Was arbeiten die Anderen? Cecosela – eine Assoziation in Venezuela

01.08.2024

Quelle
Heft „Forschungsstudium Soziale Dreigliederung“
rausgucken, August 2024, S. 4–6
Bibliographische Notiz

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Autorin
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„Wenn das Vertrauen untereinander stimmt, dann lösen sich alle wirtschaftlichen Probleme von allein“, [1] verkündet Gustavo Salas. Er arbeitet im organisch gewachsenen Netzwerk Cecosesola [2] in Venezuela, einem Land, in dem es wirtschaftliche Probleme zur Genüge gibt. Cecosesola ist ein Verbund von verschiedenen Kooperativen. Einige stellen Lebensmittel her und andere organisieren deren Transport und Verkauf in großen Markthallen und versorgen dadurch 100.000 Familien mit dem Nötigsten. Daneben betreibt Cecosesola mittlerweile mehrere Krankenstationen, ein großes Krankenhaus und ein Beerdigungsinstitut. Da die Menschen in diesem assoziativen Gebilde mit keinerlei Hierarchien arbeiten und kaum feste Strukturen haben, ist es gar nicht so leicht zu sagen, was und wer alles dazugehört. Für sie selbst sind noch verschiedene Versicherungen und ein Kreditvergabetopf Teil des Netzwerks. In einer faszinierenden Weise treffen sie in zahlreichen Besprechungen und im Arbeitsalltag pragmatisch kollektive Entscheidungen, die sie nicht schriftlich festhalten und stetig den Herausforderungen anpassen. Durch ihre minimale Bürokratie können sie so die Grundnahrungsmittel deutlich günstiger als in Venezuela üblich anbieten – was die arme Bevölkerung dankend zu schätzen weiß.

Die effizientere Arbeitsweise rührt daher, dass die Menschen durch die vielen Besprechungen alle einen Überblick über die gesamten wirtschaftlichen Tätigkeiten haben. Sie wissen, wann die anderen Bauern was pflanzen und sie wissen auch, wie die Situation auf den Märkten ist. Und letzteres wissen sie nicht bloß durch die Versammlungen. Es hat sich als äußerst praktisch erwiesen, dass sie teilweise in ihren Aufgaben rotieren. Sie wissen dadurch wirklich, was die anderen arbeiten: wie die Buchhaltung funktioniert, welche Herausforderungen die Reinigung hat und was es für ein Mittagessen im Krankenhaus braucht, und können dadurch praktischer zusammenarbeiten. Der Wechsel der Tätigkeiten unterliegt dabei keinem festen Plan und geschieht an den Notwendigkeiten orientiert freiwillig. „Alle sollen so viel wie möglich lernen können. Das hilft außerdem, den Blick auf 's Ganze zu behalten statt »das eigene kleine Königreich« abzustecken.“ [3]

»Es müsse als eine Aufgabe der Gegenwart und der nächsten Zukunft erkannt werden, daß jede Werkleitung bemüht sein sollte, allen Mitarbeitern, wo immer der einzelne auch stehe, immerwährend ein Bild des Ganzen zu übermitteln. Dem spezialisierten Arbeitssektor, der ins mechanische Joch gezwängten Hand, dem in der Routine von Einrichtungen sich abstumpfenden Gedanken, gegenüberstellen: das universeller werdende Bewußtsein, den aktiver werdenden Gedanken.« [4]

So äußerte sich Rudolf Steiner schon vor 100 Jahren Herbert Hahn gegenüber. Wie auch die Mitarbeitenden von Cecosesola betonen, wird das Bewusstsein durch den Überblick größer; was einerseits sehr fruchtbar für das Wirtschaftsleben und andererseits sehr hilfreich für die eigene geistige Weiterentwicklung ist. Hier berühren sich eine assoziative Wirtschaft und ein gemeinsames Geistesleben. Steiner schlug deshalb dem Fabrikleiter Emil Molt vor, dass seine Arbeiter in den verschiedenen Abteilungen der Fabrik hospitieren sollten, um den Blick fürs Ganze ausbilden zu können. [5]

[Zeitschrift, Jahrgang 1, Nummer 1, Monat Jahr, Seite 4]

Viele Arbeitsfelder scheinen mittlerweile zu anspruchsvoll für einen häufigen Wechsel. Dass wir heute in einer hoch spezialisierten Welt leben, ist jedoch eine Tatsache, die weder Cecosesola noch Steiner rückgängig machen möchten. Aber gerade in einer komplexen arbeitsteiligen Welt hilft es ungemein, zu wissen, was die anderen arbeiten, um sich die Arbeit auch ernsthaft zu teilen. Und für diesen Blick auf die gesamte Arbeitsteilung braucht es ein gemeinsames Organ, das den Überblick über den ganzen Prozess der verschiedenen Produktionsschritte, der Transporte in einer globalisierten Welt, des Handels und auch des Konsums behält. Diesen Überblick, den vermag sich kein einzelner zu erarbeiten. Er entsteht aber dort, wo die unterschiedlichsten Menschen ihre praktischen Erfahrungen und gegenseitigen Interessen und Wünsche zusammentragen. Dieses Organ, das sich den Überblick verschafft, nannte Steiner eine Assoziation.

Sich assoziieren = Die gesamte Arbeitsteilung überblicken

Eine Assoziation kann sich vertraglich oder rein auf Vertrauensbasis zusammenfinden. Wirtschaftlich wird sie am effektivsten sein, wenn in ihr möglichst gegenteilige und gegenseitige Interessen zusammenkommen, die sich über die gesamte Arbeitsteilung – bis hin zu den Konsumenten – zusammentun. In solchen Assoziationen werden die Menschen dann auch über die Grenzen der einzelnen Unternehmen hinweg wissen, was die anderen arbeiten und welche Arbeiten gerade von zu vielen oder zu wenigen Menschen verrichtet werden. Steiner bezeichnete es als eine der Kernaufgaben der Assoziation, herauszufinden, „wieviel Arbeiter in einer bestimmten Branche arbeiten dürften“, [6] damit die Preise angemessen sind. [7] Und dort lässt es sich auch praktisch absprechen, wie man am einfachsten seinen Arbeitsplatz wechseln kann, ohne dass Menschen zwischenzeitlich arbeitslos werden.

Bei Victorinox, dem Hersteller der berühmten Schweizer Taschenmesser, wurde eine solche assoziative Zusammenarbeit über das eigene Unternehmen hinaus anfänglich begonnen. Und zwar wollte man keine Menschen entlassen, nachdem 2001 der Verkauf von Messern im Duty-Free Bereich der Flughäfen verboten wurde und der Umsatz zusammenbrach. Man „lieh“ daher einige Mitarbeitende einem benachbarten Unternehmen. [8] Dass Mitarbeitende für eine Zeit bei naheliegenden Unternehmen arbeiten und auch umgekehrt vorübergehend bei Victorinox beschäftigt wurden, geschah daraufhin noch ein paar Mal, wie uns eine Mitarbeiterin am Telefon berichtete, die selbst eine dieser Vernetzungen herbeigeführt hat. Für die Mitarbeitenden von Victorinox ist dies durchaus ein Schritt aus ihrer Komfortzone gewesen. Doch sie willigten in das Vorhaben ein, da sie die Notwendigkeit für

[Zeitschrift, Jahrgang 1, Nummer 1, Monat Jahr, Seite 5]

das Ganze sahen und sich sehr verbunden mit Victorinox fühlen. Sie haben das Vertrauen, dass die Entscheidungen dort in ihrem Sinne getroffen werden und ließen sich deshalb darauf ein, bei anderen Unternehmen neue Tätigkeiten kennenzulernen.

Eine Wirtschaftsform, die vor Krisen schützt

Wenn man seine Aufgabenbereiche wechselt, lernt man nicht nur neue Tätigkeiten, sondern auch neue Menschen kennen. In dem großen Organismus Cecosesola kennt man sich durch diese Zusammenarbeit. Das schafft das Vertrauen, das für eine robuste und verlässliche Wirtschaft notwendig ist. Dadurch, dass Cecosesola keine Hierarchie hat, gibt es keine Chefs, die wirtschaftlich oder politisch manipulierbar sind. Das macht diesen wirtschaftlichen Zusammenhalt zusätzlich zu einem sehr stabilen Gewebe. Der vertrauensvolle Umgang der Menschen ist resilient gegen äußere Einflussnahmen und Schocks. Cecosesola legt großen Wert darauf, keine politische Ausrichtung zu haben oder Gelder vom Staat entgegenzunehmen. [9] Es geht nur um den Aufbau von rein wirtschaftlichem Vertrauen in einem extrem unsicheren Land.

Als die unsichere Lage im krisengebeutelten Venezuela 2019 dazu führte, dass fünf Tage lang der Strom ausfiel, verbarrikadierten sich die meisten Geschäfte vor den Kunden, die kaum Bargeld hatten und deren Kreditkarten ohne Strom nicht funktionierten. „Unsere Märkte hingegen blieben geöffnet und mehr als 100 Tonnen Gemüse wurden auf Pump abgegeben, weil wir auf das Vertrauensverhältnis mit der Bevölkerung setzten.“ [10] Die Konsumierenden von Cecosesola fühlen sich so sehr verbunden in ihrem Netzwerk, dass sie selbstverständlich ihre Rechnungen begleichen. Sie wissen, dass die anderen hart für ihre Lebensmittel arbeiten mussten. Ihr Blick für das Ganze lässt auch das Vertrauen umfassend wachsen. Gustavo Salas formuliert es andersherum so: „Wenn Vertrauen da ist, gehört dir die Welt.“ [11]

[Zeitschrift, Jahrgang 1, Nummer 1, Monat Jahr, Seite 6]

Anmerkungen

[1] Hildegard Willer: Marktlogik außer Kraft gesetzt, OXI Blog, (03.08.2023), https://t1p.de/7y117, zuletzt aufgerufen am 26.06.2024.

[2] Central Cooperativa de Servicios Sociales del Estado Lara.

[3] Jorge Rath: in Silke Helfrich: Venezuela: Wir sind ein großes Gespräch, (02.11.2015), https://tlp. de/tq6fz, z. a. am 26.06.2024.

[4] Herbert Hahn, Der Weg der mich führte, 1969, S. 663.

[5] Herbert Hahn, Der Weg der mich führte, 1969, S. 663 f.

[6] Rudolf Steiner: Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung, Vortrag vom 15. August 1920, GA 199, 2. Auflage 1985, S. 92.

[7] Vgl. Rudolf Steiner: Nationalökonomischer Kurs, Vortrag vom 28. Juli 1922, GA 340, 6. Auflage 2002, S. 79 f.

[8] Peter Burkhardt: Victorinox – die Firma die alles anders macht als die anderen, Basler Zeitung Nachrichten, (28.05.2022), https://tlp.de/rlt8z, z. a. am 27.06.2024.

[9] Gustavo Salas: in Silke Helfrich: Venezuela: Wir sind ein großes Gespräch, (02.11.2015), https://t1p.de/tq6fz, z. a. am 26.06.2024.

[10] Cecosesola: Eine andere mögliche Welt, https://tlp.de/5ap5o, S. 24, z. a. am 26.06.2024.

[11] Deutsche Welle: Alle bestimmen mit: Gelebte Utopie im Krisenland Venezuela, https://www.youtube.com/watch?v=LYNtwe6-Gw&t=922s z. a. am 26.06.2024.