Bodenfrage und Dreigliederungspraxis

25.10.1920

Quelle
Zeitschrift „Dreigliederung des sozialen Organismus“
2. Jahrgang, Oktober 1920, 44. Woche, Nr. 18
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung

Ueber die Bodenfrage, welche für die Neugestaltung des sozialen Lebens von so einschneidender Bedeutung ist, hielt Dr. Rudolf Steiner gelegentlich eines Stuttgarter Studienabends einen Vortrag, welcher die Dreigliederungspraxis gerade auf diesem Gebiet als einen in die realen Lebensverhältnisse ein, greifenden und umgestaltenden Faktor erwies. Die nachfolgenden Ausführungen bilden eine Zusammenfassung der Gesichtspunkte, die in diesem Vortrage durch Dr. Steiner als die Wege zu einer Lösung dieser Frage hingestellt worden sind.

Die Dreigliederungspraxis unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was heute auf allen Gebieten versucht und auf dem Wege der Gesetzgebung verwirklicht werden soll, daß sie nicht sich selbst und andern etwas vormachen will, das bloß auf dem Papier steht, was dann durch alle möglichen Mittel und Wege umgangen werden kann, sondern sie will und kann auch verwirklichen, was beabsichtigt ist. Die Rationierung der Lebensmittel z. B. hat keineswegs, wie jedermann weiß, zu dem geführt, was beabsichtigt war, sie führte zu einer Hamsterei kleinen und großen Stiles, wodurch das im wirklichen Leben aufgehoben wurde, was auf dem Papier stand. Wer das Leben kennt, wird darüber nicht im Zweifel sein, daß es eine Hamsterei der Bodenwertsteigerungen wird geben können, auch wenn das Leninsche oder das Staatswesen Damaschkes eingeführt würde, weil auch hier durch allerlei Hintertüren wieder unwirksam gemacht würde, was als Gesetz sich Geltung verschaffen will.

Der Dreigliederungsimpuls kann sich nicht vor der Grunderkenntnis verschließen, daß die soziale Wirklichkeit von Menschen gemacht wird. Auf einen sozialen Organismus kommt es an, der vermöge seiner Gestaltung es einfach nicht zuläßt, daß Mittel gefunden werden, etwas, das im Sinne dieses Organismus liegt, in ungerechter und unmoralischer Weise zu umgehen.

Die Verhältnisse liegen heute so, daß die Menschen im Verlaufe der Menschheitsentwickelung einfach aus der Art wie heute gedacht wird, gewisse Einrichtungen nicht mehr ertragen und durch den ganzen Seelenzustand, wie er geworden ist, andere Einrichtungen fordern. Die Menschen fühlen, daß sie sich an etwas Geistigem halten müssen, aber das Geistige muß auch da sein, um ins soziale Leben eingreifen zu können. Niemand wird behaupten wollen, daß die bis in unsere Tage hineinreichende Struktur unseres sozialen Organismus vom Geist gemacht worden sei. Wenn jemand. z. B. von seinem Vater ein großes Landgut erbt, so liegt da etwas anderes vor, das ist ein natürlicher, ein Blutszusammenhang. Dadurch wird er in eine bestimmte Position hineingebracht und davon hängt ab, wie er im geistigen Leben steht. Die neuere Menschheit fühlt aber, daß an Stelle desjenigen, was durch das Blut gekommen ist, in der Zukunft der Geist in den sozialen Einrichtungen mitsprechen muß. Der Mensch will aus seinem tiefsten Innern heraus, daß das Geistesleben nicht mehr ein Anhängsel der alten Blutseroberungen und dessen, was als Staat daraus hervorgegangen ist, sei, sondern daß das Geistesleben auf sich selbst gestellt werde, daß sich voll und ganz auswirke, was in seinen eigenen Impulsen liegt. Das Bestimmende für ein Geistesleben, das auf sich selbst gestellt ist, werden die Erkenntnisse des Tatsächlichen sein. (Daß dieses in der gegenwärtigen Verfassung und Organisierung des Geisteslebens nicht der Fall ist, beweisen deutlich genug die Tatsachen.) Erkenntnisse, die aber Tatkraft-Erkenntnisse sind, fordert das geistige Glied des sozialen Organismus. Und wie mit jeder neuen Generation, mit jedem neuen Menschen das Geistige aus unbestimmten Tiefen in den sozialen Organismus neue Kräfte einströmen läßt durch die individuellen Anlagen, die jeder neue Mensch mit sich bringt, soll dieses Glied des sozialen Organismus aus der Freiheit heraus sich gestalten können.

Im zweiten Glied des sozialen Organismus, im staatlich-rechtlichen Leben, kommt es auf die Beziehungen der mündig gewordenen Menschen zu einander an. Da steht der Mensch in einem Lebensgebiet drinnen, wo man es im Gegensatz zum geistigen Leben, das freiheitlich individuell verlaufen muß, damit es sich ungehemmt entfalten kann, mit etwas zu tun hat, das durch Gesetze geregelt werden muß. Die Gesetze innerhalb des staatlich-rechtlichen, Lebens haben aber die Eigenschaft, daß gewartet werden muß, bis jemand nötig hat, im Sinne des Gesetzes zu handeln. Oder man muß warten mit der Anwendung des Gesetzes, bis einer das Gesetz übertritt. Kurz, im Bereich des Gesetzes ist immer die Eventualität vorhanden. Das zweite Glied, das rechtlich-politische, im dreigegliederten sozialen Organismus arbeitet, was jeder, der sich auf die Tatsachen einlassen will, sehen kann, auf die Eventualität hin.

Im dritten, im Wirtschafts-Gliede, kommt man mit dem Gesetz allein nicht aus. Man kann da nicht auf Eventualitäten hin arbeiten. Da tritt neben die Erkenntnis und das Gesetz noch ein Drittes, der bestimmte Vertrag, welcher geschlossen wird zwischen denen, die wirtschaften. Wie im Geistesleben die Erenntnis herrschen muß, im Rechts- und Staatsleben das Gesetz, so im Wirtschaftsleben der Vertrag, welcher nicht auf Eventualität, sondern eben auf Verbindlichkeit hin vorhanden sein muß. (Vergl. „Kernpunkte der sozialen Frage“).

Damit sind drei anschauliche Gesichtspunkte für die Gestaltung des sozialen Lebens gegeben, wie es dem Wesen der Dreigliederung entspricht. Erkenntnisse auf dem Boden des geistigen Gliedes. Gesetz für alles, was dem Staate angehört. Verbindlicher Vertrag im Wirtschaftsleben.

Wenn die Bodenreformer sagen, daß derjenige, dessen Boden sich an Wert gesteigert habe, ohne sein persönliches Verdienst einen bestimmten Teil als Steuer dem Staat abliefern müsse, so rechnen sie mit der alten Form des Staates und denken nicht daran, daß auch der Staat, nicht bloß die Bodenrechte, reformiert werden muß. Der Staat bleibt ja derselbe, auch wenn in seinen Säcke fließt, was er den Bodenspekulanten abnimmt, was er dann auf Wegen, die immerhin möglich sind, diesen oder andern wieder zufließen läßt und dadurch den Verdienst ohne Arbeit steigert.

Grund und Boden ist offensichtlich ein Produktionsmittel. Mit Grund und Boden wird produziert. Aber er ist ein Produktionsmittel anderer Art als die anderen Produktionsmittel. Diese müssen zuerst durch menschliche Arbeit zubereitet werden. Grund und Boden ist wenigstens in der Hauptsache da, ohne vorherige Zubereitung. Produktionsmittel gehen zunächst den Weg der Ware, allein sie dürfen im national-ökonomischen Zirkulationsprozeß nur so lange Ware sein, bis sie fertig sind, werden sie dem volkswirtschaftlichen Leben übergeben, dann sind sie nicht mehr Ware, dann unterliegen sie, indem die mündig gewordenen Menschen, die ein bestimmtes Maß von Arbeit darauf verwendet haben und durch diese Arbeit in Beziehungen zu einander treten, dem politischen Staatsleben, der Demokratie. Insofern aber dafür gesorgt werden muß, daß die Produktionsmittel an diejenigen gelangen, welche die Anlagen und Fähigkeiten haben, sie zu gebrauchen, unterliegen sie dem geistigen Leben, also der Erkenntnis, denn nicht aus alten Erbschaftsverhältnissen heraus, sondern aus Einrichtungen, die aus dem geistigen Leben kommen, soll, wie es das moderne Bewußtsein allein ertragen kann, über die Produktionsmittel verfügt werden können.

Im Sinne der Dreigliederungspraxis sind also die Produktionsmittel nur solange Ware, als sie produziert werden. Dann hören sie auf, Ware zu sein und fügen sich durch Gesetz und Erkenntnis in die soziale Struktur ein. Da Grund und Boden nicht produziert wird, ist er also von Anfang an keine Ware und unterliegt somit niemals dem Prinzip der Ware, über die man Verträge abschließt. Grund und Boden muß allmählich in die soziale Struktur übergeleitet werden, daß zunächst die Verteilung von Grund und Boden für die menschliche Arbeit eine demokratische Angelegenheit des politischen Staates wird und der Uebergang von einem zum andern eine Angelegenheit des geistigen Gliedes des sozialen Organismus. Der Boden ist von Anfang an etwas, das man nicht kaufen und verkaufen kann. Nur derjenige kann darin etwas utopistisches erblicken, der sich nicht klar macht, daß es sich hier tatsächlich nur um eine Umänderung desjenigen handelt, was auch heute schon vorliegt. Wenn man heute Grund und Boden mit Geld bezahlt, so ist das keine Wahrheit, sondern eine soziale Lüge. Geld, das als Gegenwert angewendet wird für Grund und Boden, ist im volkswirtschaftlichen Prozeß etwas anderes, als Geld, das angewendet wird als Gegenwert für eine Ware. Das ist etwas, was im gegenwärtigen sozialen Chaos außerordentlich schwer durchschaut wird.

Wenn jemand Geld einnimmt z. B. für Kirschen und anderes Geld einnimmt für ein Rittergut, und man wirft nun dieses Geld durcheinander, so kann man nicht mehr unterscheiden, welches Geld von dem einen oder von dem andern stammt und man könnte glauben, Geld ist Geld, ob es von dem einen oder anderen stamme. Das aber ist gerade eine große Illusion. Im volkswirtschaftlichen Prozeß wirkt das Geld vom Rittergut ganz anders als dasjenige von den Kirschen und auf diese Nachwirkungen kommt es in der Wirklichkeit an. Darüber wird aber gerade ein Schleier gebreitet. Das Geld bildet eine lebendige Abstraktion. Das Geld wirft alles ohne Differenzierung durcheinander. Volkswirtschaftlich betrachtet ist es nicht gleichgültig, ob jemand von Grund und Boden lebt, oder von irgend einem Warenerzeugnis ; es ist nicht gleichgültig, wie eine bestimmte Geldsumme erworben wird. Solange jemand eine Summe Geld wirklich nur erarbeitet, fällt das nicht so sehr in Betracht. Das ist aber nicht mehr der Fall, wenn dieses Geld, das man erhält, zusammenhängt mit dem Wohl und Wehe, mit dem Schicksal, ja mit der ganzen Kulturkonfiguration, wie dies bei Grund und Boden der Fall ist. Hier gerade ist es notwendig, daß derjenige, der Grund und Boden bearbeitet, und was aus ihm hervorgeht, das ja nicht Geld ist, sondern die Frucht, die darauf gedeiht, bei der Ueberführung in den volkswirtschaftlichen Prozeß dabei ist.

Es besteht ein gewaltiger Unterschied, ob die Erzeugnisse eines Gutes, mag es groß oder klein sein, von demjenigen, der mit seinen Fähigkeiten das Gut bearbeitet und es als seine eigene Angelegenheit betrachtet, in den volkswirtschaftlichen Prozeß überführt werden oder nicht. Ist ein Gut darauf gestellt, im volkswirtschaftlichen Prozeß das Möglichste an Geldertrag herauszuschinden, dann ist der als Selbstwirtschafter Tätige genötigt, sich demjenigen anzupassen, der das Gut verpachtet und seine Rente daraus bezieht. Dann wird, was aus Grund und Boden, also aus dem Konkreten, an Erzeugnissen hervorgeht, abhängig von ganz abstrakten Geldverhältnissen. Bei der Selbstbewirtschaftung wird die Art und Weise, wie die einzelnen Produkte sich gegeneinander tragen, wie das eine das andere unterstützen muß, aus ganz anderen Motiven heraus taxiert, als wenn die Dinge nur auf den Geldmarkt gebracht werden. Grund und Boden, die keine Ware sein können, werden zur Ware gemacht und damit wird eine reale Lüge ins Leben eingeführt. Es ist nicht bloß das, was gesagt wird, eine Lüge, sondern auch das, was getan wird. Betrachtet man Grund und Boden als eine Ware, die man kaufen und verkaufen kann, dann lügt man durch seine Taten.

Im dreigliedrigen sozialen Organismus kann man Grund und Boden nicht kaufen. Grund und Boden, insofern er zu tun hat mit menschlicher Arbeitskraft, ist eine demokratische Angelegenheit. Die Bestimmung, wie Grund und Boden von einem Menschen auf den anderen übergehen, ist eine geistige Angelegenheit, die nichts zu tun hat mit Vererbung und Blutsverwandtschaft.

Durch bloßes Nachdenken kann die Bodenfrage nicht gelöst werden, so wenig man durch bloßes Nachdenken Zucker zerschlagen oder Holz hacken kann. Grund und Boden steht in menschlichen Verhältnissen drinnen. Wenn man dasjenige, was Menschen aus ihrem besten Können heraus im sozialen Organismus tun, in den Impuls der Dreigliederung einlaufen läßt, dann lösen die Tatsachen, die dadurch entstehen, die Bodenfrage so, wie das Messer den Zucker zerschlägt, oder wie die Axt das Holz zerhackt.

Die Dreigliederung will nicht durch Gedanken diejenigen Fragen lösen, welche die brennenden sind, sondern durch Tatsachen, in die sich die Menschen versetzen, wenn sie sich Gedanken widmen, die von ihnen selber abhängen und nicht aus Verhältnissen herrühren, die das heutige Bewußtsein als etwas Ueberwundenes und Unerträgliches empfindet.