede nur eine Beziehung zu der Überlieferung als alleinseligmachende Wahrheit in den Vordergrund stellt.

So wird das Ich weder von der Wissenschaft noch von den traditionellen Glaubensanschauungen als der Kondensations- und Erneuerungspunkt der allumfassenden Wahrheit, als das Leben des Logos im

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 123]

Menschen, erkannt. Aber das Wort: »Ich bin die Wahrheit« ist für Wissenschaft und Religion um so deutlicher vernehmbar, je mehr beide zusammen mit der Kunst auf das allgemein-menschliche, übernationale Ich sehen und sich in seinem Wesen finden. Anthroposophie ist die neue übernationale Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion, indem sie aus dem Ich-Erlebnis wirksam geworden ist. »Meine Bemühungen um naturwissenschaftliche Begriffe hatten mich schließlich dazu gebracht, in der Tätigkeit des menschlichen »Ich« den einzig möglichen Ausgangspunkt für eine wahre Erkenntnis zu sehen.« (1879, Rudolf Steiner in »Mein Lebensgang«, Philos.-Anthropos. Verlag, Dornach 1925, Seite 32.)

Die Ordnung, auf welcher der neuzeitliche Mensch in rechtlicher Beziehung sein soziales Leben aufbaut, hat ihren Keim im alten Römertum, das seinen Höhepunkt zur Zeit der Geburt des Christentums erreichte. Auf den von den Römern gebauten Weltstraßen breitete sich nicht nur das Recht des römischen Weltreiches, sondern auch die Kunde von dem Christus aus. Das übernationale Recht verband sich durch die Kirche mit der Kunde von dem Weltenworte, das Fleisch wurde. In der Ordnung der römisch-katholischen Kirche ist das römische Recht ebenso wie die Kunde vom »Worte« in die allgemeinen Lebensgewohnheiten übergegangen. Auf der anderen Seite legte das römische Recht in Verbindung mit seiner Formulierung durch die Jurisprudenz den Weg zur neuzeitlichen Demokratie zurück. Diese beruht heute noch auf dem römischen Eigentumsbegriff, welcher sich in erster Linie auf das materielle Privateigentum bezieht. Die demokratische Gleichheit empfängt hierdurch einen begrifflichen Inhalt, der es vergessen läßt, daß die ursprüngliche Gleichheit eine solche gegenüber dem Menschheitsgeiste war. Sie war der Weg für alle und wurde durch das Wort ausgesprochen, welches den Impuls der übernationalen Gemeinschaftsbildung in Unabhängigkeit vom Blute vermittelt: »Ich bin der Weg.«

Sieht man auf die Wirtschaft als eine schicksalsmäßige Erscheinung innerhalb der Gesamtmenschheit, so ergibt sich der Erkenntnis abermals das soziale Hauptgesetz. Dieses kann nur durch Verwirklichung der Brüderlichkeit aus einer zwingenden Notwendigkeit in die frei-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 124]

willig hingenommene Grundlage des sozialen Lebens verwandelt werden. Das Wort: »Ich bin das Leben« wird dann auf dem Gebiete der assoziativen Wirtschaft aus der rein-geistigen unmittelbar in die soziale Realität durch den Willen des Menschen übergeleitet. Der Kauf der menschlichen Arbeitskraft als der Rest des aus der Antike übernommenen Sklaventums, auf dem einst die wirtschaftliche Möglichkeit der Kultur beruhte, wird durch Verwirklichung des sozialen Hauptgesetzes unmöglich gemacht.

Das Wort: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« tönt auch aus der wirklichkeitsgemäßen Betrachtung der Menschheitsgeschichte heraus. Es war die Aufgabe der früheren Kapitel dieser Schrift, das im einzelnen zu zeigen.

Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die einzelnen Erscheinungen des Daseins zueinander in eine solche Beziehung zu setzen, daß ihr wesentlicher Zusammenklang im Denken als Idee aufleuchtet. Ohne das Denken wäre die Wahrnehmungswelt dem Ich undurchschaubar. Dies gilt sowohl für äußere als auch für innere Wahrnehmungen. Indem die drei Wahrnehmungsbereiche, des Geistes im Kulturleben, der seelischen Kräfte in der Rechtsbesorgung und der Erhaltung des leiblichen Lebens durch die Wirtschaftsbesorgung, zueinander in die rechte Beziehung gesetzt werden, leuchtet im Menschen die Idee der Menschheit auf. Dadurch empfängt die Form des Ich-Bewußtseins ihren allgemeinmenschlichen Inhalt. Religiös drückt sich dieser Inhalt in dem individuellen Christus-Erlebnis, sozialwissenschaftlich in der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus aus. In dem einen sind die gesellschaftsbildenden Kräfte, durch die andere ihr zeitgemäßer gesellschaftlicher Form-Zusammenhang für die Menschheit als Ganzes zu finden. Anthroposophisch-orientierte Geisteswissenschaft hat eine wissenschaftliche Methode entwickelt, durch welche die geistigen Vorgänge des Lebens in das Licht des Ich-Bewußtseins gerückt werden. Denken, Fühlen und Wollen werden in sachgemäßer Weise den objektiven Weltvorgängen zugerechnet, obgleich diese Kräfte zunächst auf subjektivem Felde auftreten. Dabei liegt der Ausgangspunkt der Geistesforschung in der Beobachtung des Denkens. Im Verlaufe der methodischen Seelenübungen verlieren die Gedanken ihre abstrakt-schatten-

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 125]

hafte Erscheinungsweise im Bewußtsein und erstehen aufs neue als zielvolle Bildekräfte, welche miteinander in einem lebendigen Zusammenhang stehen. In diesem universellen Gedanken-Zusammenhang findet man die allgemeine Idee des Menschen, welche sich im Laufe der Geschichte dadurch realisiert, daß sie sich durch ihre Verbindung mit dem Menschenleibe individualisiert. Die Zeit vor dem Mysterium von Golgatha ist durch den Weg bezeichnet, welchen die Idee in der Richtung auf ihre Verkörperung einschlägt (durch die Johannestaufe). Der Augenblick des Todes auf Golgatha bedeutet das Einziehen der wesenhaften Menschheitsidee in die irdische Sphäre. Als das Zeichen für ein neu keimendes Dasein der Erde und ihrer Menschheit im Geiste der Wahrheit stellt sich die Auferstehung dar. Ein Verständnis für das »Christentum als mystische Tatsache«* erschließt sich dem Bewußtsein, wenn dieses auf die Verwandlung toter Gedanken in lebende Bildekräfte im Menscheninnern achtet. Dieser Vorgang ist jedem zugänglich. Er hängt mit der innerlich wahrnehmbaren Tatsache zusammen, daß die Gedanken – in deren Mittelpunkt die Idee der Menschheit steht – zuerst als kosmische Bildekräfte vom Umkreis in der Richtung auf die Erde wirkten. Die weisheitvolle Funktion des Stoffwechsels weist äußerlich auf diese Tatsache hin. Die Bildekräfte wirkten sodann über den Rhythmus des Atems und des Blutes und schließlich über die Wahrnehmungstätigkeit des Sinnes-Nervensystems. Im letzteren wurden die Bildekräfte, und zusammen mit ihnen auch die lebendige Idee des Menschen, abgelähmt. Sie starben und verloren das unbewußte Leben des umfassenden Ich, um durch den Tod das individuelle Ich-Bewußtsein zu gewinnen. Man kann auch sagen: Die Gedanken verschwanden aus dem lebendigen Willen und tauchten im toten Denken auf. Wenn dieser Vorgang mit der Kraft des Herzens gefühlt wird, so hat man sich unmittelbar, ohne Rückgriff auf Dokumente, ein keimendes Verständnis für Vorbereitung und Vollzug des Mysteriums von Golgatha als des Zieles der alten Gesellschaftsbildung eröffnet. Indem der Wille in das Denken eingeführt wird und darauf das Fühlen die Gedanken als Lebewesen

* Rudolf Steiner: »Das Christentum als mystische Tatsache«. (Philosophisch-Anthroposophischer Verlag am Goetheanum, Dornach, Schweiz. 5. Auf 1. 1925.)

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 126]

erlebt, wird das Wesen der Auferstehung und damit der Mittelpunkt der neuen Gemeinschaftsbildung im Bewußtsein erfaßt. Dieses erlebt die auf dem Wege über den Menschen erstorbenen und neu erstandenen Bildekräfte, d. h. den ätherischen Zusammenhang. In diesen übersinnlichen Zusammenhang wird das durch den Tod des physischen Leibes, dem auch während des Lebens der Tod durch Nerven- und Knochensystem eingelagert ist, vermittelte Ich-Bewußtsein hineingenommen. Der Mensch erringt dadurch die Wahrnehmungsfähigkeit innerhalb der ätherischen Welt. Hier erscheint der auferstandene, durch den physischen Tod gegangene Christus im ätherischen Leibe als der Besieger des Todes und Erneuerer der Menschheit.

Es läßt sich keine Soziologie, welche einen sozialen Wert haben soll, ohne ein Wissen um diese Wahrheiten begründen. Sie konnten hier nur in gedrängter Kürze wiedergegeben werden und stehen in engster Übereinstimmung mit allen Ergebnissen der Methode, die eine Erscheinung aus der individuellen Art erklärt, wie sich ein geistiges Wesen unter vorhandenen Bedingungen verkörpert. In diesem Falle war es der Hinweis auf die Art, wie sich das geistige Wesen der Menschheit unter sich wandelnden geschichtlichen Bedingungen zur Erscheinung bringt und sich schließlich in der Mitte der Evolution mit der Erde verbindet.

Zurückgehend auf die Grundgliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist muß die Frage nach der Erscheinung des Wesens der Menschheit unter den besonderen Bedingungen einer industriellen Zivilisation gestellt werden. Diese Erscheinung ist ein übernationaler dreigliedriger Organismus, von dem in rein phänomenologischem Sinne gesagt werden muß, daß er zwischen kosmischer Welt und der Erdennatur sein Leben entfaltet. Dadurch ist der soziale Organismus der Vermittler zwischen der geistigen Welt und ihrem irdisch-physischen Ausdruck. Innerhalb des sozialen Organismus werden Erdenstoffe und -kräfte verwandelt, und Geistiges wird ihnen nach Maßgabe der Menschenform eingeprägt. Umgekehrt wird das im Irdischen gewonnene Ich-Bewußtsein in die geistige Welt hineingetragen

Durch die Gestalt des sozialen Organismus – wenn die Dreigliederung als soziales Leben, sozialer Weg und soziale Wahrheit durchgeführt

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 127]

wird – erscheint die Seele der Menschheit als Vermittlerin zwischen ihrem kosmischen Geist und ihrem irdischen Leibe. Es ist dies im weitesten Felde ein Vorgang, welcher sich in der individuellen Menschenseele durch den Ausgleich und die Harmonisierung des Geistigen mit dem Leiblichen vollzieht. Nur wer diese Einheit in der Dreiheit erkennt und sozial verwirklicht, kann Hoffnung und Furcht durch Gewißheit und Mut ersetzen und dadurch den Weg finden, auf dem der Alpdruck der Friedlosigkeit von der Menschheit genommen wird und die Sonne des wahren Friedens zu leuchten beginnt. Das Licht der Sozialwissenschaft, die Idee des Menschen, wird zur Sonne der sozialen Praxis der Menschheit.

Der Begründer der Soziologie, Auguste Comte (1798-1857), dachte sich eine Sozialwissenschaft als Krönung seines Systems der Wissenschaften, und er träumte davon, daß einem höchsten Wesen, das dem Dasein zugrunde liegt, größte Verehrung gezollt werden müsse. Comtes Nachfolger, Herbert Spencer (1820-1903), versuchte eine solche Soziologie mit den unzulänglichen materialistischen Mitteln seiner Zeit aufzubauen, und auch er träumte von einem »unbedingten allumfassenden Wesen« als Grundlage des Weltendaseins. Die ersten französischen Sozialisten vor Comte hoben die menschliche individuelle Vernunft als etwas Göttliches auf den Thron. Ihre materialistischen Nachfolger warfen den Thron um und verlegten die Vernunft als etwas Gottlos-Objektives in die Dialektik des äußeren Geschichtsprozesses, durch den sich eine Gesellschaft als übernationale Produktions- und Konsumtionsgenossenschaft von selbst herausbilden würde. Adam Smith pries als Professor der Philosophie das Mitleidsgefühl als gesellschaftsbildende Kraft, aber als Autor der Schrift: »Wealth of Nations« (1767) und als Vater der Wirtschaftswissenschaft das Gegenteil vom Mitleid: den Egoismus.

Rudolf Steiner folgend, sehen wir in all diesem menschliche Züge, welche erst durch volle Erkenntnis des Menschen als des Bildners seines sozialen Organismus ihre Bedeutung gewinnen. Anthroposophie vermittelt dieses Wissen. Im Zeitalter der Bewußtseinsseele kann Sozialwissenschaft nur auf einer umfassenden Erkenntnis des Menschenwesens gegründet sein.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 128]

Anmerkung des Herausgebers:

Zu den mehrfachen Hinweisen im Text auf den »2. Teil« dieser Schrift:

Von diesem zweiten Teil bestehen noch (in Abschrift) folgende Aufsätze:

1. Einige Andere Soziologische Anschauungen.
2. Leben, Tod und Auferstehung als Soziologische Fundamentalbegriffe.
3. Die Maschine.

Und noch eine Skizze:

4. Östliche und Westliche Erde im Leben der Menschheit.

Auch für diesen 2. Teil waren 7 Kapitel geplant.

[Anthroposophisch orientierte Soziologie, Seite 129]

SCHRIFTEN VON BERNHARD BEHRENS

Anthroposophisch orientierte Wirtschaftswissenschaft, eine Studienreihe; 7 Hefte:

1/2: Vier einführende Studien.
3: Die wahre Beziehung der Weltwirtschaft zu den Volkswirtschaften.
4: Kapitalbildung, Kapitalübertragung und Kapitalverwaltung in ihrer Beziehung zur Preisbildung.
5: Der Richtungswechsel des Wirtschaftsstrebens im 20. Jahrhundert.
6: Der geistige Ursprung der wirtschaftlichen Assoziation und ihr Gestaltungsprinzip.
7: Die Rechtsgrundlage des assoziativen Wirtschaftens.

Verlag für neue Wirtschaftskunde, Hamburg, 1930-1932. Zur Zeit alle vergriffen.

Conditions Vital to the Social Organism, Anthroposophic Press, New York 16, 1944.
The Economic Essentials of the Cultural Life, Anthroposophic Press, New York 16, 1945.
(Die deutsche Original-Fassung dieser beiden Schriften noch unveröffentlicht.)

What is Anthroposophy? Who was Rudolf Steiner? An Introduction. Published by Bernhard Behrens, 1950.
Goethe and the Social Question, Voluntas Press, 1951.
Death and Life of Democracy, Voluntas Press, 1951.

(Diese drei Schriften sind zu beziehen durch New Knowledge Books, 18 (N) Eliz. Crescent, E. Grinstead, Sussex, England; oder über Lorenza Behrens, Hamburg 20.)