Die Nationalökonomie auf dem Wege zur Anthroposophie

26.06.1932

Quelle
Zeitschrift „Goetheanum“
Jahrgang 11, Heft 20, 26.06.1932, Seite 209-210

Das Lebenswerk Rudolf Steiners ist eine geistige Tatsache. Wer diese Tatsache unberücksichtigt lässt, schhesst sich selbst von der Kulturentwicklung aus. Er macht sich zum Hemmnis. Aus dem Lebenswerk Rudolf Steiners erhebt sich für jeden Zeitgenossen die wesenhafte Frage, ob er sich den Kräften des Niederganges verschreiben oder ob er dem neuen Geistimpuls der abendländischen Kultur dienen will. Es ist die Frage der Entscheidung. Langsam, aber stetig, mehrt sich die Anzahl der Menschen, welche diese Frage in ihrer ganzen Schwere empfinden und sich aufgerufen fühlen, sich auf die Seite der Mächte des wahren Menschheitsfortschritts zu stellen. Führend im Geisteskampfe werden aber diejenigen sein, die sich nicht nur von den Ergebnissen anthroposophischer Geistesart sozial angesprochen fühlen, sondern auch die eigene Vorstellungswelt im Ringen um denWahrheitsgehalt des Menschenund Weltenseins durch Beschreiten des anthroposophischen Erkenntnispfades zum Leben im Geiste erwecken. Nur durch das stetig-übende Erarbeiten der anthroposophischen Methode werden sie die Voraussetzungen dafür gewinnen, um mit ihrem Wollen in rechter Weise in die sozialen Lebenszusammenhänge eingreifen und denselben eine geistgemässe Orientierung geben zu können.

Zeugnis von einem solch streng methodischen Ringen um Sinn und Bedeutung der eigenen Fachwissenschaft und um eine lebendige Begriffsbildung für die zeitgemässe Neuorientierung des im Bezirke p des „Faches“ vagabundierenden Vorstellungsmaterials legt das neue Werk von Folkert Wilken ab, welcher als Professor der Nationalökonomie und Soziologie an der Universität Freiburg i. Br. wirkt. Es trägt den Titel „Die Metamorphosen der Wirtschaft, eine Neubegründung der Nationalökonomie nach geisteswissenschaftlicher Methode“ . (Verlag Gustav Fischer, Jena.)

Darin möchten wir die grosse Bedeutung dieses Versuches sehen, dass Wilken unter „geisteswissenschaftlicher Methode“ nicht eine aus dem üblichen Begriffe der „Geisteswissenschaft“ abgeleitete Methode versteht — etwa im Sinne Sombart's sondern den von Rudolf Steiner angegebenen und verwirklichten anthroposophischen Erkenntnisweg. Nachdem Wilken im Vorwort den im Jahre 1922 durch Rudolf Steiner abgehaltenen „Nationalökonomischen Kurs“ als den „einzigen, wirklich wegweisenden Vorstoss in der Richtung einer lebendigen geistigen Erfassung der Wirtschaft“ bezeichnet hat und die darin angewandte eigenartige, lebensvolle Denkungsweisc als etwas, woran man nicht vorbeigehen kann, bekennt er unzweideutig: „In den Bahnen dieser Methode und der ihnen zugrunde liegenden Geisteshaltung versuchen die hier unter dem Titel „Metamorphosen der Wirtschaft“ gebotenen nationalökonomischen Untersuchungen zu wandeln.“

Wilken hält sich innerhalb des Problemkreises der theoretischen Nationalökonomie und sucht eine „vollentwickelte Wert-, Preis- und Einkommenslehre“ als ein „für jedermann verstehbares, in sich geschlossenes ,Lehrbuch' der allgemeinen Nationalökonomie“ zu bieten. Es ist hier nicht möglich, ein begründetes Urteil darüber abzugeben, inwieweit Wilken sein Ziel erreicht hat. Dies würde ein Nachzeichnen der Ideengänge des umfassenden Werkes erfordern, wozu hier der Raum fehlt. Wer sich die Mühe macht — kein ernsthaft strebender Wirtschaftswissenschaftler wird sie sich ersparen können -— und den Wilken sehen Gedankengängen mit Verständnis nachwandelt, wird sich durch Förderung seiner wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis reich belohnt finden, auch wenn er nicht jeder begrifflichen Ableitung vorbehaltlos zustimmen möchte. Der Kenner der von Rudolf Steiner den Sozialwissenschaften gegebenen neuen Ideengrundlage würde hiervon keine Ausnahme bilden dürfen. Denn ein solcher Kenner würde an dem Studium des Wilken sehen Werkes das seltene Erlebnis haben können, wie der Verfasser in glücklichster Weise der Lösung einer überaus schwierigen Aufgabe näher kommt, indem er nicht unmittelbar an die Begriffsformen des„Nationalökonomischen Kurses“ Rudolf Steiners anknüpft, sondern durch die Art, wie er den Vorstellungsinhalt der theoretischen Nationalökonomie mit „metamorphosierendem Denken“ selbständig umformt, Zeugnis von der Belebung des eigenen Denkens und Forschens durch anthroposophische Denkschulung und erlebniskräftige Aufnahme der von Rudolf Steiner gegebenen sozialwissenschaftlichen Begriffe ablegt. So erhält in meisterhaft gegliederter Darstellung und kraftvoll quellendem Stil der gewohnte intellektualistische Vorstellungsinhalt der theoretischen Nationalökonomie einen Lebenseinschlag, der die Todesfesseln des Intellektualismus sprengt und ihn als Bewusstseinskraft im Bereiche einer geistig orientierten Wirtschaftswissenschaft zum Diener des Wirtschaftslebens macht, dessen Tyrann er bis jetzt war.

Durch diesen Lebenseinschlag bringt Wilken die sich metamorphosierenden Vorstellungen zwanglos in die Richtung auf eine Erkenntnis des sozialen Organismus als einem dreigliedrigen Wesen, ob er nun die Wirtschaft in ihrer historischen stufenweisen Entwicklung betrachtet oder das wahre Wesen der Arbeit, das diesem Wesen entsprechende soziale Einkommensprinzip, den Grundsatz für eine sachgemässe Bilanzierung der Gesamtwirtschaft, die eigentliche Geistesaufgabe der Kapitalverwaltung oder die Verwirklichung der richtigen Wert- und Preisbildung im Zusammenhang mit dem Geldproblem. Die ganze Gedankenentwicklung ist durchpulst von einer trichotomisch-synthetischen Überwindung von Gegensätzen. Erkenntnis Widersprüche werden überwunden durch richtige Anordnung der sozialen Phänomene für das Bewusstsem, Beobachtungseinseitigkeiten durch Erweiterung der sozialen Begriffe. Dabei hat der Verfasser den Mut, dem im intellektualistischen Wissenschaftsbetrieb vom Felde

[Zeitschrift „Goetheanum“, 20/1932, Seite 209]

der Nationalökonomie in „harmlosere“ Wissenschaftsgebiete abgeschobenen Wesen der Moral seinen logischen Ort in der Wirtschaftswissenschaft da aufzudecken, wo das Problem der menschlichen Arbeit sachgemäss behandelt werden muss*). „Die heutige Arbeitsorganisation macht es dem Menschen unmöglich, in genügender Weise moralische Kräfte zu entwickeln“ (Wilken). Man ist unwillkürlich versucht, an folgenden Ausspruch des grossen Russen Wladimir Solovjeff zu denken: „Die Unzulänglichkeit der orthodoxen politischen Wirtschaftslehre (die liberal oder besser gesagt anarchistisch ist) besteht darin, dass sie prinzipiell das wirtschaftliche Gebiet vom moralischen trennt; die Unzulänglichkeit aber einer jeden sozialistischen Richtung besteht darin, dass sie zwischen diesen beiden verschiedenen, jedoch untrennbar mit einander verbundenen Gebieten eine mehr oder weniger vollständige Vermischung oder eine unwahre Einheit zulässt.“

Wilken führt seine Darstellung bis zu dem Punkt, an dem das Bild einer zukünftigen Arbeitsorganisation als moralische Intuition auftaucht, d. h. einer Arbeitsorganisation, welche nur durch die Dreigliederung des sozialen Organismus möglich gemacht wird. Damit ergibt sich die Idee der Dreigliederung auch als soziale Forderung einer sachgemässen theoretischen Nationalökonomie. Letztere erreicht so in ihrer Entwicklung die Sphäre der unmittelbaren Lebenspraxis. Sie hört auf blosse „Theorie“ zu sein.

Wilken hat mit seiner Arbeit, die in ihren fachwissenschaftlichen, eine Fülle von — nicht nur theoretischen Anregungen bietenden Einzelheiten hier nicht gewürdigt werden kann, in hervorragender Weise dazu beigetragen, die Wirtschaftswissenschaft im Sinne Rudolf Steiners auch in ihrer theoretischen Erscheinungsform selbst zu einem wahren Wirtschafts wert zu machen. Während Werner Sombart von der Nationalökonomie aussagt, „dass wir zwar wissen, Nationalökonomie ist die Wissenschaft von der Wirtschaft, aber wir wissen darum noch lange nicht, was sie zum Inhalte hat, da wir nicht wissen, was Wirtschaft ist“ (Sombart, „Nationalökonomie und Soziologie“, Jena 1930), reisst Wilken die Nationalökonomie aus ihrer Resignation, indem er seiner Wissenschaft innerhalb des Geisteslebens durch Entfaltung der anthroposophischen Methode das Ziel gibt, die zukünftige soziale Gestalt des Wirtschaftslebens willenskräftig vorzubereiten, denn

„nicht um abstrakte Ideale hat es sich gehandelt, sondern darum, eine geist- und sozialgemässe Wirtschaftsordnung in neuen Bewusstseinsformen erstehen zu lassen, denen höchste geistige Gesetze wiederum die festen Konturen einprägen. Die Verwirklichung dessen, was das Bild der zirkulatorischen Wirtschaft erkennen lässt, kann nicht in der Form bürokratisch-mechanischer Massnahmen, bei denen es auf menschliche Qualitäten nur mehr in zweiter Linie ankommt, erstrebt werden, sondern nur durch schöpferische Akte auf wirklich sachverständiger Grundlage.“ (Wilken)

[Zeitschrift „Goetheanum“, 20/1932, Seite 210]