Sieben Jahre Heidenheimer Arbeitskreis

01.12.1954

Quelle
Zeitschrift „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“
8. Jahrgang, Weihnachten 1954, Nr. 30, S. 193–196
Bibliographische Notiz

In der Zeit, als die deutsche Wirtschaft nach dem Zusammenbruch von 1945 in einem unbeschreiblichen Zustand zu Boden lag, lud ein Unternehmer, Herr Dr. Hanns Voith, zusammen mit Herrn Fritz Götte zu Johanni 1947 eine Anzahl anthroposophischer Betriebsleiter zu einer Tagung nach Heidenheim ein. Für an verantwortlicher Stelle im Wirtschaftsleben stehende Unternehmer stand die drängende Frage da: Was nun?

Zur Besinnung war Grund genug vorhanden.

[Mitteilungen, Nr. 30, Weihnachten 1954, Seite 193]

Lebte doch im Herzen aller Anthroposophen die Erinnerung an die Tat Rudolf Steiners in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, als er die tiefen, dem sozialen Organismus innewohnenden Kräfte klar herausarbeitete und den Versuch machte, sie in der Praxis zum Tragen zu bringen.

Die Dreigliederungsbewegung war ein Versuch, der damals trotz intensiver, aufopfernder Bemühungen vieler Menschen gescheitert war; aber die im Kampfe und in der Auseinandersetzung damals errungenen Einsichten standen jedem, der sich die Mühe nehmen wollte, in das in den Jahren 1919–1922 in verschwenderischer Fülle Gegebene einzudringen, lebendig vor Augen.

Nur mit Erschütterung vermochte man den Aufruf Rudolf Steiners „An das deutsche Volk und an die Kulturwelt“ vom Jahre 1919 zu lesen. Dieser Aufruf war jetzt, nach der vernichtenden Katastrophe Deutschlands im Jahre 1945 in seiner Innerlichkeit erst recht aktuell geworden.

Aber die Verhältnisse hatten sich gegenüber 1919 in vieler Beziehung geändert. Damals war z. B. die Dreigliederungsbewegung in erster Linie von jüngeren Menschen getragen, die – Rudolf Steiner lebte ja noch – in sich die Zukunftskräfte spürten und sich ihnen in ihrem Wirken begeistert hingaben.

Die anthroposophischen Unternehmer von 1947 waren nicht weniger davon überzeugt, daß aus den Tiefen der Menschenseele heraus der soziale Organismus in der Richtung auf die in ihm veranlagte Dreigliederung sich werde umbilden müssen. Aber sie hatten, in der Mehrzahl Männer zwischen fünfzig und siebzig Jahren, all die Jahrzehnte umstürzender Ereignisse als Praktiker auf ihrem Gebiet durchlebt. Sie wußten, daß sie als Wirtschafter sich nicht inselhaft aus der allgemeinen Entwicklung heraushalten könnten; das wäre die Jagd nach einer Utopie gewesen.

Zudem begann jetzt in einer Fülle von in Deutschland bisher nicht greifbaren oder jetzt zum ersten Male herausgegebenen Veröffentlichungen das soziale Vortragswerk Rudolf Steiners aufzuleuchten. Es wurde als die erste Aufgabe empfunden, sich über die grundlegenden Tatsachen der Dreigliederung in voller Freiheit auszusprechen, um die Bewußtseinsgrundlagen für ein Handeln auf dem Gebiet des sozialen Organismus und im Besonderen der Wirtschaft zu gewinnen. Die Verantwortung für die zum Teil bedeutenden Betriebe verbot jedes Handeln ins Blaue hinein.

Es war ein Glück, daß im Kreise einige der die Dreigliederungsbewegung ehemals tragenden Persönlichkeiten zugegen waren und sind, die aus lebendigem Erleben mit Rudolf Steiner sprechen können.

Der Kreis, dessen Tagungsrhythmus sich im Laufe der Zeit auf drei Jahrestagungen – Frühling, Hochsommer, Voradventszeit – einspielte, begann seine Arbeit mit der Frage, die von Rudolf Steiner in einem Vortrage vom 30. November 1921 als die „Kardinalfrage der Wirtschaft“ bezeichnet wurde:

„Wie muß ... Rechtsleben, wie muß Geisteleben in das reine Wirtschaftsleben selbständig hineinwirken, damit im Wirtschaftsleben durch die Ausgestaltung der Assoziationen zwar nicht ein wirtschaftliches Paradies, aber ein möglichst sozialer Organismus geschaffen werde?“

Dreigliederung wurde damit nicht als ein Programm, sondern als eine den Wirtschafter besonders nahe angehende Tatsache angepackt, bei deren Bearbeitung sich die Betriebsleiter, gleichsam in einer steigenden Spirale, mit allen Erscheinungsformen des Geistigen, Rechtlichen und Wirtschaftlichen in den Betrieben beschäftigten.

Betriebsgestaltung ist also von Anfang an das Hauptthema gewesen und ist es auch geblieben; nur muß man diesen Begriff in seiner ganzen Weite nehmen, in den tausend Wechselwirkungen mit dem Geistesleben, dem Rechtsleben. – Der Kreis besteht aus Wirtschaftern, die in den Betrieben wirken, und die wissen, daß die Vorgänge in den Betrieben entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung der Zukunft üben; aber auch, daß die Quellen der Wirtschaft im Geistesleben liegen, von dem sie befruchtet wird, und ihre Begrenzung in einem Rechtsleben, das auf eigenem Boden steht und nicht von der Wirtschaft abhängig sein darf.

Politik blieb ausgeschlossen; es erfolgte niemals eine Stellungnahme zu den Parteien oder politischen Richtungen aller Art. Dabei ist bemerkenswert der Versuch, unpolitisch zu arbeiten auf einem Gebiet, das heute größtenteils mit politischen Mitteln gestaltet wird. Dadurch erhielten aber die Probleme erst ihren geistigen Rang.

Mit der Ausarbeitung wirtschaftspolitischer Programme hat man sich im Heidenheimer Kreis also nie beschäftigt. Das wäre Zeitverschwendung gewesen und hätte zu nichts geführt.

Noch weniger waren es sogenannte „wirtschaftliche Interessen“, die die Betriebsleiter in

[Mitteilungen, Nr. 30, Weihnachten 1954, Seite 194]

Heidenheim zusammenführten. Es ist gerade die Stärke des Kreises, daß Leiter von Betrieben der verschiedensten Branchen mit den verschiedensten wirtschaftlichen Interessen in ihm vertreten sind, Leiter sehr großer und auch kleiner Betriebe. Der in der Wirtschaft wogende Kampf tritt dadurch in seiner ganzen Breite in der Arbeit des Kreises in Erscheinung.

Hin und wieder wurden Gäste geladen, zum Beispiel aus den Mitarbeiterschaften der Betriebe, oder auch, wenn das Tagungsthema dazu aufforderte, aus dem Kreise befreundeter Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler. Doch war der Kreis als solcher von vornherein auf Betriebsleiter beschränkt, um das Hauptthema der Betriebsführung und Betriebsgestaltung immer im Vordergrund zu behalten.

Es versteht sich bei Betriebspraktikern von selbst, daß das im wirtschaftlichen und sozialen Umkreis vor sich Gehende genau beobachtet wird. Ist die Zeit doch voll von Versuchen allerverschiedenster Art, mit denen jeder Unternehmer in mannigfache Berührung kommt, und für die Verständnis aufzubringen eine selbstverständliche Pflicht ist. Der ernst zu nehmenden Lösungsversuche – auch dies ist anders als nach dem ersten Weltkrieg – gibt es beträchtlich mehr in der Welt als damals.

Wenn aber das Wirken anthroposophischer Betriebsleiter unter den Leitstern des „Sozialen Hauptgesetzes“ Rudolf Steiners gestellt ist, so gewinnen Tagesfragen wie „Mitbestimmung“, „Miteigentum der Arbeitnehmer“, „soziale Marktwirtschaft“, „Teamwork“ usw. eben doch ein anderes Gesicht. Solche Fragen im Lichte der Anthroposophie Rudolf Steiners zu betrachten, das gibt Bewußtsein, weit über „Tagespolitik“ hinaus.

Der Aufbau der Tagungen, die ja in Heidenheim im Schatten der Werkhallen eines großen Industriebetriebs stattfinden, ergab sich ganz von selbst. Die Tagungen beginnen Freitag nachmittag mit einer Überschau über die Weltlage und die Erfahrungen der Mitarbeiter in ihren Betrieben. Am Abend folgt ein Vortrag, welcher fast stets mit dem „Hauptthema“ in Zusammenhang steht. Der Samstag ist ganz dem Rundgespräch über das Tagungsthema gewidmet, das dann am Sonntag in Betrachtungen mündet, die zu gestalten suchen, was Rudolf Steiner einmal mit dem folgenden Satz aussprach:

„Es ist heute auch für die kleinste wirtschaftliche Einrichtung nötig, daß derjenige, der sich leitend an ihr beteiligt, sich Gedanken darüber machen könne, wie sich diese Einrichtung in den Gesamtprozeß der Menschheitsentwicklung hineinstellt.“ Wie fruchtbar ist es für einen Betriebsleiter, wenn er nicht nur z. B. über Kartelle oder Assoziationen sich mit anderen bespricht, sondern etwa auch über die Übung der Positivität. Es lassen sich da die erstaunlichsten Erfahrungen machen, denn es kommt ja hier durchaus darauf an, selbst aktiv zu werden, und damit etwas in die Alltagsarbeit hineinzutragen, was man als eine gesteigerte Fähigkeit zum praktischen Handeln bezeichnen könnte. Nicht ein Programm verwirklichen, sondern durch anthroposophische Selbsterziehung fähig werden, im großen Zusammenhänge des Wirtschaftslebens angemessene Handlungen zu vollbringen, das könnte als ein Ziel bezeichnet werden, das den Mitarbeitern des Heidenheimer Arbeitskreises vor Augen steht.

Tagungsthemen, die in ernster und strenger Weise durchgearbeitet wurden, waren u. a.:

Neue Antriebe zur Arbeit – Betriebsgestaltung – Was ist Arbeit? – Wert und Preis Besprechungswesen im Betrieb – Das Geld – Kapital und Eigentum – Assoziationen – Das Recht in der Wirtschaft – Lohn und Ertrag – Das Soziale Hauptgesetz Rudolf Steiners – West und Ost – Der Mensch und die Stoffeswelt – Die Welt des Rhythmus und die Welt der Arbeit.

Neunzehn der einundzwanzig bis jetzt abgehaltenen Tagungen waren in Heidenheim, eine in Stuttgart. Die letzte Tagung, die 21., wurde im Ruhrgebiet abgehalten, in Bochum, angesichts der Hochöfen eines der größten deutschen Stahlwerke, dessen kaufmännischer Leiter den Kreis an diese Stätte der Arbeit eingeladen hatte.

Geistige Erfahrung auf dem wirtschaftlichen Gebiet ergibt sich aus den Gesprächen in Heidenheim. Was daraus in den Betrieben Gestalt gewinnen darf, bleibt dem Einzelnen überlassen. – Die Zeit ist gewohnt, in „Bewegungen“ zu denken, das heißt, immer eine Vielzahl von Zusammenwirkenden vorauszusetzen, wenn eine „Wirkung“ entstehen soll; und ohne solche Gruppierungen, Massierungen soll eine Arbeit nutzlos sein. Dieser Ansicht ist für den sozialen Organismus zu widersprechen. So klar es ist, daß sich seine Bildung in einer Vielzahl von Menschenbeziehungen abspielt, so ist doch seine Bildegesetzlichkeit durchaus auf die Leistung des Einzelnen abgestimmt. Rudolf Steiner hat einmal den Unterschied zwischen den Bildegesetzen des biologischen Organismus und denen des sozialen Organismus so dargestellt, daß im Ersteren ein wie aus der ätherischen

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Außenwelt wirkender Gedanke („Plan“) sich verwirklicht, der den einzelnen Zellengruppen ihre organische Tätigkeit anweist, wodurch sich die Form des ganzen Organismus ergibt; daß aber im sozialen Organismus diese Quelle das menschliche Individuum ist, und daß die Form des sozialen Organismus sich erst aus dem Zusammenwirken der Individuen ergibt.

Dem entsprechend wird das, was der einzelne Mitarbeiter aus der Arbeit des Kreises mitnimmt, in seiner Verwirklichung die verschiedensten Formen annehmen. Der Schwerpunkt liegt beim einen da, beim andern dort. Wohl mancher Mitarbeiter darf aber in dem Echo, das ihm aus seinem Betriebe kommt, spüren, wie sehr das Zeitgeschehen die sozialen Gestaltungen in einer von Rudolf Steiner vorausgesehenen Richtung vorwärts drängt.

Von anthroposophischen Wirtschaftern verlangt das Lebenskarma, daß in ihrer Arbeit Strenge geübt wird in einem doppelten Sinne: Sie haben den Realitäten der Wirtschaft voll zu genügen, das heißt, sie müssen versuchen, gut zu wirtschaften; und sie dürfen niemals den Leitstern des sozialen Hauptgesetzes aus den Augen verlieren. Es gibt wohl Grenzen des Handelns, aber keine Ablenkung des Willens!

So stellt sich jedes Problem als ein umfassendes dar: Faßt man z. B. die Arbeit als das auf, was sie ist: eine geistige Tatsache, so ergeben sich sofort viele Zusammenhänge, die ins Auge gefaßt werden müssen, wie etwa das Geistesleben im Betrieb und seine Organe, die Rechtsfrage, Rhythmusfragen, Gesundheitsfragen, Freizeitfragen usw. Gilt es doch, nach den Quellen zu forschen, die im Geistesleben liegen und die, wenn die Türe zum Wirtschaftsleben geöffnet wird, dieses erst richtig befruchten können. Daß eine solche Stellung zum Geistesleben nicht etwa eine Überbewertung des „Kopfes“ ist, wird jedem Anthroposophen klar sein.

„Was fruchtbar ist, allein ist wahr.“ Wo sind die Ergebnisse in den Betrieben? Sie wachsen langsam heran. In vielen Betrieben sind geistige Aktivitäten entstanden, die ohne die Arbeit des Kreises wohl nicht in dieser Form denkbar gewesen wären. In der Gliederung der Betriebsarbeit, in der Erziehung von Lehrlingen und Mitarbeitern, in der Stellungnahme zum Eigentumsproblem, in der Gemeinsamkeit des Wollens im Betriebe u. v. a., überall sind Ansätze vorhanden, die zwar nicht zu registrieren sind, da sie lebendig sich entwickeln sollen, die aber zu der Hoffnung berechtigen, daß der Beitrag anthroposophischer Wirtschafter im Gegenwartsleben nicht ohne Wirkung bleiben wird.

Der anthroposophische Wirtschafter hat eine doppelte Verantwortung gegenüber der Zukunft. Er steht in einer Welt von Zwangsläufigkeiten technischer und sozialer Natur. Die Technik nähert sich den vollautomatischen Betrieben und den Kunststoffen mit beliebigen, nach dem Zweck gewählten Eigenschaften; auf dem sozialen Gebiet entstehen riesenhafte Gebilde, in deren Bannkreis der einzelne Mensch kaum mehr zum persönlichen Handeln kommen kann. Die Frage ist gestellt: Kann der Mensch in der Wirtschaft – auf allen Stufen seiner Tätigkeit – den Punkt erreichen, wo Handeln aus Freiheit wieder möglich ist, und kann er jenes Element der Brüderlichkeit der Wirtschaft einverleiben, das – vielfach unerkannt – ihre geistige Grundlage ist?

Er trägt aber auch eine Verantwortung gegenüber der Anthroposophie Rudolf Steiners, der er helfen muß, den Erdenboden für ihr geistiges Wirken zu finden. Beide Fragen bewegen die Mitglieder des Heidenheimer Kreises.

So sind die Bemühungen des Heidenheimer Arbeitskreises ein besonderes Feld anthroposophischer Arbeit an einer wichtigen Stelle des modernen Lebens. Es ist kein Instrument, um Macht und Einfluß zu gewinnen, keine Interessengemeinschaft, keine Finanzierungsgesellschaft, kein Ort für Organisation und „Planung“. Erkenntnis und Bewußtsein wird dort angestrebt; daraus entsteht Handlungsfähigkeit. Die Arbeit der Mitarbeiter des Kreises ist von der Art, wie sie ein Bergsteiger an einer schweren Wand vollbringen muß: Tritt um Tritt und Griff um Griff muß in Geduld und in sicherem Wollen gefunden werden. Das soll in aller Bescheidenheit und im Bewußtsein der Unvollkommenheit und Anfänglichkeit unseres Bemühens gesagt sein. –

Zum Schluß bleibt dem Berichterstatter übrig, für die Mitarbeiter des Heidenheimer Arbeitskreises Herrn und Frau Dr. Voith herzlichst zu danken, die seinem Wirken den einzigartigen umhegten Platz im Heidenheimer Eisenhof, in welchem Rudolf Steiner einmal sprach, geschaffen haben.

[Mitteilungen, Nr. 30, Weihnachten 1954, Seite 196]